Verdauungs-Fantasien

6. März 2024 von Laborjournal

Ihr Opfer war so gut wie tot, das stand außer Frage. Noch krabbelte es auf zittrigen Beinen am Rand des leuchtend roten Fangeisens entlang, noch tastete es mit seinen Fühlern nach dem süßlichen, fauligen, verführerischen Duft ihrer Nektardrüsen. Doch nur wenige Millimeter weiter, und es würde mehrere ihrer Sinneshärchen berühren und die gespannten Tellereisen ihrer Fangblätter binnen 100 Millisekunden zuschnappen lassen. Widerstand war zwecklos.

Natürlich könnte sich Dionaea muscipula, die Venusfliegenfalle, von Sonnenlicht, Kohlendioxid, Wasser und Mineralien des Bodens ernähren. Doch jeden Morgen wacht sie auf und entscheidet sich aufs Neue für etwas anderes: Gewalt!

Warum? Weil sie an ihrem nährstoffarmen Standort einfach nicht auf die Stickstoff-Leckerli verzichten kann, die auf ihr herumkrabbeln.

Hat sie einen Arthropoden in einem ihrer Fangblätter eingeschlossen, bewerten Chemorezeptoren dessen Verwertbarkeit. Erachtet sie ihr Opfer als schmackhaft, versiegelt sie das klebrige Grab vollständig. Selbst Flüssigkeit kann dann nicht mehr austreten. Kleine Drüsen sondern nun ein Verdauungssekret ab, dessen Amylasen, Esterasen, Phosphatasen, Proteasen, Ribonukleasen und in geringen Mengen auch Chitinasen den gefangenen Gliederfüßer bis auf Molekülebene zersetzen. Nach zehn Tagen ist das Festmahl vorbei. Nur unverdauliche Reste wie Beine und Chitinpanzer bleiben übrig und fallen zu Boden, sobald sich die Fangblätter erneut öffnen und aufrichten. Das Massengrab zu Füßen der Venusfliegenfalle wächst.  Diesen Beitrag weiterlesen »