Talent? Oder Glück gehabt?

19. Juli 2023 von Laborjournal

Ihnen wurde nichts auf dem Silbertablett serviert? Sie haben Blut, Schweiß und Tränen literweise in Ihren Werdegang investiert und die Konkurrenz wohlverdient auf hintere Plätze verwiesen?

 

Jetzt, in diesem Moment, in dem Sie ganz allein vorm Bildschirm sitzen – Hand aufs Herz: Halten Sie sich auf die eine oder andere Weise nicht auch für cleverer, fähiger oder kompetenter als so manch ein Nebenmann und so manch eine Nebenfrau? Also, der Schreiber dieses Newsletters tut es. Schließlich beruht sowohl Ihr als auch mein Erfolg hauptsächlich – wenn nicht ausschließlich – auf unseren persönlichen Eigenschaften: Wir sind talentiert, smart, fleißig, willensstark, leidensfähig und risikobereit! Und hatten – der Wahrheit halber – gelegentlich ab und zu vielleicht auch ein Fünkchen Glück.

Willkommen in der Welt psychologischer Kontexteffekte! Denn objektiv betrachtet sind weder Sie noch ich besonders begabt: Persönliche Eigenschaften wie Talent und Intelligenz sind Gauß-verteilt. Das heißt, zwei Drittel der Bevölkerung liegen innerhalb einer Standardabweichung um den jeweiligen Mittelwert, 95 Prozent innerhalb von zwei Standardabweichungen. 

Im Gegensatz dazu folgt die Verteilung von Reichtum als Maßstab für (wissenschaftlichen) Erfolg und Reputation dem Pareto-Prinzip (Econ Lett., doi.org/bwnbvc): 20 Prozent der Bevölkerung besitzen 80 Prozent des Gesamteinkommens. Noch extremer ist das Reputationsgefälle an Hochschulen: Nur 1,8 Prozent aller deutschen Studierenden erreichen professorale Würde.

Doch wie kann das sein? Wenn die Voraussetzungen für Erfolg normalverteilt sind, wie kann dann Erfolg ungleich verteilt sein? Weil Sie selbst doch einen Funken cleverer, leistungsbereiter oder leidensfähiger sind als Ihr unmittelbares Umfeld? Weil Ihr persönlicher Erfolg unvermeidbar war? Oder weil hinter den Kulissen vielleicht eine weitere Komponente am Werk ist: schierer Zufall?

Klar, ist Erfolg nicht losgelöst von einem gewissen Maß an Talent, Kreativität und Anstrengung. Ohne diese drei Skills überlebt niemand im Wissenschaftsbetrieb des Publish or Perish. So wenig intuitiv es aber auch ist: Wer versucht, die Rolle von Talent versus Glück in der Karriereentwicklung mathematisch zu modellieren, lernt, dass die erfolgreichsten Menschen nicht die talentiertesten sind, sondern diejenigen, die durchschnittlich begabt sind und Glück hatten (Adv. Complex Syst., doi.org/gd82dv). Warum? Weil pures Glück eine signifikante Rolle in individuellen Erfolgsgeschichten spielt. Einige Menschen erleben einfach häufiger glückliche Ereignisse und günstige Schicksalswendungen oder sind zum rechten Zeitpunkt am rechten Ort – Serendipity eben.

Für den Wissenschaftsbetrieb hat das Konsequenzen: Forschungstreibende werden anhand früherer Publikationsleistungen bewertet. Diejenigen, die erfolgreich waren – fälschlicherweise als Maß für Talent erachtet – werden mit weiteren Ressourcen, Chancen und Ehrungen belohnt. Aktuelle Erfolge entstehen somit nicht durch gegenwärtige Leistungen, sondern durch frühere Erfolge – eine positive Rückkopplungsschleife, über die sich nur die Glücklichen freuen. Den Begabten lässt das weniger Chancen.

Soll das Ziel also sein, Talent zu belohnen, müssten Ressourcen regelmäßig und gleichmäßig an alle Forschenden vergeben werden. Soll das Ziel sein, Ideen zu diversifizieren, müssten Forschungsgelder etwa per Losverfahren verteilt werden. Schließlich weiß niemand, wann Serendipity wieder zuschlägt.

Henrik Müller

(Gif: James Wetmore)

 

(Der Text erschien in leicht anderer Form als Editorial unseres letzten Laborjournal-NEWSLETTERS. Wer den NEWSLETTER samt solcher Editorials regelmäßig alle zwei Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen möchte, klicke sich bitte hier entlang!)

 

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Ein Gedanke zu „Talent? Oder Glück gehabt?“

  1. Wolf sagt:

    „Nur 1,8 Prozent aller deutschen Studierenden erreichen professorale Würde.“

    Und das ist auch gut so. Die Habilitation ist nur für eine kleine Nische des Arbeitsmarkts eine relevante Qualifikation.

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