Warum Blau trotz Rot? — Gute Frage!

14. Februar 2024 von Laborjournal

Oft heißt es in der Wissenschaft: Wichtiger als Antworten zu finden ist es, die richtigen Fragen zu stellen. Bleiben wir kurz dabei – und fragen unsererseits: Wodurch zeichnen sich „richtige Fragen“ aus? Wohl dadurch, dass sie den Weg zu klaren Experimenten ermöglichen, deren Resultate zu wichtigen neuen Erkenntnissen führen.

Und damit wären wir bei einem Knackpunkt der ganzen Sache angekommen. Denn ob eine Frage „richtig“ in dem Sinne war, dass sie tatsächlich zu „wichtigen“ Erkenntnissen führte, entpuppt sich oft erst lange nachdem man sie ursprünglich gestellt hatte. Woraus zwangsläufig folgt: Wenn man im Voraus beurteilen will, ob eine Frage zu wichtigen Erkenntnissen führen werde, kann man ganz schön daneben liegen.

Nehmen wir als Beispiel eine frisch veröffentlichte Studie zur Blaufärbung von Heidelbeeren (Sci. Adv., doi.org/mf5t). Die Autoren um Rox Middelton von der Universität Bristol formulieren gleich zu Beginn der Einleitung ihres Artikels die entscheidende Frage:

Heidelbeeren sind sichtbar blau – die Pigmente, die sie enthalten, sind es jedoch nicht. So zeigen neuere Arbeiten auch deutlich, dass die Farbvariationen von Heidelbeeren tatsächlich nicht in erster Linie von deren Pigmentierung abhängen. Die Anthocyane, die diese Früchte in hohen Konzentrationen enthalten, haben im Allgemeinen dunkelrote Streuprofile. Wie kommen dann Früchte wie Heidelbeeren und Schlehen zu ihrer blauen Farbe?

Warum kann einem die Heidelbeere blau aus den Büschen entgegenleuchten, wenn sie doch nur dunkelrote Anthocyane als Farbstoffe enthält? Eine Frage, die eigentlich schon sehr lange formuliert sein dürfte – schließlich ist der aus den blauen Beeren gewonnene Heidelbeersaft tatsächlich dunkelrot (siehe Bild oben). Doch offenbar war es für die Wissenschaft bislang nicht wirklich eine richtige Frage – also eher keine, die den Gewinn neuer und vielleicht sogar wichtiger Erkenntnisse versprach.

Entweder Rox Middelton et al. sahen dies nun anders, oder sie gingen sie einfach trotzdem mal an. Middelton dazu in einer Pressemitteilung

Das Blau der Blaubeeren kann nicht durch Zerquetschen „extrahiert“ werden, da es sich nicht im pigmentierten Saft befindet, der aus der Frucht gepresst werden kann. Deshalb wussten wir, dass es etwas Seltsames an der Farbe geben musste.

Das „Seltsame“ verbarg sich in der epicuticularen Wachsschicht, mit der sich die Beere umgibt. Middelton und Co. entfernten das Wachs und kristallisierten es auf schwarze Pappe um – wobei folgendes geschah:

(A) Heidelbeeren; (B) Farbschicht nach Extraktion und Selbstorganisation der epicuticularen Wachsschicht  (aus Sci. Adv., doi.org/mf5t)

Die Wachskristalle, die in Lösung transparent waren und nach Verdampfen des Lösungsmittels Chloroform weiß blieben, organisierten sich auf der Pappe selbst zu einer ähnlichen Nanostruktur wie auf der Beere um – und gewann eine blaue Färbung zurück, die dem spektralen Profil der natürlichen Heidelbeer-Fruchtflächen nahezu glich. Auf der Pappe war somit eine durchgehende, zwei Mikrometer dicke Beschichtung entstanden, die Licht im Wellenlängenbereich UV bis Blau reflektiert.

Laut Middelton sei damit ein bisher unbekannter biologischer Färbemechanismus identifiziert worden, der sich ziemlich sicher nicht nur auf Heidelbeeren beschränkt. Womit das Ganze wohl guten Gewissens als neue und womöglich sogar wichtige Erkenntnis gewertet werden kann. Und auf diese Weise entpuppte sich die ursprüngliche Frage „Blau trotz Rot?“, welche die Wissenschaft so lange ignoriert hatte, schließlich doch als „richtig“ und „wichtig“.

Dies nicht zuletzt, weil damit jetzt unmittelbare technische Anwendungen auf der Hand liegen. So erwähnt auch Middelton, dass der Bedarf an derartigen natürlichen und nachhaltigen Strukturfarben groß sei. „Wir könnten diese Beschichtungen als ungiftige Farbstoffe für Make-up, als essbaren Ersatz für bestimmte Kunststofffolien auf Lebensmitteln, als nachhaltigen und umweltfreundlichen UV-Schutz oder als Farbstoffe für Solarzellen verwenden.“

Womit wir am Ende wieder mal ein Beispiel dafür hätten, dass die reine Grundlagenforschung nach wie vor aus einfachen Alltagsbeobachtungen heraus ungeahnte Erkenntnisse mit hohem technischen Anwendungspotenzial kreieren kann (siehe dazu auch hier). Vorausgesetzt, sie stellt die richtigen Fragen. Und lässt sie nicht unerkannt links liegen.

Ralf Neumann

(Foto: Merzie Sayson)

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