Hypothesen im Herz

15. Januar 2020 von Laborjournal

Was ist wichtiger in der Forschung: Antworten zu finden oder die richtigen Fragen zu stellen? Viele favorisieren Letzteres, da sie Fragenstellen in einem Aufwasch sehen mit dem nach­fol­gen­den Formulieren testbarer Hypothesen. Und Hypothesen gelten ja schließlich als das Kernstück der Forschung schlechthin.

Hand auf’s Herz, wie oft sind Sie tatsächlich zu diesem Kern vorgestoßen? Wie oft haben Sie tatsächlich eine Hypothese formuliert?

Anhand dieser Frage lassen sich womöglich grob vier Klassen von Forscherinnen und Forschern einteilen:

1) Diejenigen, die erstmal gar keine Hypothesen aufstellen wollen. Stattdessen sammeln sie blind (sie selber sprechen lieber von vorurteilsfrei) Daten, einfach weil es technisch geht. Siehe etwa Metagenom-Projekte und Co. Standard-Spruch dieser Spezies: „Wir liefern Daten, aus denen man dann charakteristische Muster herauslesen kann — und mit denen kann man dann wiederum Hypothesen aufstellen.“ „Hypothesen-generierende Forschung“ nennt sie das Ganze dann.

2) Diejenigen, die sich an gängige Hypothesen dranhängen. Sie bestätigen hier ein Detail oder fügen dort eines hinzu, entwickeln kaum eigene Hypothesen, machen noch weniger Vorhersagen und testen am Ende praktisch gar nichts.

3) Diejenigen, die sich Hypothesen förmlich abringen. Diese erlauben sogar einige testbare Voraussagen, jedoch reicht dies gerade, um die eigene Forschung am Laufen zu halten. Deshalb werden sie eifersüchtig gehortet — und man bekommt sie erst nach vielen Tests glatt poliert im fertigen Paper präsentiert.

4) Diejenigen, die mehr gute Hypothesen samt testbarer Vorhersagen aufstellen, als sie selbst bearbeiten können — und diese daher auch mitteilen. Diese seltene Spezies beginnt dann auch mal einen Vortrag mit: „Hört zu, ich hab’ mir die Literatur zum Thema X angeschaut, darüber nachgedacht und ein paar vorläufige Experimente gemacht. Von daher scheint mir, dass die ganze Story so und so geht. Allerdings, sicher bin ich mir natürlich nicht — also lasst uns das mal gemeinsam durchdenken…“ Oder macht es wie der Zürcher Entwicklungsbiologe Konrad Basler, der vor einigen Jahren in der PLoS Biology-Rubrik „Unsolved Mysteries“ für alle Kollegen eine umfassende Arbeitshypothese zur Evolution des Hedgehog-Signalwegs samt einer ganzen Reihe abgeleiteter und testbarer Vorhersagen vorgestellt hat (Bd. 7(6): e1000146).

Keine Frage, sind es Momente wie die letzteren, in denen deutlich wird, dass das Hypothesen­aufstellen tatsächlich das Herzstück der Wissenschaft ausmacht.

Ralf Neumann

(Zeichnung: Peter Kapper)

 

Leserbrief: „Schaden kann die Homöopathie nicht.“

16. Oktober 2015 von Kommentar per Email

(Der folgende Leserbrief erreichte die Redaktion zum Titelthema „Homöopathie — Heimisch an der Uni“ in Laborjournal 10/2015. Wir veröffentlichen ihn in unserem Blog, um hier anderen Lesern die Möglichkeit zur unmittelbaren Diskussion zu geben.)

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Sehr geehrtes Laborjournal,

nonchalant kanzeln Sie die Homöopathie ab als esoterische Pseudowissenschaft, als Schüttelmagie und was die Herablassung sonst noch hergibt — und zwar immer mit einem Argument: Was wir nicht verstehen, kann nicht funktionieren. Ich kann diesen Unfug nicht mehr hören. Wir verstehen vieles nicht: Das Doppelspalt-Experiment, bei dem Licht offenbar ein paar Nanosekunden in die Zukunft schauen kann; den Urknall, bei dem aus unbekanntem Grund aus einem Zustand hoher Entropie — dem Nichts — ein Zustand maximaler Ordnung erwuchs; die dunkle Materie, die 90 Prozent unseres Universums ausmacht und die niemand je gesehen hat. Tun Sie mir bitte den Gefallen und lassen es bleiben, zu behaupten, es gebe keine nicht-stoffliche Wirkung. Wir wissen das nicht, können es mithin nicht ausschließen.

Ihr zweites Argument ist nun im Gegensatz dazu eines Wissenschaftlers würdig: Es fehlen ausreichende Studien. Soweit ich weiß, gibt es im Veterinärbereich einigermaßen überzeugende Studien — und wenn Sie mich herzlich bitten, will ich das gerne recherchieren. Aber selbst wenn Sie für den Menschen recht haben sollten: Klinische Studien sind enorm teuer. Wer soll die bezahlen?

Sie verlangen eine saubere Arbeitshypothese, ein Wirkungsmodell ? Mit die größten Pharma-Blockbuster sind SSRI (selective serotonin reuptake inhibitors) gegen Depressionen. Unbenommen mildern diese Präparate bei einer Mehrheit der Patienten die Symptome (bei einer nicht geringen Minderheit treten sogenannte paradoxe Reaktionen auf — das heißt, die Depression wird schlimmer). Mediziner konstruieren deshalb ein Depressionsmodell, nach dem es dabei um einen Serotoninmangel geht. Doch der Serotoninspiegel ist bei Depressiven in aller Regel normal. Kopfschmerzen sind meist kein Mangel an Aspirin!

Sie verlangen von der Homöopathie Evidenzbasiertheit? Warum dann nicht auch von derjenigen Hälfte der medizinischen Praxis, die ebenfalls nicht evidenzbasiert ist?

Sie hacken bei jeder sich bietenden Gelegenheit — zu Recht — auf der schwachen wissenschaftlichen Ausbildung der Mediziner mit ihrer „Doktorarbeit“ herum und zitieren im Falle der Homöopathie ausschließlich Mediziner?

Dann die Herabwürdigung der Placebowirkung. Wenn ich eine positive Wirkung erziele — und offenbar ist das bei der Homöopathie der Fall, im Gegensatz zu anderen historischen Quacksalbereien wie Mesmerismus, Zur-Ader-lassen, Elektroschock bei Depression (gibt’s aber nach wie vor bei Psychosen!!) —, dann lasse ich die Methode gelten. Die Homöopathie scheint einer gewissen Grundgesamtheit von Menschen ausreichend zu helfen, ansonsten hätte sie sich nicht über mehr als hundert Jahre gehalten.

Sie kommen mir mit den Kosten? Ein Witz im Verhältnis zu modernen Chemotherapien, die bei fünf- bis sechsstelligen Kosten pro Jahr und Patient und induziert elenderer Lebensqualität die Lebenszeit um ein Weniges verlängern. In dem Punkt werden Sie mir hoffentlich zustimmen: Schaden kann die Homöopathie nicht.

Prof. Dr. Uwe Hobohm
THM — University of Applied Sciences Gießen
Biologie / Bioinformatik