Retractions: Bei Corona nichts Neues!

2. November 2022 von Laborjournal

Es ist traurige Tatsache: Viele zurückgezogenen Veröffentlichungen werden nach wie vor zitiert, als ob deren Inhalt weiterhin gültig wäre. Erst vor einem halben Jahr prangerten wir diese Unsitte folgendermaßen an:

Wird ein publiziertes Paper zurückgezogen („retracted“) – egal, ob aus ehrenhaften oder unehrenhaften Gründen –, dann gilt es augenblicklich als aus dem Scientific Record entfernt. Mit all seinen Daten und Schlussfolgerungen. Als hätte es nie existiert, als wären die Experimente nie gemacht worden.

Doch leider sieht die Realität gar nicht mal so selten anders aus. Hartnäckig geistern zurückgezogene Veröffentlichungen als putzmuntere Zombies weiter durch den Wissenschaftsbetrieb – und treiben ihr Unwesen vor allem in den Referenzlisten nachfolgender Veröffentlichungen.

Weitere Auswüchse dieses Elends hatten wir kurz danach in diesem Beitrag thematisiert. Und jetzt kommt frisch der Bericht eines australischen Teams, nach dem die Corona-Pandemie das ganze Übel sogar nochmals extra befeuert: 212 Veröffentlichungen nahmen sich die Autoren vor, die aus dem Gesamtwerk von weit über 200.000 Artikeln zur Corona-Forschung seit Pandemiebeginn zurückgezogen wurden – 2.697 Mal wurden diese insgesamt bis zum Sommer zitiert, im Durchschnitt also sieben Mal pro Publikation.

Insbesondere interessierte das Autorenteam indes der Anteil klinischer Studien an den Retractions. Also nahm es 1.036 Zitierungen entsprechender Veröffentlichungen in eine genauere Analyse – und berichtet folgende Ergebnisse: 

80 Prozent der zitierenden Artikel erschienen erst nach der offiziellen Retraction des zitierten Papers; etwa die Hälfte davon wurde erst zur Publikation eingereicht, nachdem der betreffende Artikel bereits zurückgezogen war. In 86 Prozent der Zitierungen bezogen sich die Autoren auf die Ergebnisse und Schlussfolgerungen der zurückgezogenen Artikel, wie sie darin präsentiert wurden. Lediglich in 143 Fällen zitierten Kollegen die betreffende Studie entweder mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass sie zurückgezogen wurde, oder vor dem Hintergrund, dass sie die Zuverlässigkeit des Artikels anzweifelten.

Zum besseren Einordnen dieser Zahlen gehört sicherlich die Tatsache, dass vor allem die folgenden drei Veröffentlichungen mit manipulierten oder nicht-reproduzierbaren Daten den Großteil dieser Zitierungen auf sich zogen:

Wen jetzt noch weitere Details interessieren, den verweisen wir an dieser Stelle auf den medRxiv-Preprint der Australier mit dem Titel The Citation of Retracted COVID-19 Papers is Common and Rarely Critical“. Diesen schließen sie letztlich mit dem Fazit:

Es besteht Handlungsbedarf, um die Auswirkungen zurückgezogener Studien auf die künftige Forschung und klinische Praxis hinsichtlich COVID-19 und darüber hinaus zu minimieren.

Klar! Wäre ja auch zu schön gewesen, wenn gerade das nochmals hochgeheizte Publikationsgeschehen rund um die Corona-Pandemie das grundsätzliche Problem des unkritischen Zitierens längst zurückgezogener Veröffentlichungen ein wenig eingedampft hätte.

Ralf Neumann

 

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