Wachstum, Vielfalt, Chaos… und Tod

3. Januar 2013 von Laborjournal

Zwei ganz große Persönlichkeiten der Biowissenschaften erlebten das neue Jahr nicht mehr: Rita Levi-Montalcini (r.) und Carl Woese (l.).

Rita Levi-Montalcini starb am 30. Dezember als älteste noch lebende Nobelpreisträgerin (1986, zusammen mit Stanley Cohen) im Alter von 103 in Rom. Mit der Entdeckung und Isolierung des Nervenwachstumsfaktors NGF, wie auch später des Epidermalen Wachstumsfaktors EGF, lieferte sie entscheidende Grundlagen für die Entschlüsselung des Konzepts der Entwicklungssteuerung durch Polypeptid-Wachstumsfaktoren. Mehr dazu in den Nachrufen etwa hier, hier und hier.

Am gleichen Tag starb in Urbana, Illinois, 84-jährig Carl Woese, „Vater der Archaeen“ und entscheidender Pionier der molekularen Systematik und Evolutionsforschung durch Sequenzvergleiche. Woese erhielt zwar keinen Nobelpreis (dafür aber unter anderem den Crafoord-Preis), war aber für die moderne Biologie womöglich noch prägender als Levi-Montalcini. Warum, das enthüllt unter anderem ein Gespräch, welches unsere Mitarbeiterin Karin Hollricher vor knapp zehn Jahren mit Woese führte (Laborjournal 4/2003: 28-32) — und das wir hier nochmals präsentieren:

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Carl Woese im Interview

„Die frühe Evolution war chaotisch“

Carl Woese verglich als Erster die ribosomalen RNAs von Mikroorganismen — und entdeckte dabei die Archaea als eigene Organismendomäne neben den Eubacteria und den Eukaryota. Vor ein paar Wochen erhielt er dafür den Crafoord-Preis. Erst kurz zuvor hatte er noch eine neue provozierende Theorie zur frühen Evolution von Zellen veröffentlicht. Karin Hollricher traf ihn an Thanksgiving in Chicago zum Gespräch.

Carl Woese an Thanksgiving 2003 vor seinem Wagen.
Man beachte das Nummernschild. (Foto: Karin Hollricher)
 

LJ: Herr Woese, man erzählt sich, Sie würden die besten Ideen abends bei einem Glas Bier haben.

Woese: (lacht) Es ist nicht die einzige Methode, um gute Ideen zu produzieren. Der Alkohol lässt die Gedanken fliegen. Aber ich trinke nur Light-Bier, betrunken kann ich nicht denken.

Im letzten Herbst haben sie in PNAS einen Artikel publiziert: „On the evolution of cells“. Darin schreiben sie, dass es ihrer Meinung nach den von Darwin proklamierten universellen Vorfahren nicht gab; vielmehr ginge der Ursprung allen Lebens von einer Vielfalt ursprünglicher Zellen aus, von denen sich schließlich nur ein paar durchsetzten und zu den Vorfahren von Bakterien, Archaeen und Eukaryonten wurden. Ist diese Idee auch beim Bier entstanden?

Woese: Die Ideen in dem Artikel entwickelten sich beim Schreiben. Und beim Schreiben trank ich sicherlich das ein oder andere Bier… Aber wissen Sie, das 20. Jahrhundert wurde fast ausschließlich von Molekularbiologie und Genetik beherrscht. Es war eine verblüffende, atemberaubende Ära. Dennoch ist die Sichtweise dieser Disziplinen eine sehr reduktionistische Sichtweise.

Inwiefern?

Woese: Nun, es war eine Vision der Biologie, die Zelle zu verstehen. Aus der molekularbiologischen Sicht muss man dazu die Zelle auseinander nehmen. Das hat man getan. Zunächst hat man — sehr erfolgreich — ihre Gene analysiert. Aber obwohl man inzwischen viele Genome kennt, versteht man die Zelle nicht. Mit anderen Worten: wir haben ein „Humpty Dumpty“-Problem.

Was ist das?

Woese: Das ist eine Analogie zu einem Kinderreim. Der geht etwa so:

Humpy Dumpty sat on a wall
Humpty Dumpty had a great fall
all the kings horses and all the kings men
couldn’t put Humpty together again.

Obwohl man also die Zelle auseinander genommen und die Einzelteile untersucht hat, schafft man es nicht, aus den einzelnen Informationen zu verstehen, wie die Zelle funktioniert, warum sie so ist wie sie ist. Ich denke, man muss sich anschauen, wie Zellen sich entwickelt haben, wie ihre biologische Form entstanden ist. Diese Art der Betrachtung hat man lange zur Seite geschoben. Nach Darwin dreht sich alles nur noch um Variation und Selektion. Alle Formen waren demnach Varianten und diese wurden selektiert. Mit anderen Worten: die biologische Form hatte per se keine Bedeutungsie ist was sie ist.

Was ist denn an dieser Betrachtungsweise falsch?

Woese: Ich betrachte die Form, die Natur der Zelle, ihre Organisation und ihre Evolution als untrennbar miteinander verbundene Probleme. Aber jeder Molekularbiologe würde sagen, dass die Natur der Zelle eine Sache ist, ihre Evolution etwas anderes. Machen wir ein Gedankenexperiment: Wenn Sie auf dem Mond wären und dort eine schwarze Kiste fänden, was würden Sie tun? Natürlich würden Sie die Kiste öffnen und schauen, was darin ist, woraus sie besteht. Aber sie wären doch verrückt, wenn sie sich nicht auch fragen würden, woher die Kiste kommt. Und genau diese Frage stellt die Molekularbiologie nicht.

Aber Sie stellen diese Frage nach dem Woher. In ihrer letzten Publikation, mit der ich übrigens ziemlich gekämpft habe…

Woese: (amüsiert sich prächtig): Wirklich? Das ist okay. Kein Molekularbiologe ver-steht das. Was ist denn daran so schwierig?

Sie behaupten, dass es viele Ur-Zellen gab, aus denen unabhängig voneinander die Vorläufer von Bakterien, Archaeen und Eukaryonten entstanden sind. Mit welchen Argumenten unterstützen sie ihre Theorie?

Woese: Sehen Sie, es gibt eine Menge Szenarien, die beschreiben, wie sich die euka-ryontische Zelle entwickelt haben könnte. Eukaryonten haben Organellen. Und wir wissen, dass die Organellen durch Endosymbiose in die Zellen gelangt sind. Manche Forscher propagieren, dass Eukaryonten viele Endosymbionten und damit viele neue Eigenschaften aufgenommen haben. Ich aber glaube, dass Endosymbiose eine relativ späte Entwicklung in der Evolution der eukaryontischen Zelle war, dass sie erst auftrat, als die eukaryontische Zelle im Wesentlichen entwickelt war. Nun interpretieren viele Biologen die Tatsache, dass Eukaryonten bakterielle Formen von Enzymen haben, dahingehend, dass diese Enzyme von den Endosymbionten stammen. Aber Charles Kurland und seine Kollegen Canback und Andersson haben gezeigt, dass alle eubakteriellen Versionen von Enzymen, die an der Glykolyse beteiligt sind, eine eigene phylogenetische Gruppe bilden, die eukaryontischen Versionen bilden eine andere Gruppe. Diese Gruppen müssen sich schon vor langer Zeit getrennt haben, lange bevor sie sich zu einzelnen Linien verzweigten. Das bedeutet, die Eukaryonten hatten diese Enzyme, bevor die Endosymbionten hereinkamen. Das gilt allerdings nicht für Enzyme des Krebs-Zyklus. Diese stammen wirklich von den Endosymbionten. Bis dahin haben die Eukaryonten wahrscheinlich anaerob gelebt.

Und wo kam die im Wesentlichen fertig entwickelte eukaryontische Zelle her?

Woese: Diese Frage können Sie für alle Zellen stellen: Wo kamen sie her? Wie entwickelten sich die Zellen? Wir wissen es nicht. Aber ich habe eine Theorie, und ich will sie mit drei Argumenten untermauern. Das sind erstens die Translation, zweitens der horizontale Gentransfer und schließlich das Wesen dynamischer Systeme.

Fangen wir mit Translation an. 

Woese: Der Translationsapparat ist das Schlüssel“organ“ der Zelle, denn Gene sind so lange keine Gene, bis die Zelle die Fähigkeit hat, sie in Proteine zu übersetzen. Allerdings sind Gene, die keine Proteine kodieren, ein Spezialfall. Wie ist nun die Translation entstanden? Nun, dass dieses Problem gelöst wird, werde ich nicht mehr erleben. Was jedoch wissen wir heute darüber? Translation ist ein höchst komplizierter Vorgang, viele Komponenten sind daran beteiligt. Genau aus diesem Grund ist unmöglich, dass die Translation quasi aus dem Nichts entstanden ist. Sie entwickelte sich, so glaube ich, aus einer RNA-Maschine. Noch heute ist in den modernen Zellen RNA ein essentieller Teil der Translation. tRNA etwa bringt die Aminosäuren. Und die Peptidyltransferase, die das wachsende Peptid von einer zur nächsten tRNA transferiert, ist eine RNA.

Eine RNA? Kein Enzym?

Woese: Nein, das dachte man lange; das sieht man ja auch am Namen. Aber die Kristallstruktur der Ribosomen zeigt, dass das so genannte Peptidyltransferase-Zentrum kein Enzym, ja überhaupt kein Protein enthält. Außerdem hat man schon vor zig Jahren gezeigt, dass die Translation im zellfreien System ohne den Elongationsfaktor EF2 oder EFGauch ein Proteinfunktioniert. Deshalb sage ich, dass die ursprüngliche Translationsmaschine eine kleine RNA-basierte Maschine war, die unpräzise gearbeitet hat.

Wieso unpräzise?

Woese: Weil Genauigkeit sehr kompliziert ist. Doch die ursprünglichen Zellen mussten einfach funktionieren und einfach gebaut sein. Ich stelle sie mir wie Maschinen vor, die aus noch nicht ausgereiften Teilen bestehen. Solche Systeme funktionieren nur, wenn sie Fehler tolerieren. Wenn das so war, dann konnten DNA-Replikation und Translation in den ursprünglichen Zellen noch nicht in ihrer heutigen Form vorhanden gewesen sein.

Nun zu ihrem zweiten Argument, der horizontale Gentransfer, kurz HGT.

Woese: Der horizontale Gentransfer war in der frühen Evolution ein weit verbreitetes Phänomen, das wissen wir heute. Damit ein Gentransfer erfolgen kann, bei dem ein fremdes das vorhandene Gen ersetzt, müssen sich Donor und Empfänger zunächst einmal in unmittelbarer Nähe zueinander befinden, in der gleichen Nische leben. Außerdem müssen sie den gleichen genetischen Code haben, die gleiche Lingua franca sprechen, sonst kann der Genhandel nicht funktionieren.

Was entscheidet nun darüber, ob ein Gen häufig oder selten übertragen wird? Der Schlüssel zu meiner Theorie, was HGT formt, ist der Translationsapparat. Der besteht aus vielen verschiedenen Komponentenden RNAs, Proteinen, Elongationsfaktoren und tRNA-Synthetasen. Wenn man sich anschaut, ob und wie diese Komponenten horizontal übertragen wurden, sieht man einen deutlichen Unterschied. Ribosomale Proteine und Elongationsfaktoren wurden nur minimal zwischen den Organismen ausgetauscht, das ist höchst selten passiert. Man sieht nämlich in Bakterien niemals ribosomale Proteine vom Archaeen-Typund auch umgekehrt nicht. Aber bei den tRNA-Synthetasen ist alles anders, die wurden vielfach zwischen den Organismen übertragen. Zwei Jahre lang habe ich die Gene für diese Moleküle untersucht und häufig Archaeen-Versionen sowohl in Bakterien wie auch in Eukaryonten gefunden. Was kann nun der Grund dafür sein, dass die tRNA-Synthetase-Gene durch HGT übertragen wurden, die Gene für die anderen ribosomalen Komponenten aber nicht? Es liegt daran, dass die ribosomalen Komponenten interagieren, im Verbund arbeiten. Dagegen sind die tRNA-Synthetasen unabhängig von den Ribosomen. Die Enzyme müssen nur die richtige tRNA binden. Sie können in jedem Organismus arbeiten, solange sie die tRNAs erkennen und zum Ribosom bringen. Daraus folgt, dass die Organisation der Zelle definiert, welche Gene durch fremde Gene ersetzt werden können und wie unterschiedlich die fremden Gene sein dürfen. Das bestimmt die Qualität von HGT.

Ist HGT also eine wichtige Komponente für die frühe Evolution der Zelle?

Woese: Es ist die wichtigste Kraft. Variation und Selektion innerhalb einer Linie haben im Vergleich zur Aufnahme neuer Gene nur einen beschränkten Einfluss auf die Evolution. Ich halte die frühe Evolution für ziemlich chaotisch. Damals muss es einen regelrechten Gen-Handel gegeben haben. Diese Phase der Evolution der Zelle muss die ganze Welt der Organismen umfasst haben. Das war eine Gemeinschaftsphase, bevor sich Spezies oder Linien entwickelten, wie Darwin sie definiert hat.

Wie kann man diese Ur-Organismen kategorisieren, wenn nicht als Linien oder Spezies? Kann man überhaupt von einer Genealogie sprechen, wenn es keine einzelnen Linien gab?

Woese: Irgendwann in der Evolution, vor 1 bis 3 Milliarden Jahren, nachdem die Organismen ständig Gene ausgetauscht haben, gab es einen Punkt, an dem bestimmte Gene in einer Zelle blieben, sie regelrecht darin eingesperrt waren. An diesem Punkt beginnt die Genealogie dieser Zellenes entsteht eine Linie, die sich schließlich bis in Arten verzweigt. Ich bezeichne diesen kritischen Zeitpunkt, wenn eine Linie entsteht, als Darwinsche Schwelle.

Damit sind wir bei meinem dritten Argument: Zellen sind selbstorganisierende Organismen, die man mit dynamischen Systemen vergleichen kann. Ein dynamisches System ist lange stabil, bis plötzlich etwas passiert, das es stark verändert. Dann überschreitet das System einen kritischen Punkt, und eine Phasenveränderung tritt ein. Ein Beispiel dafür ist das Gefrieren von Wasser zu Eis. Heute bin ich mehr denn jeauch mehr als damals, als ich das Paper schriebdavon überzeugt, dass die Darwinsche Schwelle ein solcher kritischer Punkt im Prozess der Evolution ist. Es ist überhaupt der erste in der Biologie definierte kritische Punkt.

Vor der Darwinschen Schwelle haben wir also die Gemeinschaftsphase, in der die Zellen munter ihre Gene austauschen, danach die Darwin-Ära, in der Linien sich nur noch verzweigen?

Woese: Im Prinzip schon. Und der Phasenübergang ist plötzlich. Der Schlüssel dazu ist die Verbundenheit, die Integration der einzelnen Teile des zellulären Designs. Erst sind die Bestandteile weitgehend unabhängig voneinander, die Hierarchie ist flach. Dann werden immer mehr Verbindungen geknüpftbis die einzelnen Bestandteile nicht mehr unabhängig voneinander arbeiten können, also durch HGT auch nicht mehr getauscht werden können.

Demnach muss einen „Point of no Return“ geben?

Woese: Stimmt, und von dort gab es auch kein Zurück mehr. Das passierte etwa mit dem Mitochondrion. Nachdem der Endosymbiont einmal in der Zelle war, wurde er immer abhängiger von ihr.

Wie war denn die Reaktion in der Scientific Community auf ihre neue Theorie?

Woese: Es gab nur wenige Reaktionen. Die Mehrheit der Biologen interessiert sich dafür nicht. Es wird wohl welche geben, die sich fragen: „Was ist daran neu?“ Oder solche, die sagen: „Das ist ja interessant, kann er das beweisen?“. Denen sage ich: „So what?“ Das Paper vermittelt eine bestimmte Idee: die der Gemeinschaftsphase. Vermutlich hatte damals sogar keine einzelne Zelle ein vollständiges Genomvielmehr war das vollständige Genom das der Gemeinschaft aller Organismen in einer Nische, die sich als ganzes System in und mit ihrem Ökosystem entwickelten. Es muss nicht so gewesen sein — aber ich denke, dass es so war.

Wie stellen Sie sich denn nun die Entwicklung der drei Domänen der Bakterien, Archaeen und Eukaryonten vor?

Woese: Die drei Designs begannen in der RNA-Welt, sie entwickelten sich aus verschiedenen Strukturen und sie waren selbstorganisierende Systeme.

Also gab es keine Ur-Zelle?

Woese: Genau!

Sondern mindestens drei Ur-Zellen?

Woese: Ich denke viel, viel mehr. Aber nur drei Designs haben es schließlich unabhängig voneinander und vermutlich zu verschiedenen Zeiten geschafft, über die Darwinsche Schwelle zu kommen.

Was nichts anderes bedeutet, als dass Darwin falsch lag mit seiner Hypothese, dass „all the organic beings which have ever lived on this earth have descended from some one primordial form….“. Wenn er heute noch leben würde, woran und bei wem würde er arbeiten?

Woese: Bei mir im Labor.

Warum?

Woese: (lacht) Nicht, weil ich der Beste bin. Es gibt viele gute Wissenschaftler. Aber er würde, wie er es zu seiner Zeit tat, an der vordersten Front der Wissenschaft arbeiten. Nun haben die klassischen Evolutionsbiologen sich von dieser Front zurückgezogen und nur Details bearbeitet. Jetzt steht die molekulare Evolution an der vordersten Front. Dort würde Darwin arbeiten. Denn mit diesen Methoden kann man heute Fragen stellen und beantworten, die früher im klassischen Kontext noch nicht einmal denkbar gewesen sind.

Sie wurden in diesem Jahr mit dem renommierten Crafoord-Preis für Ihren Befund ausgezeichnet, dass die Archaeen nicht zu den Bakterien gehören, sondern eine eigene dritte Domäne der Organismen verkörpern. Wie fühlen Sie sich jetzt?

Woese: Ich fühle mich sehr gut. Dieser Preis ist die formelle und ultimative Anerkennung dessen, was ich der Biologie gegeben habenämlich den genetischen Ansatz zur Klassifizierung der Mikrobenwelt.

Vom Prestige her entspricht dieser Preis einem Nobelpreis. Erleben sie jetzt den gleichen Rummel wie ein Nobelpreisträger?

Woese: Ganz und gar nicht. Es gab nicht viele Reaktionen. Einige Freunde haben mir natürlich gratuliert. Aber hier in Amerika zählt nur der Nobelpreis, alles andere registrieren die Amerikaner nicht.

Gehört denn Ernst Mayr, der „große alte Mann“ der modernen Evolutionsbiologie, zu den Gratulanten? Er kennt die Bedeutung des Crafoord-Preises genau, er bekam ihn 1999 gemeinsam mit John Maynard Smith und Geroge Williams.

Woese: Ja, er hat mir gratuliert.

Das wundert mich, denn er glaubt ja bis heute nicht an ihre Archaeen-Theorie.

Woese: Stimmt, aber er hat trotzdem gratuliert. Er sieht die Frage: „Gibt es zwei oder drei Domänen in der Biologie“ aus der Sicht der Taxonomie. Er klassifiziert die Biologie nach taxonomischen Kriterien. Ich aber sage, die Biologie definiert die Taxonomie. Deshalb komme ich zu anderen Schlussfolgerungen.

Was machen Sie mit dem Preisgeld? Es sind immerhin eine halbe Million Dollar? Setzen sie sich damit zur Ruhe?

Woese: Nein, auf keinen Fall. Natürlich will ich weiter forschen. Und das Geld — keine Ahnung, was ich damit mache… Doch, ich weiß es: zuerst werde ich 290.000 Dollar Steuern bezahlen.

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via O amigo de Wigner

Carl R. Woese wurde am 15. Juli 1928 in Syracuse (New York) geboren und ist Professor für Mikrobiologie an der Universität von Illinois in Urbana-Champaign. Seit fast 40 Jahren lehrt und forscht er dort – inmitten eines US-Staates, der sich endlos flach südlich von Chicago erstreckt.

Bereits kurz nach seiner Ankunft in der aus den Orten Urbana und Champaign zusammen gewachsenen Universitätsstadt begann er, sich mit einem fundamentalen Problem herumzuschlagen: der Taxonomie von Bakterien. Eine große Herausforderung, denn die winzigen Organismen haben nicht genug morphologische oder physiologische Eigenschaften, anhand derer man sie klassifizieren kann. Viele berühmte Biologen waren kläglich daran gescheitert.

Woese jedoch kümmerte sich nicht um die Morphologie, sondern setzte auf die Molekularbiologie. Zu Beginn der 70er Jahre, als man noch DNA-DNA-Hybridisierungsversuche machte, um Aussagen über die Ähnlichkeit der eingesetzten Nukleinsäuren zu treffen, begann er, die ribosomalen RNAs von Bakterien und Archaeen zu analysieren. Diese Moleküle hatte der Forscher, der sich schon in den 60er Jahren mit der Evolution des genetischen Codes beschäftigte, gewählt, weil er annahm, dass sie auf Grund ihrer essentiellen Funktion sehr alte Moleküle sein müssten und sich daher im Laufe der Evolution nur wenig verändert haben dürften. Diese Vermutung sollte sich als völlig korrekt erweisen: mit seinen rRNA-Untersuchungen legte Woese die Grundlagen für die moderne molekulare Evolutionsbiologie.

Aufgrund der Unterschiede, die Woese in den 70er Jahren zwischen den 16S rRNAS von Bakterien und (damals noch so genannten) Archaebakterien fand, postulierte er, dass man letztere nicht zu den Bakterien zählen dürfe, sondern dass sie eine eigenständige, dritte Domäne bilden. Damit musste auch der bis dahin gültige Stammbaum des Lebens mit seinen zwei Ästen, den Ursprüngen von Bakterien einerseits und Tiere und Pflanzen andererseits, falsch sein. Woese postulierte einen Stammbaum mit drei Ästen, die die Ahnen von Prokaryonten, Archaeen und Eukaryonten symbolisierten.

Auch wenn heute diese Auffassung weitgehend akzeptiert ist, gibt es immer noch Widerspruch, sogar aus prominentem Mund. So glaubt der Evolutionsbiologe Ernst Mayr (gestorben 2005) nicht an Woeses Theorie, wie er 1998 in PNAS kundtat. Diese Debatte wird vielleicht niemals enden, denn hier geht es nicht um Fakten, sondern darum, welche der Fakten die Wichtigeren sind: die morphologischen oder die molekularen. „Die Archaeen sind eigentlich Prokaryonten, sie zu einer eigenen Domäne emporzuheben, ist einfach absurd“, dozierte Mayr erst kürzlich in einem Interview mit dem Amherst Magazine. „Ich denke, das Problem könnte sein, dass Woese eine Ausbildung als Physiker hat — und er wendet sein biologisches Unwissen bei seinen Klassifizierungsmethoden an.“

Tatsächlich hat Woese Mathematik und Physik am Amherst College studiert, bevor ihn die Biologie, speziell die frühe Phase der Evolution, gefangen nahm. Erst mit seiner Dissertation an der Yale Universität (1953) näherte er sich der Biologie — die er bis heute nicht verlassen hat. Noch immer sitzt er täglich in seinem Büro und wühlt sich durch Genome und Sequenzen, auf der Suche nach der Antwort auf die Frage: „Wo kommt die Zelle, der Ursprung des Lebens, her?“ Zu diesem Thema hat er gerade eine neue Theorie publiziert, über die sicher noch viel diskutiert werden wird (PNAS 99, S. 8742; siehe Interview).

Woese gilt heute als eine Legende der Biologie. Und so wundert es nicht, dass man munkelt, er sei bereits mehrfach für einen Nobelpreis im Gespräch gewesen. Doch seine Arbeit lässt sich einfach in keine der Nobel-Kategorien einfügen. Und so musste er auf die Reise nach Stockholm und das Hände-Schütteln mit dem schwedischen König bisher verzichten.

Jetzt aber — und das erfüllt ihn mit großer Genugtuung — ist es bald so weit. Am 24. September 2003 wird er in der schwedischen Hauptstadt aus der Hand des Königs den Crafoord-Preis samt 500.000 Dollar erhalten.

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(Eine umfangreiche Liste mit Links zu Artikeln über Woeses Leben und Werk gibt es übrigens auf Jonathan Eisens Blog „Tree of Life“.)

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Ein Gedanke zu „Wachstum, Vielfalt, Chaos… und Tod“

  1. Ralf Neumann sagt:

    Rita Levi-Montalcini veröffentlichte ihr letztes Paper mit 102!

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