Zombies
in den Referenzen

(13.05.2022) Zurückgezogene Artikel sollten nicht mehr zitiert werden. Manchmal ist das aber gar nicht so einfach.
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Editorial

Eigentlich ist man sich grundsätzlich einig in der Wissenschaft: Wird ein publiziertes Paper zurückgezogen („retracted“) – egal, ob aus ehrenhaften oder unehrenhaften Gründen –, dann gilt es augenblicklich als aus dem Scientific Record entfernt. Mit all seinen Daten und Schlussfolgerungen. Als hätte es nie existiert, als wären die Experimente nie gemacht worden.

Ausgelöscht, aber lebendig

Doch leider sieht die Realität gar nicht mal so selten anders aus. Hartnäckig geistern zurückgezogene Veröffentlichungen als putzmuntere Zombies weiter durch den Wissenschaftsbetrieb – und treiben ihr Unwesen vor allem in den Referenzlisten nachfolgender Veröffentlichungen.

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Meist werden sie noch Jahre später zitiert, manche nach der Retraction sogar noch häufiger als vorher. Beispielsweise listet die Plattform „Retraction Watch“ 232 Zitierungen eines Science-Artikels bis zu seiner Rücknahme im Jahr 2007, danach jedoch sage und schreibe noch 1.192 weitere. Wie gesagt: Ausgelöscht, aber sehr lebendig.

Doch bevor wir jetzt pauschal all diejenigen verurteilen, die zurückgezogene Paper weiterhin zitieren: Manchmal ist es mit solchen Zombie-Papern tatsächlich nicht so einfach.

Immer weiter zitiert

Nehmen wir etwa den speziellen Fall des Zürcher Pflanzenforschers Olivier Voinnet (LJ 03/2015: 14-19). Im Jahr 2003 beschrieb er mit seinen Leuten erstmals ein Plasmid-Konstrukt zur Expressionssteigerung eingeschleuster Fremdgene als „Technical Advance“ in The Plant Journal (33(5): 949-56). Doch nachdem Voinnet und Co. den Artikel im Juni 2015 zunächst einmal korrigiert hatten, mussten sie ihn bald darauf wegen manipulierter Abbildungen endgültig zurückziehen – ein Schicksal übrigens, dass damals noch über ein Dutzend weitere Paper aus Voinnets Labor ereilte.

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Das Plant-Journal-Paper hatten die Kollegen bis zum Zeitpunkt der Retraction jedoch bereits 895-mal zitiert; heute – sieben Jahre später – zählt es gar über 2.000 Zitierungen (laut Google Scholar). Was zunächst einmal klar den Schluss zulässt: Trotz unzulässiger Manipulationen im Paper funktioniert die beschriebene Methode.

Doch wen sollte man nach 2015 dafür zitieren? Schließlich gilt die Erstbeschreibung der Methode von Voinnet et al. mit der Retraction als „gelöscht“. Und woanders steht sie nicht in ausreichendem Detail beschrieben, da alle nachfolgenden Anwender zu Recht auf die Erstbeschreibung verwiesen hatten. 

Soll man die Methode daher jetzt einfach zum allgemeinen Wissen zählen, das man nicht mehr konkret zitieren braucht – und muss wegen der Details trotzdem weiter in das zurückgezogene Paper schielen? Auch auf diese Weise würde es als Zombie weiterleben.

Ein echtes Dilemma! Doch wie die Zahlen zeigen, lösen es die meisten Kollegen, indem sie das zurückgezogene Paper einfach trotzdem weiter zitieren – Retraction hin oder her.

Ralf Neumann

(Illustr.: SeekPNG)

 

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