Zikaden, die Primzahlen können

10. April 2024 von Laborjournal

Die Fressorgie des Jahrhunderts naht – zumindest wenn man Zikaden mag. In diesem Frühjahr werden sich im Osten der USA innerhalb weniger Wochen schätzungsweise eine Billion Larven aus der Gattung der Magicicada, der Periodischen Zikaden, nach oben graben und aus ihren Erdlöchern schlüpfen. Mit bis zu 400 Individuen pro Quadratmeter. Bilder einer biblischen Wanderheuschreckenplage drängen sich förmlich auf.

Zum Glück sind die Pflanzensaftsauger für Mensch und Tier harmlos. Weder stechen oder beißen sie noch übertragen sie Krankheiten. Das Außergewöhnliche an ihnen: Magicicada treten stets im Rudel auf – und diesmal in einem außerordentlich großen. Reihte man alle bis Ende April erwarteten Zikaden aneinander, so reichte die Insekten-Polonaise mehr als dreißigmal bis zum Mond und wieder zurück.

Ohne jahrelange minutiöse Vorbereitung wäre ein solches Massenauftreten natürlich unmöglich. Über ein Jahrzehnt durchlaufen Magacicada-Larven unterirdisch fünf Larvenstadien. Das letzte von ihnen arbeitet sich dann im Frühjahr des 13. oder 17. Jahres in Richtung Erdoberfläche … und wartet. Worauf? Auf die richtige Temperatur. Erreicht der Boden etwa 18 Grad Celsius, krabbeln sie ins Freie und häuten sich ein letztes Mal zur komplett schwarzen Imago mit ihren charakteristisch roten Komplexaugen. Das Besondere in diesem Jahr: Die 13- und 17-Jahresbruten überlappen. Zuletzt war das 1803 der Fall, das nächste Mal wird es voraussichtlich 2245 sein. Die Fressorgie kann also beginnen.

Allerdings weniger für die Zikaden selbst. Mehr für Spinnen, Raubwanzen, Ameisen und Vögel, die schon mal ihre Mandibeln, Cheliceren oder Schnäbel wetzen können. Für sie wird das Schlaraffenland wahr.

Übrigens auch für den Menschen – falls er denn will. Denn auf der Weltliste essbarer Insekten stehen auch alle Periodischen Zikaden. Gewiefte Insektenköche an der US-Ostküste werden sie ohne Zweifel auf Pizza, in Paella oder als Sushi verarbeiten. Mit einem physiologischen Brennwert von etwa 150 Kilokalorien pro Imago sind sie schließlich ebenso nahrhaft wie gebratenes Hühnchen – dafür aber garantiert aus Freilandhaltung und bei Selbstzubereitung zum Nulltarif.

Aber warum wird diese Delikatesse nur alle 13 beziehungsweise 17 Jahre serviert? Aus Überlebenskalkül. Indem die Magicicada nur alle 13 oder 17 Jahre in Scharen auftreten, werden ihre Fressfeinde übersättigt. Diese leben in der Regel in 1-, 2-, 4- oder 6-Jahresrhythmen und können ihre Reproduktionszyklen daher nur schwer mit den Primzahlen der Periodischen Zikaden synchronisieren. Es bleiben immer ausreichend Zikaden übrig, die nicht gefressen werden. Ihr Arterhalt ist gesichert.

So dramatisch wie ihre Zeit über der Erde ist, so kurz ist sie auch. Lediglich sechs Wochen bleiben Magicicada, um sich zu paaren – und zu sterben: die Männchen direkt nach dem Akt; die Weibchen, nachdem sie noch schnell Hunderte von Eiern in die Rinde lebender Zweige gelegt haben. Zwei Monate später schlüpft aus ihnen dann das erste Larvenstadium, fällt zu Boden und gräbt sich ein, um seine 13- oder 17-jährige Larvalentwicklung zu beginnen.

Die zwei Primzahlen haben die Tierchen also tief verinnerlicht. Welches Insekt „kann“ noch mehr Mathematik? Wir nehmen gerne Beispiele.

Henrik Müller

 

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Aus dem Leben einer Horrorwespe

1. Juni 2022 von Laborjournal

Ob sich die Imago erinnert, wie sie sich aus ihrem Opfer nach draußen fraß? Wie sich der süße Moment anfühlte, als dessen Oberleib mit einem hässlich-dumpfen Plopp aufplatzte und sie Stück für Stück aus dem Kadaver hervorkrabbelte und ihren ersten tiefen Atemzug nahm?

Eher nicht. Und eine Rolle spielt es für sie auch nicht.

Denn jetzt sitzt sie im Halbdunkel zwischen morschem Holz und feuchtem Erdreich und wartet, lauert. Ohne eine Regung sondieren ihre Facettenaugen die sich in der tropischen Schwüle wiegenden Grashalme, nehmen die winzigste Bewegung wahr. Pollenkörner tanzen in den schmalen Streifen vereinzelter Lichtstrahlen, die bis nach hier unten durchdringen. Noch im Halbschatten glänzt ihr blau-grüner Körper gefährlich metallisch. Ihre sichelförmigen Mandibeln zucken.

 

 

Instinktiv reagiert sie. Als sich der schwere Schabenkörper an ihr vorbeischiebt, verbeißt sie sich mit ihren Kauwerkzeugen und bohrt die Spitze ihres Hinterleibs in den Thorax der Kakerlake – genau an die Stelle, wo sich deren Vorderbeine treffen. Die γ-Aminobuttersäure in ihrem Gift wirkt augenblicklich. Es lähmt die Motoneuronen des Brustganglions ihres Opfers. Zwar macht das die Schabe keineswegs wehrlos. Noch bleiben ihr zwei borstenbewerte Beinpaare zur Verteidigung. Doch ihre Vorderläufe hängen jetzt schlaff herunter. Ihren Kopf kann sie nicht länger schützen.    Diesen Beitrag weiterlesen »