Leise rieseln … die Nadeln!

28. Dezember 2022 von Laborjournal

Erfreuen Sie sich weiterhin am Anblick Ihres Weihnachtsbaums?
Auch wenn er großteils schon zu nadeln begonnen hat …

Kein Wunder, Ihr Weihnachtsbaum schiebt Panik. Schon seit der Anschaffung! Egal, wo Sie ihn platziert haben, ob Sie ihn gewässert haben und mit wie viel Aufmerksamkeit Sie ihm weiterhin schmeicheln: Die ersten ein, zwei Wochen erstrahlt er noch in immergrüner Pracht, dann jedoch schmeißt er alle Nadeln ab – und sieht aus, als hätte in ihm eine Herde Borkenkäfer nächtelang durchgezecht.

Sein Nadelausfall ist dabei keineswegs Ausdruck von Nährstoff- oder Wassermangel. Sie, verehrte Leserin oder verehrter Leser, machen sich mitnichten des Tatbestands der Vernachlässigung schuldig. Weder ändern Sie seine hysterische Persönlichkeit mit einem anhaltend hohen Feuchtigkeitsstatus im Baum-Xylem noch mit kommerziellen Konservierungsmitteln oder Wasserzusätzen wie Maissirup, Zucker, Glyzerin oder Aspirin.

Ein Blick zu seinen Artgenossen in freier Wildbahn: Vergeht sich ein Waldtier am Nadelbaum, ist es meist hinter dessen Nadeln her. Schließlich beinhalten sie all die leckeren Nährstoffe. Der Rest des Baumes ist aus herbivorer Sicht nicht viel wert. Trennt hungrige Fauna aber dennoch irgendeinen Teil des Baumes von dessen Wurzel ab, löst das im Gefühlsleben der Konifere eine Panikattacke aus: Sie exprimiert Zellwand-hydrolysierende Enzyme – wie etwa Cellulasen und Polygalacturonasen –, und im Verbund lösen diese Mittellamellen, Primärwände und ganze Zellen in einer zwei bis drei Zelllagen breiten Abszissions-Zone an der Nadelbasis auf. Als Folge wirft das Nadelgehölz seine grüne Pracht aktiv ab.

So auch in Ihrem Wohnzimmer. Auf den Totalverlust seiner Wurzeln reagiert Ihr Bäumchen mit einer Taktik der verbrannten Erde und erklärt Ihnen unmissverständlich: „Bis hier hin und keinen Schritt weiter!“. Es tritt in eine Art inversen Hungerstreik, mit dem es versucht, Sie auszuhungern. Und es funktioniert. Mit jeder Nadel, die auf dem Teppich landet, sinkt Ihr Interesse am Weihnachtsbaum.

Was die Abszissions-Reaktion biochemisch steuert, ist übrigens unverstanden. Neben Auxinen, volatilen Terpenen, Abscisinsäure und Seneszenzfaktoren spielt vor allem Ethylen eine Rolle. Das flüchtige Phytohormon gilt als Hauptübeltäter, der Ihnen Ihr weihnachtliches Baumglück vermiest.

Ihre Möglichkeiten, sich gegen das Alken zur Wehr zu setzen, sind indes beschränkt. Sie könnten es inhibieren, indem Sie das Baum-Xylem künstlich mit Aminoethoxyvinylglycin füttern – was Ihre Weihnachtskasse freilich um einige Hundert Euro erleichtern würde. Oder Sie könnten Ihr Wohnzimmer mit 1-Methylcyclopropen begasen – was die Zahl Ihrer anwesenden Familienmitglieder vermutlich drastisch reduzieren würde.

Einen Ausweg aus dem Nadel-Dilemma bietet trotz aller Züchtungsversuche nur ein künstlicher Baum. Laut Carbon Trust verursacht der allerdings zwanzig Kilogramm CO2-Äquivalente pro Meter. Für ein Okay in Sachen CO2-Bilanz müssten Sie die Fake-Tanne demnach mindestens zehn Jahre verwenden.

Falls Sie sich jetzt also fragen, mit wie vielen Nadeln – und somit Arbeitsaufwand – Sie pro Weihnachtsbaum rechnen müssen, sei auch das verraten: 14.278.660 Stück! Zumindest behauptet das ein Forstwissenschaftler, der im Rahmen seiner Doktorarbeit dereinst eine 30,59 Meter hohe Fichte auszählte. Entgegen dieser durchschnittlichen 467.000 Nadeln pro Meter Weihnachtsfichte bescheinigt die „Sendung mit der Maus“ einer 1,63-Meter-Nordmanntanne nur 178.333 Nadeln. Ob diese Differenz tatsächlich nur dadurch zustande kommt, dass die Nadeldichte der ausgezählten Fichte von der üppigen und weit ausladenden Bezweigung der unteren Meter bis hinauf zur Spitze stetig abnimmt? Oder spiegelt sie gar einen Spezies-Unterschied wider? Niemand kennt die Antwort. Ganz klar, es fehlen Datenpunkte! Falls Ihnen zwischen den Jahren also langweilig wird, …

Doch egal, ob Sie zu den 30 Millionen Haushalten mit oder den 10 Millionen Haushalten ohne Weihnachtsbaum in Deutschland gehören – eines wünschen wir Ihnen ganz gewiss:

Einen entspannten Jahresabschluss
samt einem geschmeidigen Start in ein
möglichst krisenfestes neues Jahr 2023!

 

Henrik Müller

(Foto: Maria Utekhina / iStock)

 

(Der Text erschien in leicht anderer Form als Editorial unseres letzten Laborjournal-NEWSLETTERS. Wer den NEWSLETTER samt solcher Editorials regelmäßig alle zwei Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen möchte, klicke sich bitte hier entlang!)

 

Schlagworte: , , , , , , , , , , ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Captcha loading...