Monogamie? Eher selten!

5. April 2023 von Laborjournal

Ein Harem aus hundert Geschlechtspartnern? Sie beginnen zu hyperventilieren beim Gedanken daran? Weil zu viel Sex, sagen Sie? Zu stressig, finden Sie? Dann fragen Sie mal einen Bullen der Südlichen See-Elefanten (Mirounga leonina). Seine jährliche Überlebenschance sinkt von 80 auf 50 Prozent dank Extrem-Polygamie. Jedoch nicht etwa, weil er jede Nacht eine andere seines Harems beglückt und sein Herz irgendwann schlappmacht. Sondern weil er sich vor dem Sex-Marathon vollfressen muss. In den Augen einer See-Elefanten-Kuh ist er nämlich erst mit drei bis vier Tonnen Lebendgewicht Robben-Adonis genug, um Nebenbuhler am Strand auszustechen. Und das ist der Haken: Das Speckschicht-Anfressen funktioniert nur in besonders nahrungsreichen Gewässern – und somit direkt vor den hungrigen Mäulern von Orcas und Haien. No risk, no fun eben (R Soc Open Sci. doi.org/j33c).

Vielmännerisch und gnadenlos: Die Nacktmull-Königin

Natürlich geht die Harem-Rollenverteilung auch anders herum. Ein Beispiel aus den Halbwüsten Ostafrikas: die Nacktmulle (Heterocephalus glaber). Bei diesen Nagetieren stehen einer einzigen Nacktmull-Königin zwei bis vier Liebhaber auf Abruf zur Verfügung. In unterirdischen Brutkammern zeugt sie mit ihnen alle 2,5 Monate bis zu 27 Jungtiere. Damit enden aber die Liebenswürdigkeiten der Monarchin. Über den Rest ihres bis zu 300-köpfigen und komplett unfruchtbaren Staats herrscht sie gnadenlos. Wer nicht zum Harem gehört, gräbt im Dunkeln Tunnel, sucht in der afrikanischen Hitze nach Futter oder umsorgt ihren Nachwuchs. Ihr Psychoterror stresst die Untertanen sogar so sehr, dass deren Geschlechtsorgane nicht heranreifen. Ohne Letztere können Untergebene aber keine Hormone produzieren, die ein Brutpflegeverhalten auslösen. Deshalb gibt die Nagerkönigin ihren Jüngern den royalen Kot zum Fressen. Dieser enthält das Sexualhormon Östradiol, das die Beta-Mulle dann doch veranlasst, sich um die Blagen ihrer Königlichen Hoheit zu kümmern (Nature. doi.org/j33j). Na, dann doch lieber See-Elefant?

Egal, ob Polygynie (Vielweiberei) oder Polyandrie (Vielmännerei) – beides ist in der Tierwelt nicht selten. Von Fruchtfliegen, Grillen und Heuschrecken über Murmeltiere und Rothirsche bis hin zu Mantelpavianen, Gorillas und Schimpansen – Polygamie ist an der Tagesordnung. Bei Säugetieren sind polygyne “Beziehungen“ mit 90 Prozent sogar das am häufigsten vorkommende Paarungssystem. Monogamie ist eher die Ausnahme (Proc. R. Soc. Lond. B. doi.org/bmh2d8).

Ja, selbst das Sinnbild der Treue – das Seepferdchen-Paar, das sich mit seinen Schwänzen umarmt und ein Leben lang zusammenbleibt – wechselt fröhlich die Sexualpartner und nimmt es nicht mal mit deren Geschlecht so genau. Experimentierfreudig und untreu zahlt sich evolutionstechnisch anscheinend aus: Je nach den Randbedingungen zeigen Männchen wie Weibchen vieler Spezies über alle Tierordnungen hinweg monogames wie polygames Fortpflanzungsverhalten. Die lebenslange, feste Monogamie ist hingegen eine kulturelle Erfindung.

Evolutionsbiologisch überrascht deshalb nicht: Laut der Elitepartner-Studie 2020 waren ein Drittel aller deutschen Menschen schon untreu – Frauen übrigens häufiger als Männer. Ihrer besseren Hälfte, liebe Leserin oder lieber Leser, erklären Sie all das aber vielleicht lieber nicht! Und falls doch, erwähnen Sie bloß nicht Laborjournal in diesem Zusammenhang!

Henrik Müller

(Illustr.: YouTube / Science Magic Show)

 

(Der Text erschien in leicht anderer Form als Editorial unseres letzten Laborjournal-NEWSLETTERS. Wer den NEWSLETTER samt solcher Editorials regelmäßig alle zwei Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen möchte, klicke sich bitte hier entlang!)

 

Formvollendetes Headbanging

27. Juni 2022 von Laborjournal

Der Wolf hat große Augen, damit er Sie besser sehen kann. Er hat große Ohren, damit er Sie besser hören kann, und er hat einen großen Mund, damit er Sie besser fressen kann. Gewisse Merkmale von Tieren wurden bereits von den Gebrüdern Grimm als Anpassung an deren Überlebensbedürfnisse erkannt. Und die Grimms haben ja nur aufgeschrieben, was sich die Menschen seit Jahrhunderten erzählt haben. Eine frühe Ahnung von Evolution. Und die zugrunde liegende Erkenntnis: Form follows function.

Leider ist dieser Zusammenhang in der Evolution nicht immer eindeutig, und möglicherweise folgt die Form manchmal zwei oder noch mehr Funktionen. Und damit wären wir bei der Giraffe angekommen …

„Warum hat die Giraffe so einen langen Hals?“ – „Damit sie besser Blätter von hohen Bäumen fressen kann,“ lautete meist die Antwort. Schon Lamarck und später Charles Darwin vermuteten, der lange Giraffenhals sei eine Anpassung daran, wie hoch die Nahrung hängt. Aber schon früh kamen Zweifel auf: Warum gab es diese Anpassung nur bei Giraffen? Und: Wäre es nicht „billiger“ gewesen, einfach nur die Beine zu verlängern? Auf der anderen Seite: Wenn man bereits einen langen Hals gehabt hätte, bevor Nahrung in größeren Höhen erreichbar war, wäre das natürlich ein Vorteil gegenüber einem kurzhalsigen Dasein gewesen. Aber warum hätten die Giraffen schon vorher einen langen Hals bekommen sollen?    Diesen Beitrag weiterlesen »