Editorial

Synthetische Embryonen im deutschen Recht

Mario Rembold im Gespräch mit Nils Hoppe, Hannover (27.06.2023)


Symbolbild: Familie unter Regenschirm als Schutz
Illustrationen: Tim Teebken - Bearbeitung Ulrich Sillmann

(14.07.2023) Embryoide fallen weder unter das Embryonenschutzgesetz noch unter das Stammzellgesetz, wenn sie aus somatischen menschlichen Zellen erzeugt sind. Medizinethiker Nils Hoppe wirbt für eine zeitgemäße Gesetzgebung mit individuellem Ermessensspielraum.

Das Verbot, Menschen zu klonen, bedeute nichts mehr, erklärte Embryologe Michele Boiani in LJ 1-2/2023, S. 16 - Link. Er bezog sich dabei auf neue Methoden, mit denen Forscher embryoähnliche Entitäten auch jenseits von Meiose und Keimbahn erzeugen. Dabei erläuterte er, wie sich über induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) Gameten und Embryoide generieren lassen.

Die Labore von Magdalena Zernicka-Goetz in Cambridge, Großbritannien, sowie Jacob Hanna in Rehovot, Israel, veröffentlichten im Juni 2023 Preprints, in denen sie embryoähnliche Konstrukte vorstellen (bioRxiv, doi.org/kg5m und bioRxiv, doi.org/kg5n). Diese sind nicht durch Befruchtung entstanden, sondern aus Stammzellen erzeugt und sollen viele Aspekte natürlicher Embryonen widerspiegeln. Vor einigen Monaten hatten beide Forscherteams bereits ähnliche Ergebnisse zu Mäuse-Embryoiden publiziert; diesmal aber kamen menschliche Zellen zum Einsatz.

Häufig ist bei diesen Modellen von „synthetischen Embryonen“ die Rede. Doch wie ähnlich ist solch ein Embryoid einem natürlich entstandenen Embryo? Welche ethischen Fragen stellen sich? Und wie könnte man in Deutschland eine bessere und zukunftssichere Gesetzgebung implementieren, die mit dem wissenschaftlichen Fortschritt der Embryologen Schritt hält? Das hat Laborjournal den Medizinethiker Nils Hoppe gefragt.

Laborjournal: Das deutsche Recht untersagt es, Menschen zu klonen und embryonale Stammzellen aus neu gewonnenen Embryonen für die Forschung zu verwenden. Generiert man embryoähnliche Gebilde aber aus menschlichen Körperzellen greifen diese Regelungen nicht. Ist es also weniger relevant, womit ich arbeite, sondern auf welche Art und Weise die Struktur erzeugt wurde?

Nils Hoppe » Ja, man merkt der Gesetzgebung in Deutschland eine gewisse Hilflosigkeit an. Wir haben einen Gesetzestext, der im Falle des Embryonenschutzgesetzes schon über 30 Jahre alt ist. Wir sprechen da von einem Strafgesetz, und Strafgesetze sind ganz besonders unflexibel. Bei anderen Instrumenten hat man Interpretationsspielräume, wenn sich Technologien ändern. Die kann man dann im Sinne des Gesetzgebers auslegen. Bei Strafgesetzen ist das explizit nicht möglich. Deswegen haben wir in diesem Fall eigentlich eine Festlegung des wissenschaftlichen Standes der 1990er-Jahre. Insofern überrascht es nicht, dass wir jetzt im Jahr 2023 hier sitzen und feststellen: Irgendwie passt das nicht.

Gleichzeitig gibt es das Stammzellgesetz, das auch dann gilt, wenn mit Material aus menschlichen Embryonen gearbeitet wird. Zernicka-Goetz und Hanna verwenden in vielen ihrer Studien Material, das aus einer embryonalen Zelle stammt. Diese Konstellation ist in Deutschland nach dem Stammzellgesetz weiterhin verboten.

Es sei denn, man verwendet Embryonen, die vor einem Stichtag im Jahre 2007 entstanden sind ...

Hoppe » Dann müsste es eine der wenigen verbleibenden embryonalen Stammzellquellen sein, die vor diesem Stichtag hergestellt oder importiert wurde. Das ist natürlich albern und findet auch nicht mehr statt. Es gibt einen guten Grund dafür, warum die führenden Embryonale-Stammzellen-Forscher und -Forscherinnen nicht an einem Max-Planck-Institut in Deutschland arbeiten sondern im Ausland.

Sehen Sie in den aktuellen Entwicklungen, für die die Gruppen von Zernicka-Goetz und Hanna exemplarisch stehen, etwas fundamental Neues? Oder hat sich das alles in den letzten zehn Jahren irgendwie abgezeichnet?

Hoppe » Ich glaube schon, dass es sich abgezeichnet hat. Vielleicht nicht vor zehn Jahren, aber ich würde sagen, seit 2018 war für mich erkennbar, wohin die Reise geht. Gesellschaftlich haben wir darauf nicht gut reagiert, denn es gibt keine dauerhafte Debatte darüber, keinen wirklichen Austausch im Gesellschaftsleben, um die unterschiedlichen Positionen besser zu verstehen. Mir wäre wichtig, zu diskutieren, was wir hier eigentlich versuchen zu schützen. Mit welcher Praxis oder mit welchen wissenschaftlichen Entitäten haben wir denn eigentlich Schwierigkeiten?

Ursprünglich sagte man: Ein Embryo ist eine Vorstufe zu einem Menschen, und daraus ergibt sich ein besonderer moralischer Status. Außerdem wird in Deutschland die Diskussion in der Literatur häufig am Würdebegriff festgemacht. Wir sagen dann, dass bei einem Embryo schon eine Art Vorstufe einer Würde vorhanden ist, weil er zu unserer Spezies gehört und die Potentialität hat, zu einem Menschen zu werden. Ein scharfes Embryonenschutzgesetz sollte verhindern, dass eine Art Industrie um die Herstellung von Embryonen entsteht – damit zum Beispiel eine Kinderwunschklinik nicht zehn oder zwölf Embryonen herstellt, wenn im Schnitt nur sechs für ein erfolgreiches Ergebnis gebraucht werden, und die überschüssigen Embryonen dann nicht der Forschungsindustrie zugeführt werden.

Es wird dann oft argumentiert, ein Embryo solle nicht als Mittel zum Zweck verwendet werden, weil das nicht mit seiner Würde vereinbar sei. Ich sehe das aber kritisch. Was passiert denn in Deutschland mit überschüssigen Embryonen aus der Kinderwunschbehandlung? Die werden entsorgt. Vernichtet. Da finde ich die Argumentation schwierig, dass das würdevoller sei als eine Verwendung in der Forschung.

Um auf die Frage zurückzukommen, ob wir es mit etwas Neuem zu tun haben: Wissenschaft produziert am laufenden Band neue Dinge, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Wir hatten ähnliche Diskussionen, als die ersten Mensch-Tier-Mischwesen für die Xenotransplantation aufkamen wie etwa Schweine-Embryos, die mit humanen iPS-Zellen versehen wurden, um ein Tier mit menschlicher Leber oder menschlichem Herz zu produzieren. Diese Experimente laufen schon seit vielen Jahren auch in großen Sonderforschungsbereichen in Deutschland. Damals waren Schweine-Embryonen mit menschlichen Zellen auch etwas Neues.

Was mir aber nicht einleuchtet: Entweder gibt es für frühe Embryonen einen hohen ethischen Schutzstatus, und dann sollte er universell gelten – oder es gibt ihn nicht, aber dann müsste man auch nicht einschränken, wofür diese Embryonen verwendet werden dürfen. Könnten Sie aus Sicht eines Bioethikers erläutern, warum man hier dennoch weiter differenziert?

Symbolbild: Blick durch Schlüsselloch

Hoppe » Die Diskussion ist natürlich komplex, und die fachkundigen Kommentatoren sind sich auch nicht einig. Der moralische Status bewegt sich auf einer Art Spektrum, an dessen Anfang die Keimzellen und an dessen Ende der nicht mehr einwilligungsfähige, weil vielleicht demente oder komatöse, Mensch, stehen. Auch ein verstorbener Mensch, der einem Begräbnis zugeführt werden soll, hat in Deutschland noch eine nachstrahlende Würde. Denken Sie an die „Störung der Totenruhe“. Und auch am Anfang dieses Spektrums schützen wir diese Materialien, weil sie eine Potentialität haben. Hier gibt es die 14-Tage-Regelung, bis sich der Primitivstreifen ausbildet. Ab dann können wir sagen: Dieser Embryo entwickelt sich zu einer Person; vorher wissen wir ja nicht, ob daraus vielleicht zwei oder drei Menschen werden. Damit haben wir eine nützliche moralische Kategorie. Dieser moralische Status nimmt mit der Zeit zu, denn es ist etwas anderes, ob wir es mit einer Blastocyste oder einem Fötus zu tun haben. Die Chance, dass daraus eine Rechteträgerin oder ein Rechteträger wird, steigt.

Erinnern Sie sich an das Erlanger Baby? Eine werdende Mutter war damals verunglückt und nicht mehr zu retten. Aber in der Rechteabwägung hat man gesagt: Wir versuchen, die Frau möglichst lange mechanisch zu beatmen, damit das Kind vielleicht per Kaiserschnitt zur Welt kommen kann. Da überwiegt dann auf einmal der Schutz des ungeborenen Lebens gegenüber der Würde der sterbenden Frau.

Solche Grenzen normativ festzulegen, wird natürlich zu einer Herausforderung, wenn jetzt eine neue Entität auftaucht, die einem Embryo ähnlich ist. Ist das jetzt etwas normativ Neues? Sind die Entitäten so gleich, dass wir sie gleich behandeln müssen?

Wenn vor dem 14. Tag noch keine Individualität gegeben ist: Warum dürfen diese frühen Embryonen zwar für die künstliche Befruchtung erzeugt und überzählige Embryonen produziert, nicht aber für die Forschung verwendet werden? Der ethische Status eines Embryos ändert sich doch nicht durch den Verwendungszweck, und in beiden Fällen gehen überzählige Embryonen letztlich verloren ...

Hoppe » Weil hinter einer Kinderwunschbehandlung die Absicht steht, Leben zu erzeugen. Das ist im Interesse des Embryos, während es nie im Interesse eines ungeborenen Kindes sein kann, gar nicht erst geboren zu werden.

Die 14-Tage-Grenze gilt auch für die Forschung an Embryoiden – also embryoähnlichen Gebilden, die nicht über die Keimbahn entstanden sind, sich aber ähnlich entwickeln. Allerdings liegt dem nur eine Leitlinie der International Society for Stem Cell Research (ISSCR) zugrunde, oder hat das in einigen Ländern auch gesetzliche Wirkung?

Hoppe » In Wissenschaft und Medizin haben Guidelines immer einen starken normativen Charakter. Leitlinien haben sehr wohl Gewicht, auch wenn sie nicht vom Gesetzgeber produziert sind. Ein Beispiel hierfür ist die Deklaration von Helsinki: Diese ethischen Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen hat sich die Weltärzteschaft ausgedacht, und es ist erstmal nichts, was Gesetzeskraft entfaltet. Aber als Arzt in Deutschland würde ich meine Approbation verlieren, wenn ich mich nicht an die Deklaration hielte. Das käme einem Berufsverbot gleich. Und Ähnliches gilt auch für diese technischen Guidelines.

Juristisch gibt es aber keine Einschränkung für den Umgang mit Embryoiden, die aus menschlichen Körperzellen gewonnen wurden?

Hoppe » Es gibt immer einen Regulierungsrahmen. Die Frage ist nur, wie gut dieser Rahmen passt. Wenn es um Material aus iPS-Zellen geht, dann wären die Bestimmungen des Stammzellgesetzes, die die Einfuhr und Verwendung embryonaler Stammzellen in Deutschland verbietet, nicht einschlägig – denn darin ist ganz spezifisch von embryonalen Zellen die Rede. Nun kommt es darauf an, wofür so eine embryoähnliche Entität hergestellt wird. Soll sie im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung in einen Menschen eingesetzt werden? Dann wäre unter anderem die nationale Umsetzung der Geweberichtlinie einschlägig. Darin ist geregelt, wie aus menschlichen Zellen hergestellte Produkte im Menschen verbracht werden dürfen. Für die Forschung ist die Einordnung hingegen schwieriger. Aber auch da arbeitet man ja mit humanen Materialien, und auch iPS-Zellen sind ja nicht regulierungsfrei zu verwenden. Da stellen sich die üblichen Fragen nach der Einwilligung des Spenders, dem die Zellen entnommen wurden.

Es gibt also relativ viele Bestimmungen, die man beachten muss, wenn man mit humanen Biomaterialien arbeitet. Nur weil das Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz nicht einschlägig sind, bewegen wir uns nicht in einem regulatorischen Vakuum.

Meiner Meinung nach wäre es eine Überreaktion, wenn wir sofort eine Gleichsetzung zwischen Embryonen und diesen neuen Modellen unterstellen würden. Wir müssen uns fragen, ob die Entität, mit der wir es hier zu tun haben, tatsächlich das ist, was der Gesetzgeber damals erfassen wollte. Und meine Intuition ist, dass das nicht der Fall ist.

Aber glauben Sie nicht, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis diese neuen Entitäten über weite Stadien hinweg nicht mehr von einem klassischen menschlichen Embryo unterscheidbar sind?

Hoppe » Doch, da bin ich relativ sicher. Ich glaube, dass die moralische und juristische Diskussion noch einmal neu geführt werden muss, falls wir an den Punkt kommen, so etwas implantieren zu können, sodass sich daraus ein normaler Mensch entwickelt. Denn dann könnte man mit dieser Methode faktisch Menschen klonen.

Aber wir müssen die Kirche im Dorf lassen. Im Augenblick reden wir über Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Grundlagen der Embryogenese erforschen. Sie haben jetzt ein Modell produziert, mit dem sie ihre Embryonenforschung betreiben können, ohne überzählige Embryonen zu verbrauchen. Man könnte die Sache auch umdrehen und sagen: Das Ganze hat eine positive ethische Bilanz.

Ich glaube, wir sollten auch wissenschaftsfreundlicher argumentieren. Diese Leute wollen ja nicht frankensteinartig irgendwas züchten. Zernicka-Goetz und Hanna wollen Kinderwunschbehandlungen explizit sicherer und erfolgreicher machen. Jeder, der sich mit dem Thema auskennt, weiß, welche immense Belastung es für kinderlose Paare mit Kinderwunsch bislang ist, solch ein Verfahren zu durchlaufen.

Hätten Sie einen Vorschlag für eine gesetzliche Grundlage, die zwar forschungsfreundlich ist, aber Missbrauch gleichzeitig unterbindet?

Hoppe » Je spezifischer ein Gesetz zu Technologie, Wissenschaft oder Medizin formuliert ist, desto wahrscheinlicher wird es relativ schnell ungeeignet für seinen Zweck sein. Ein geeigneter regulatorischer Rahmen bleibt abstrakt und benennt, welche Ergebnisse wir verhindern wollen. Wir könnten zum Beispiel sagen, dass wir das Klonen von Menschen nicht wollen – egal mit welcher Technologie. Dazu müssten wir im Abstrakten definieren, was für uns einen Klon ausmacht.

Wir hatten ein ähnliches Problem in der EU-Regulierung der genetisch modifizierten Organismen (GMO). Die entsprechende Richtlinie hat einen Anhang, in der wirklich die einzelnen Technologien aufgezählt sind, die ein GMO produzieren. Dann kam CRISPR/Cas und auf einmal haben wir eine Technologie, die nicht transgen arbeitet, aber doch irgendwie eine Modifikation herbeiführt. Und alle waren in Aufruhr, weil sie nicht wussten, ob CRISPR/Cas ein GMO im Sinne der Richtlinie produziert. Solche Fortschritte kann nur eine abstrakte Gesetzgebung antizipieren, die Ermessensspielräume öffnet. Solche Ansätze gibt es zum Beispiel in Großbritannien.

Was genau machen die Briten, woran wir uns ein Beispiel nehmen könnten?

Hoppe » In Großbritannien gibt es solch eine abstrakte Gesetzgebung mit individuellen Interpretationsspielräumen. Die dortige Human Fertilisation Embryology Authority (HFEA) reguliert und überwacht alle Kliniken in Großbritannien, die In-vitro-Fertilisationen oder Inseminationen durchführen, sowie alle Samen-, Eizellen- und Embryo-Banken des Landes. Außerdem genehmigt und überwacht sie die gesamte britische Forschung an menschlichen Embryonen. Im Einzelfall vergibt die Behörde dann Lizenzen für bestimmte Arbeiten im Kontext der Embryologie. Das macht sie wissenschaftsgeleitet. Sie macht Kosten-Nutzen- und Risiko-Nutzen-Abwägungen und holt sich Expertise aus Wissenschaft, Ethik und Recht dazu. Sie lässt sich im Zweifelsfall auch mal verklagen, um richterlich zu klären, was gesetzlich möglich ist und was nicht.

Am Ende kann die HFEA individuell auf Einzelfälle reagieren, und trotzdem gibt es einen Regulierungsrahmen. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wissen, dass sie mit einem gut formulierten Antrag bei der HFEA eine Lizenz für ihre Arbeit bekommen können. Das gilt auch im klinischen Kontext. Zum Beispiel gab es dort den Fall eines Drei-Eltern-Kindes im Rahmen einer experimentellen HFEA-Lizenz. Diese wurde vergeben, da klar war, dass ein Kind der Eltern einen Mitochondriendefekt hätte, der zu seinem frühen Tod führen würde. Also hat man die Mitochondrien aus der Eizelle entfernt und intakte Mitochondrien einer Spenderin eingesetzt, bevor das genetische Material des Mannes hinzukam. Eine solche Kinderwunschbehandlung mit einer Mitochondrienspende wäre in Deutschland nicht ansatzweise möglich, weil unser Regulierungsrahmen dafür zu rigide ist.

Deutschland sollte also nicht das Klonen über ausformulierte Definitionen verbieten, sondern zum Beispiel sagen: Ein menschlicher Embryo, der zur Entwicklung gebracht wird, muss aus Samen- und Eizelle menschlicher Spender entstehen – und alles darüber hinaus muss im Einzelfall durch eine Behörde analog der HFEA geprüft werden?

Hoppe » Das wäre ein vernünftiger Ansatz, um Ermessensspielräume zu öffnen. Starre Verbote sollten wir jedenfalls vermeiden. Wir sollten dabei allerdings auch das sogenannte Collingridge-Dilemma im Hinterkopf haben: Wenn eine neue Technologie kommt, wissen wir noch nicht genug über ihre gesellschaftlichen Auswirkungen, um sie adäquat zu regulieren. Und sobald wir über dieses Wissen verfügen, ist es meist zu spät für eine Regulierung. Das hat zum Beispiel im Umweltrecht zum Vorsorgeprinzip geführt. Man verbietet erst einmal alles und öffnet dann ganz vorsichtig Türen, um sich an die Evidenz heranzutasten. Auch bei den Tierversuchen verfahren wir so. Wir sagen: Tierversuche sind verboten – es sei denn, ihr rechtfertigt den Tierversuch und erklärt den Zweck dahinter. Auf Basis eines solchen Tierversuchsantrags kann man dann ausnahmsweise eine Erlaubnis bekommen. So ein ähnliches Modell kann ich mir hier auch vorstellen.

Ethikkommissionen prüfen hierzulande ja ohnehin Forschungsvorhaben, sobald menschliche Materialien oder Wirbeltiere involviert sind. Braucht es da überhaupt explizite Gesetze, solange diese Mechanismen funktionieren?

Hoppe » Wir haben die klinischen Ethikkomitees und die Forschungsethikkommissionen, und bei beiden gibt es eine gewisse Unterregulierung. Die geben sich ihre eigenen Spielregeln, wie sie zu Ergebnissen kommen. Im Wesentlichen sind das Leute, die ehrenamtlich oder nebenamtlich tätig sind. Derzeitig wäre es eine Zumutung für sie, wenn sie eine zusätzliche Aufgabe wahrnehmen müssten. Hinzu kommt die lokale Ausrichtung: Eine Ethikkommission in Ulm hat unter Umständen keine Ahnung, was eine Ethikkommission in Kiel in solch einer Situation schon mal entschieden hat. Das System muss aber prozedural fair sein. Ähnlich gelagerte Fälle müssen ähnlich entschieden werden. Und dafür brauchen wir einen systematischen Überblick.

Also braucht es sehr wohl eine Gesetzgebung als Orientierung?

Hoppe » Ja, allein schon aus dem Grund, weil unsere derzeitige gesetzliche Orientierung nicht gut funktioniert. Wir sollten sie durch etwas Besseres ersetzen. Da wäre mein Plädoyer, einen innovationsfreundlichen Rahmen mit vielen Ermessensspielräumen zu gestalten. Und dass wir dann darüber sprechen, auf welche Art und Weise wir diese Ermessensspielräume kontrollieren.



Portraitfoto von Nils Hoppe
Foto: Junge/Universität Hannover

Zur Person

Nils Hoppe ist Geschäftsführender Leiter des Centre for Ethics and Law in the Life Sciences (CELLS), Lehrstuhlinhaber für Ethik und Recht in den Lebenswissenschaften und seit 2023 Dekan für Forschung an der Philosophischen Fakultät der Leibniz Universität Hannover. Seine Arbeitsschwerpunkte befinden sich an der Schnittstelle zwischen Gesundheits- und Forschungsethik.