Formvollendetes Headbanging

27. Juni 2022 von Laborjournal

Der Wolf hat große Augen, damit er Sie besser sehen kann. Er hat große Ohren, damit er Sie besser hören kann, und er hat einen großen Mund, damit er Sie besser fressen kann. Gewisse Merkmale von Tieren wurden bereits von den Gebrüdern Grimm als Anpassung an deren Überlebensbedürfnisse erkannt. Und die Grimms haben ja nur aufgeschrieben, was sich die Menschen seit Jahrhunderten erzählt haben. Eine frühe Ahnung von Evolution. Und die zugrunde liegende Erkenntnis: Form follows function.

Leider ist dieser Zusammenhang in der Evolution nicht immer eindeutig, und möglicherweise folgt die Form manchmal zwei oder noch mehr Funktionen. Und damit wären wir bei der Giraffe angekommen …

„Warum hat die Giraffe so einen langen Hals?“ – „Damit sie besser Blätter von hohen Bäumen fressen kann,“ lautete meist die Antwort. Schon Lamarck und später Charles Darwin vermuteten, der lange Giraffenhals sei eine Anpassung daran, wie hoch die Nahrung hängt. Aber schon früh kamen Zweifel auf: Warum gab es diese Anpassung nur bei Giraffen? Und: Wäre es nicht „billiger“ gewesen, einfach nur die Beine zu verlängern? Auf der anderen Seite: Wenn man bereits einen langen Hals gehabt hätte, bevor Nahrung in größeren Höhen erreichbar war, wäre das natürlich ein Vorteil gegenüber einem kurzhalsigen Dasein gewesen. Aber warum hätten die Giraffen schon vorher einen langen Hals bekommen sollen?   

Sex! Gemeinsam mit der Ernährung der zweite große Motor der Evolution. Denken Sie nur an männliche Pfauen oder Hirschmännchen, Leuchtkäfer und und und. Die Männchen (oder auch Weibchen) mancher Tierarten trumpfen mit den bemerkenswertesten Körperteilen oder Verhaltensweisen auf, um die Gunst ihres Gegenübers zu gewinnen. Im Kampf um ihre Angebetete hauen sich Giraffenmännchen beispielsweise ihre Köpfe gegenseitig an die Hälse. Und damit das auch so richtig knallt, haben sie knöcherne Höcker auf dem Schädel und der männliche Kopf ist auch noch wesentlich schwerer als der weibliche. Hals und Kopf als Waffe im Kampf um Fortpflanzung.

Discokeryx xiezhi ist eine neue fossil entdeckte giraffenähnliche Art (Wang et al., Science 376), die vor etwa 17 Millionen Jahren in Nordchina gelebt hat. Sie hatte keinen so langen Hals wie die modernen Giraffen, sondern eher die Halslänge eines heutigen Okapis. Aber – und das ist das Besondere – D. xiezhi hatte einen Knochenhelm in der Form einer umgedrehten Obstschüssel auf dem Kopf sowie eine extrem komplizierte Verbindung der Halswirbel untereinander, die in ihrer Komplexität nur mit den heutigen Giraffen vergleichbar ist und die man sich momentan nur mit einer Funktion erklären kann: Kampf. Kampf der Männchen um Weibchen. Obstschüssel gegen Obstschüssel. Wer sich durchsetzen kann, wird sich letztlich am häufigsten fortpflanzen. Und im Kampf durchsetzen wird sich derjenige, der mit dem Hals die beste Kampfkraft entwickelt. Das könnte einen erhöhten Selektionsdruck Richtung Größe, Stärke und Beweglichkeit bedeutet haben.

Möglicherweise kam dann später zur erhöhten Headbanging-Kampfkraft noch eine veränderte Anpassung an höher hängende Nahrung. Knochen- und Isotopenuntersuchungen lassen vermuten, dass sich D. xiezhi in Gegenden herumtrieb, die für andere Pflanzenfresser eher ungemütlich waren – nämlich flaches und trockenes Grasland. Und da eröffneten herumstehende Bäume vielleicht ganz neue Möglichkeiten. Also eher Function follows form?

Kai Herfort

(Der Text erschien als Editorial unseres letzten Laborjournal-NEWSLETTERS. Wer den NEWSLETTER samt solcher Editorials regelmäßig alle zwei Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen möchte, klicke sich bitte hier entlang!)

 

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