Bekannter durch Retractions

20. Juli 2022 von Laborjournal

Eine Retraktion Ihres neuesten Artikels wäre das Beste, das Ihnen passieren kann – zumindest hinsichtlich Ihres Bekanntheitsgrades. Diese Aussage macht keinen Sinn, finden Sie? Schließlich kann eine widerrufene Publikation nicht mehr zitiert werden – schon allein weil sie Fehler enthält? Weit gefehlt.

Sicher ist es nicht Ihr Ziel, zu publizieren, um Ihre Publikation zurückgezogen zu sehen. Trotzdem geschah das – entweder infolge von Täuschungsversuchen oder infolge ehrlicher Fehler – laut der Datenbank von Retraction Watch im letzten Jahrzehnt jedes Jahr durchschnittlich 15 Prozent häufiger als noch im Jahr zuvor (siehe Tabelle).

Mit einer Retraktion sollte eine Publikation und ihr gesamter Inhalt sowohl aus dem Speicher der Wissenschaftsgemeinde als auch aus dem öffentlichen Bewusstsein getilgt sein – so als hätte sie nie existiert. Jedoch existiert kein Automatismus, jeden einzelnen Forschungstreibenden – geschweige denn die öffentliche Wahrnehmung – über widerrufene Artikel in Kenntnis zu setzen.

Zudem gibt es manchmal auch keine andere als die zurückgezogene Publikation, die zum Beispiel eine bestimmte Methode beschreibt. Überhaupt muss ja nicht alles an einem zurückgezogenen Artikel falsch sein.

Aus diesen und noch anderen Gründen werden widerrufene Artikel weiterhin zitiert – wenn auch weniger häufig. Also unterbinden Retraktionen demnach wenigstens halbwegs die Verbreitung falscher Information? Nein, nicht einmal das.

Selbst unter den zehn meistgeteilten Publikationen des Jahres 2020 finden sich zwei zurückgezogene Artikel. Und das sind keine Einzelfälle – ganz im Gegenteil. Eine Analyse US-amerikanischer Kommunikationswissenschaftler vom Juni 2022 (PNAS. doi: 10.1073/pnas. 2119086119) zeigt vielmehr, dass später widerrufene Publikationen im Durchschnitt häufiger erwähnt werden als korrekte Artikel. Sie quantifizierten, wie viel Aufmerksamkeit 3.985 widerrufene Artikel vor und nach ihrer Retraktion auf 14 Online-Plattformen erhielten. Im Vergleich zu nicht-zurückgezogenen Artikeln erfreuten sich die fehlerhaften Publikationen tatsächlich höherer Aufmerksamkeit – und zwar nicht nur in sozialen Medien wie Twitter, Facebook und Reddit, sondern vor allem auf kuratierten Plattformen wie Online-Nachrichtendiensten und Internet-Enzyklopädien. 

Lag das vielleicht einfach am medialen Trubel, den ein Wissenschaftsskandal um entlarvte Betrüger zum Beispiel auf Twitter erregt? Und wären zurückgezogene Publikationen ohne diese Extra-Aufmerksamkeit sicher weniger interessant als korrekte Artikel? Keineswegs. Das Bild änderte sich auch nicht, wenn die US-Kommunikationswissenschaftler kritische Tweets herausfilterten. Fehlerhafte Resultate werden häufiger unkritisch geteilt als ihre wissenschaftlich sauberen Pendants.

Warum? Hier können die Autoren nur spekulieren: Niemand redet die eigenen Ergebnisse klein. Sind sie aber publikumswirksamer geschrieben, als die Daten es rechtfertigen, zieht das mehr Aufmerksamkeit an. Doch Aufmerksamkeit bringt auch prüfende Blicke mit sich. Das, was einen Artikel besonders interessant macht, wird zum Grund für die Retraktion. Die Wahrscheinlichkeiten, erwähnt beziehungsweise zurückgezogen zu werden, gehen Hand in Hand.

Tiefgreifende Konsequenzen hat indes die folgende Erkenntnis: Werden Publikationen zurückgezogen, haben sie ihren Aufmerksamkeitshöhepunkt längst hinter sich. In den zwei Monaten vor ihrem Widerruf werden vier Fünftel aller Retraktions-geweihten Artikel kein einziges Mal mehr erwähnt. Retraktionen nützen also nichts, um die Verbreitung problematischer Inhalte in sozialen Medien und Online-Nachrichtendiensten zu unterbinden. Gerade an den Orten, an denen sich die Öffentlichkeit informiert, ist der Schaden bereits entstanden.

Aus Gründen wissenschaftlicher Integrität müssen fehlerhafte Veröffentlichungen natürlich weiterhin zurückgezogen werden. Doch wie ließe sich der von ihnen angerichtete Schaden wenn schon nicht unterbinden, dann doch wenigstens begrenzen? Das fragten sich auch die US-Autoren und deuten am Ende ihrer Aufmerksamkeitsstudie eine Lösungsidee an: Widerrufene Artikel werden häufiger mit kritischen Tweets hinterfragt als ähnliche Vergleichsartikel – und zwar schon ab dem Publikationszeitpunkt, also Monate vor ihrer Retraktion. Könnte somit die Diskussionshäufigkeit in sozialen Medien dazu dienen, unzuverlässige Informationsquellen zeitiger herauszufiltern?

Wenn es der Peer-Review-Prozess und das Retraktions-Prozedere von Wissenschaftsverlagen schon nicht komplett schaffen, unsere Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler zu bewahren, dann ja vielleicht die Gemeinschaft aller Twitter-Nutzer?

Henrik Müller

(Illustr.: Freepik)

 

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