Editorial

Turing-Test für Embryo-Modelle

(28.08.2023) Modelle, die nicht mehr von natürlichen menschlichen Embryonen unterscheidbar sind, sollten auch so behandelt werden, schreibt ein Autorenteam.
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Menschliche Embryonen genießen einen besonderen Schutz, denn schließlich haben sie das Potential, zu menschlichen Individuen zu werden. Wie dieser ethische Status sich in der Gesetzgebung niederschlägt, ist von Land zu Land unterschiedlich. Weitestgehend einig dürfte man sich aber in folgendem Punkt sein: Je weiter die Embryonal­entwicklung vorangeschritten ist, desto höher der Schutzstatus des sich entwickelnden Lebens.

Was speziell die Forschung in Deutschland betrifft, so dürfen überhaupt keine menschlichen Embryonen verwendet werden – dieses Verbot beginnt mit der befruchteten Eizelle. Für die Verwendung menschlicher embryonaler Stammzellen (ESC) galt ein Stichtag im Jahr 2007: Wurden die Stammzellen vor diesem Datum aus einem Embryo gewonnen, so darf an ihnen geforscht werden. In der Praxis ist dieser Stichtag aber wohl nicht mehr relevant, menschliche Embryonen im Forschungslabor sind Tabu. Dennoch ist es erlaubt, durch In-vitro-Befruchtung überzählige Embryonen herzustellen, falls damit ein Kinderwunsch erfüllt werden soll. Geregelt sind die Details im Embryonen­schutzgesetz und Stammzell­gesetz. Andere Länder sind in dieser frühen Phase liberaler und erlauben Forschung mit menschlichen ESC.

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Die Keimbahn umgehen

Wo aber bislang Einigkeit herrschte: Somatische Zellen aus dem menschlichen Körper fehlt dieser Status. Natürlich müssen auch hier die Spender informiert werden und zustimmen, und Ethik­kommissionen prüfen solche Forschungs­vorhaben vorab, aber es gibt eben keine gesetzliche Barriere, die hier Einschränkungen analog zu den Embryonen oder ESC formuliert. Mit den induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS-Zellen) kann man heute aber nicht nur Organoide wachsen lassen, sondern zu einem gewissen Grad auch Prinzipien der Embryogenese nachstellen. Man spricht daher von „Embryoiden“ oder „Embryo-Modellen“, manchmal ist auch von „synthetischen Embryonen“ die Rede. Die iPS-Zellen bieten verschiedene Wege, die Keimbahn zu umgehen.

Schon 2011 gelang es japanischen Forschern, Spermien aus iPS-Zellen zu erzeugen (Cell, 146(4), 519–32). Zuletzt machten die Arbeitsgruppen von Magdalena Zernicka-Goetz an der Uni Cambridge sowie Jacob Hanna am Weizmann Institute of Science in Rehovot von sich reden, indem sie aus ESC und iPS-Zellen Maus-Embryoide erzeugten, die sich bis über den achten Tag entwickelten. Zuletzt berichteten beide Gruppen unabhängig voneinander von ähnlichen Ergebnissen mit menschlichen Stammzellen (Nature, doi.org/gsfgj5 und bioRxiv, doi.org/kg5n).

Bislang, so betonen es durchweg Embryologen und Reproduktions­forscherinnen, seien diese Entitäten noch weit entfernt von einem Embryo oder gar Fötus. Sie ähneln zwar frühen Stadien bis zum 13. oder 14. Tag, aber ihnen fehlt die Fähigkeit, sich weiter auszudifferenzieren – allein schon, weil ein Zellkultur­system bislang nicht die Blut- und Nährstoff­versorgung wie im Uterus nachbilden kann.

Nun weist ein internationales Autorenteam in einem Artikel in Cell darauf hin, dass es nur eine Frage der Zeit sein dürfte, bis man auch jenseits der Keimbahn Entitäten erzeugen kann, die nicht mehr von einem Embryo unterscheidbar sind. Erstautor ist Nicolas Rivron vom Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Die Verfasser plädieren für ein neues ethisches Rahmenwerk zum Umgang mit Embryo-Modellen (Cell, 186(17): 3548-57). Die juristische Definition für einen Embryo solle nicht davon abhängen, wie die Entität erzeugt wurde oder woher sie stammt. Stattdessen stellen sie das Potential des Modells in den Mittelpunkt.

Herkunft egal

Ein Embryo wäre nach der vorgeschlagenen Definition eine „Gruppe menschlicher Zellen, unterstützt durch Elemente, die extra­embryonale und uterine Funktionen erfüllen und gemeinsam das Potential haben, einen Fötus zu bilden“. Es ist also keine Rede davon, dass Spermien und Eizellen zum Einsatz kommen mussten. Spezialfälle wie das Klonen – hier kommt man ohne Spermium aus – wären automatisch von dieser Definition erfasst. Aber auch komplexere Embryo-Modelle, die aus somatischen Zellen hervorgehen, könnten künftig einmal dieses Kriterium erfüllen.

Die Autoren differenzieren zwischen „integrierten“ und „nicht-integrierten“ Embryo-Modellen. Integrierte Embryo-Modelle besitzen extra­embryonale Strukturen wie zum Beispiel das Tropho­ektoderm (oder dazu analoge funktionelle künstliche Strukturen) und könnten somit ein aktives Potential haben, zum Fötus zu werden. Nicht-integrierte Modelle fehlt diese Fähigkeit, sie können lediglich einzelne Organe oder Strukturen bilden. Nur die integrierten Modelle wären dabei einem Embryo gleichzusetzen, falls sie sich zum Fötus entwickeln könnten.

Auch wenn Embryoide noch nicht explizit in der Gesetzgebung berücksichtigt sind, so gibt die International Society for Stem Cell Research (ISSCR) Guidelines vor, denen sich Forscher verpflichten und die auch Ethik-Kommissionen als Leitschnur dienen (weitere verbindliche Leitlinien ergeben sich zum Beispiel für die forschende Ärzteschaft durch die Erklärung von Helsinki). Demnach dürfen Embryo-Modelle nicht in einen menschlichen oder tierischen Uterus transferiert werden. Andererseits, so betonen Rivron et al., sehe die ISSCR Embryo-Modelle nicht als Embryonen an, weder im biologischen noch juristischen Sinne.

Bislang würde auch die vorgeschlagene Embryo-Definition daran nichts ändern. Aber künftig könnte man Systeme finden, die genau dieses Embryo-Kriterium erfüllen. Die Autoren schlagen hierfür eine Art „Turing-Test“ vor. Der klassische nach Alan Turing benannte Test bezieht sich auf Computer und Menschen: Kommuniziert ein Mensch mit einem Computersystem, kann aber keinen Unterschied zu einem Menschen erkennen, so hat das Computersystem den Turing-Test bestanden. Analog dazu könnte man ein Set von Experimenten definieren, mit denen man ein System darauf hin testet, ob es ein Embryo ist. Schneidet ein Embryo-Modell dabei genauso ab wie ein natürlicher Embryo, hätte es diesen Turing-Test bestanden und wäre juristisch als Embryo zu werten.

Zweistufiger Test

Die Verfasser halten einen zweistufigen Turing-Test für geeignet: Zum einen würde man in vitro ermitteln, wie weit sich ein Modellsystem entwickelt und ob diese Stadien unterscheidbar sind von einem natürlichen Embryo. Hier betonen die Autoren, dass mit fortgeschrittener Entwicklung auch der ethische Status eines solchen Systems steigt. Falls ein Embryo-Modell also den Turing-Test besteht, könnte schon der Turing-Test selber ethisch heikel sein – was man zuvor aber nicht wissen kann. Hier wäre es von ländertypischen juristischen und gesellschaftlichen Standards abhängig, bis zu welcher Komplexität man diese Entwicklung betrachtet. Die ISSCR setzt 14 Tage als Grenze für die Forschung an menschlichen Embryoiden, falls sie sich vergleichbar mit einem natürlichen Embryo entwickeln. Dann bildet sich im Embryo nämlich der Primitiv­streifen aus.

Der zweite Teil des Turing-Tests wäre, das Modell-System aus tierischen Zellen nachzubauen, diese (nicht-menschlichen) Embryo-Modelle im Versuchstier austragen zu lassen und zu ermitteln, ob dabei fort­pflanzungs­fähige Individuen entstehen. Ein Modell sollte dabei nicht nur auf Mäuse übertragen werden, sondern auch auf Tiere, die sich menschen­ähnlicher entwickeln. Das könnten Schweine oder Affen sein.

Rahmenwerk für die Zukunft

Ein Modell, das diesen Turing-Test besteht, wäre dann also mit denselben juristischen Standards zu bewerten wie ein klassischer Embryo. Für die Repro­duktions­medizin dürfte weiterhin die Herkunft des Embryos eine Rolle spielen, sodass es nach derzeitigem Stand wohl nicht erlaubt sein wird, aus iPS-Zellen erzeugte Embryonen zur Kinderwunsch­erfüllung einzusetzen. Für den Forschenden im Labor aber wären beide Systeme dann gleichwertig zu behandeln. Je weiter fortgeschritten ein Embryo-Modell sich entwickelt, desto höher sein ethischer Status.

„Daher sollten, wenn möglich, die am wenigsten vollständigen Modelle bevorzugt werden“, schlussfolgern die Autoren mit Blick auf die Zukunft. Will man nur Prozesse zu einem einzelnen Organ betrachten, sollte man demnach kein vollständiges Embryo-Modell erzeugen.

Auch wenn die Forschung derzeit noch nicht so weit ist, entwicklungsfähige menschliche Embryonen aus Stammzellen nachzubauen, wäre solch ein ethisches und juristisches Rahmenwerk sicher hilfreich, um auf künftige Fortschritte vorbereitet zu sein. Die Autoren wollen mit ihrem Vorschlag wohl auch eine breitere Diskussion anregen. Dabei ist es sicher sinnvoll, die relevanten Punkte nicht nur in Fachgremien zu debattieren, sondern verschiedene Standpunkte auch der Öffentlichkeit zu vermitteln.

Mario Rembold

Bild: Museum of Veterinary Anatomy FMVZ USP/Wagner Souza e Silva


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Letzte Änderungen: 28.08.2023