Zur Psycho-Neuro-Physiobiochemie des Hungers

14. Dezember 2022 von Laborjournal

Fass mich nicht an!“, fauchte ich meine Frau und die Mutter meiner Kinder an. Sie hatte ihre Hand beruhigend auf meine Schulter legen wollen. Doch dafür war es zu spät. Meine Augenbrauen zogen sich zusammen, meine Nasenlöcher flatterten. Wut flutete meinen ansonsten doch so ausgeglichenen Charakter.

Ein Gremlin hat immer Hunger!

Warum war meine Selbstkontrolle dahin? Verengten damals noch rote Schleier meinen Blick, kenne ich mittlerweile die Antwort: Ich hatte Hunger. Und Hunger macht mich aggressiv.

Tatsächlich ist Hungerwut („Hangriness“) keine Einbildung. Schon 2014 baten Forschende um Brad Bushman von der Ohio State University 107 verheiratete Paare drei Wochen lang um zweierlei (PNAS, doi.org/f5zqxg): Erstens, vor dem Zubettgehen ihre Blutzuckerspiegel zu messen – und zweitens, unbeobachtet von Ehefrau oder Ehemann bis zu 51 Nadeln in eine ihren Partner symbolisierende Voodoo-Puppe zu rammen. Das Studienergebnis war eindeutig: Je geringer der Blutzuckerspiegel, desto mehr Nadeln im Voodoo-Leib. Einen Einfluss demographischer Faktoren, wie etwa die Ehedauer, überprüften sie übrigens nicht.

Das tat 2022 die Arbeitsgruppe um den Psychologen Stefan Stieger an der österreichischen Karl-Landsteiner-Universität. Sie ließen 64 Versuchspersonen unterschiedlichen Lebensalters, Geschlechts, Body-Mass-Index, Bildungsgrads, Beziehungsstatus und Essverhaltens sowie unterschiedlicher Neigung zu Wutausbrüchen drei Wochen lang ihre Gefühlslage und ihr Hungergefühl per Handy-App dokumentieren. Erneut das gleiche Resultat: Hungergefühl und negative Emotionalität korrelieren über demographische Faktoren hinweg (PLoS ONE, doi.org/h4g5). Der Werbeslogan „Du bist nicht du, wenn du hungrig bist“ eines bekannten Erzeugers von Zuckerspeisen behält also tatsächlich Recht. Hunger macht „hangry“.

Obendrein ist „hangriness“ nicht auf die Spezies Mensch beschränkt. Beispielsweise erwecken ausgehungerte männliche Taufliegen in Reichweite des Futtertrogs den Krieger in sich (Anim. Behav., doi.org/gkb6mz). Auch sollten Sie Zebrafinken direkt nach einer Fastenkur besser nicht in die Quere kommen (Endocrinology, doi.org/f5d2qt).

Im Dunkeln liegen hingegen die neurophysiologischen Ursachen der Hungerwut. Die populärste Hypothese geht so: Rinnt unserem Hirn sein Lieblingstreibstoff Glucose davon, schrillt die physiologische Alarmglocke. Endokrine Zellen in Magenschleimhaut und Bauchspeicheldrüse schütten das Peptidhormon Ghrelin aus. Und Ghrelin macht uns zum Gremlin. Gelangt das „Heißhunger-Hormon“ über die Blutbahn in Hypothalamus und Hypophyse wird Nahrungsbeschaffung höchste Priorität und alles andere zweitranging. Unsere Konzentrationsfähigkeit leidet, die Frustrationsgrenze sinkt. Wir machen häufiger Fehler. Ein Teufelskreislauf beginnt. Irgendwann ist selbst unsere Emotionskontrolle dahin.

Wie das im biochemischen Detail vonstattengeht, ist indes ungeklärt. Bekannt ist nur, dass Ghrelin auf der Oberfläche bestimmter Neuronen an Wachstumshormon-Sekretagogen-Rezeptoren (GHS-R) bindet. Die Nervenzellen sezernieren daraufhin die zwei Hormone Neuropeptid Y und Agouti-verwandtes Peptid (AGRP), die ihrerseits das Hungergefühl auslösen.

Während der Ghrelinspiegel bei Hunger kontinuierlich steigt, fällt er nach einer Mahlzeit übrigens schnell wieder ab. Denn das Peptidhormon hat nur eine Halbwertszeit von knapp zehn Minuten. Wird unser innerer Wolf also gefüttert, bessert sich auch seine Laune schnell wieder.

Und die Moral von der Geschichte? Führen Sie mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin besser keine Diskussion, wenn Sie einen Mordshunger haben.

Henrik Müller

(Foto: Allstar/Warner Bros)

 

(Der Text erschien als Editorial unseres letzten Laborjournal-NEWSLETTERS. Wer den NEWSLETTER samt solcher Editorials regelmäßig alle zwei Wochen per E-Mail zugeschickt bekommen möchte, klicke sich bitte hier entlang!)

 

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