Editorial

„Das Verbot, Menschen zu klonen, bedeutet nichts mehr“

Im Gespräch: Michele Boiani, Münster

Das Interview führte Mario Rembold (19.12.23)


(07.02.2023) In Deutschland schützen das Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz nur menschliches Leben, das aus mindestens einer Meiose hervorgegangen ist. Inzwischen aber gebe es Verfahren, die von der Gesetzgebung nicht erfasst sind, erklärt der Embryologe Michele Boiani vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster.

Embryonen gehen immer aus Zellen der Keimbahn hervor – dieses Konzept galt lange für Säugetiere, und es war ein Grund dafür, warum die Arbeit mit somatischen induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) juristisch und ethisch als unproblematisch galt. Zuletzt erschienen jedoch Arbeiten von Forschern, die „synthetische Embryonen“ erzeugten – jeweils in der Maus und damit einem Säuger-Modell. Das Team um Magdalena Zernicka-Goetz vom California Institute for Technology (Caltech) berichtete im Oktober 2022 in Nature, dass es aus embryonalen Stammzellen der Maus und extraembryonalen Zellen Embryonen außerhalb der Gebärmutter erzeugen konnte (Nature, 610: 143-53). Die Zellen waren ex vivo in der Lage, sich selbst zu einem Embryo mit extraembryonalem Dottersack zu organisieren.

Wissenschaftler um Jacob Hanna vom Weizmann-Institut in Rehovot in Israel publizierten eine ähnliche Arbeit im September 2022 in Cell (185(18): 3290-3306.e25). Hier entstanden künstliche Maus-Embryonen aus kultivierten embryonalen Stammzellen. Sie wuchsen in einem Kultursystem, das die Bedingungen im Uterus simulieren soll. Bei beiden Arbeiten entwickelten sich die Embryonen über den achten Tag hinaus und bildeten bereits Organ-ähnliche Strukturen.

Stammzelforscher Michele Boiani vor Zeichnung von frühem Embryo
Laut Michele Boiani könnte man schon aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPS) humane Embryonen erzeugen.

Der Embryologe und Reproduktionsforscher Michele Boiani vom Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin in Münster sieht in diesen Möglichkeiten auch die Notwendigkeit, ethische Bewertungen und alte Definitionen zu überdenken. Denn in beiden Studien wurden Embryonen ohne Eizelle und ohne den Einfluss maternaler Faktoren erzeugt. Boiani, der auch Herausgeber und Chief-Editor der Zeitschrift Molecular Human Reproduction ist, geht noch weiter: Man bräuchte nicht einmal embryonale Stammzellen, sondern könnte auch über humane iPS Embryonen erzeugen.

Prinzipiell gezeigt sei das bereits, verweist Boiani auf eine Studie aus dem Jahre 2021, in der Forscher immerhin schon Blastocysten-ähnliche menschliche Embryoide erzeugt hatten (Nature 591: 627-32). Die methodischen Herausforderungen für iPS seien derzeit noch höher als für die recht ähnlichen, aber gerade beim Menschen eben nicht identischen embryonalen Stammzellen. Doch Fortschritte bei der Maus könnten ihre Schatten vorauswerfen auf das, was irgendwann einmal auch am Menschen möglich werden könnte.

Maus-Embryo, alleine aus induzierten Stammzellen gezüchtet
Im letzten Jahr gelang es einem englisch-US-amerikanischen Team um Magdalena Zernicka-Goetz, einen Maus-Embryo alleine aus Stammzellen zu züchten (unten). (Nature 610: 143-53)

Nachgefragt

Laborjournal: Was macht die beiden Studien aus Israel und aus Kalifornien aus Ihrer Sicht besonders? Und sind die Methoden auch auf den Menschen übertragbar?

Michele Boiani » In beiden Fällen wurden synthetische Embryonen aus Zelllinien erzeugt, die keine Beziehung zur Meiose hatten. Die Meiose ist der wesentliche Punkt, den meines Erachtens viele übersehen; sie ist die Schlüsseleigenschaft der Keimbahn. Diese Forschungsarbeiten verleihen den Säugetieren die Fähigkeit zu einer Art asexueller Fortpflanzung über Zellen aus der Mitose anstatt Zellen aus der Meiose. Das sollte mehr ethische Fragen aufwerfen als das Klonen durch Kerntransplantation in Eizellen, denn zumindest die alten Klone gingen von einer meiotischen Zelle – der Eizelle – aus.

Beide Arbeiten sind beeindruckend, besonders die Studie von Jacob Hannas Gruppe finde ich sehr interessant, weil uns in der Schule beigebracht wurde, dass höhere Säugetiere durch die Gebärmutter und die interne Entwicklung im Körper der Mutter definiert sind. Hannas Gruppe ging es nämlich auch darum, die Gebärmutter zum Teil durch ein In-vitro-System zu ersetzen. Die erzeugten Embryonen sind nicht nur künstlich, sondern sie sind auch in der Lage, sich außerhalb der Gebärmutter zu entwickeln – bis zu einem Stadium, das etwa dem Mittelpunkt der Trächtigkeit in der Maus entspricht. Dazu sage ich aber auch: Wir sprechen über ein Maus-Modell. In der Maus läuft die gesamte embryofetale Entwicklung in etwa drei Wochen ab. Beim Menschen hingegen bleiben nach drei Wochen noch rund acht Monate.

Man könnte aber auch sagen: Was in der Maus acht Tage dauert, entspricht beim Menschen dem Ende des ersten Trimesters. Denn man könnte diese Zeitskalen ja auch relativ betrachten.

Boiani » Da wäre ich sehr zurückhaltend, wir sprechen hier wirklich von ganz unterschiedlichen Organismen. Ja, wir sehen hier ein Proof of Principle: Wir sind heute in der Lage, Embryonen aus embryonalen Stammzellen oder aus anderen pluripotenten Stammzellen zu erzeugen, sogar ohne einen meiotischen oder gametischen Hintergrund. Und in der Maus werden wir deren Entwicklung sicher noch viel weiter bekommen. Schon jetzt hatten diese Feten einen Herzschlag. Ich gehe davon aus, dass Jacob Hanna es mit seiner Gruppe schafft, auch deren komplette Entwicklung außerhalb der Gebärmutter zu erreichen. Allerdings in der Maus – mit sehr kurzer Entwicklungszeit und sehr kleinen Feten!

Aber den Gedanken, das sei auch bei größeren Säugetieren möglich, halte ich derzeit für unrealistisch. Allein wegen der längeren Entwicklungszeit. Die Embryonen sind viel größer, sie brauchen die Unterstützung des Kreislaufs der Mutter – und zwar über Wochen bis Monate. Aktuell müssen wir also nicht befürchten, dass jemand nun einen menschlichen Embryo außerhalb der Gebärmutter zur vollen Entwicklung bekommt. Aber wenn es bei Mäusen klappen würde, dann wäre es eine Frage der Zeit ist, bis es auch beim Menschen klappen könnte.

Möglicherweise lassen sich aber auch aus menschlichen Stammzellen Embryonen erzeugen. Wie verändert sich dabei eigentlich die juristische Situation im Vergleich zur Forschung an menschlichen Embryonen, die aus Gameten hervorgegangen sind?

Boiani » Für humane embryonale Stammzellen sind die Möglichkeiten in Deutschland sehr begrenzt. Die Gewinnung dieser Stammzellen ist in Deutschland sowieso verboten, weil Sie dazu einen Embryo zerstören müssten. Reguliert ist das im Stammzellgesetz. Humane embryonale Stammzellen darf man nur noch nutzen, wenn sie vor einem Stichtag im Jahr 2007 gewonnen wurden.

Eine ganz andere Regulierung gilt für die iPS. Das sind ja keine embryonalen Stammzellen im Sinne der biologischen Herkunft, sondern sie werden aus somatischen Zellen erzeugt. In vielen Aspekten ähneln sie den embryonalen Stammzellen, sie fallen aber nicht in den Geltungsbereich des Embryonenschutzgesetzes. Mit diesen iPS darf man daher alles Mögliche tun. Man könnte sogar humane iPS auf tierische Embryonen übertragen. Inwiefern das sinnvoll oder ethisch vertretbar ist, wäre noch mal eine andere Frage, und Ethikkommission und Tierschutzbehörde müssten dem zunächst zustimmen. Aber juristisch gibt es für iPS sehr weitreichende Anwendungsmöglichkeiten.

Experimente mit somatischen Zellen galten immer als ethisch unproblematisch, gerade weil man dafür keine Embryonen zerstören muss; auch dann nicht, wenn man diese Zellen zu Stammzellen umprogrammiert. Aber die aktuellen Ergebnisse verwässern die Abgrenzung somatischer Zellen von denjenigen der Keimbahn.

Boiani » Hier lohnt es sich, ein paar Schritte zurückzugehen. Die Keimbahn ist ein altes Konzept und geht zurück auf August Weismann im 19. Jahrhundert. Demnach gibt es eine scharfe Trennung zwischen Zellen unseres Körpers und jenen Zellen, die ihr Erbgut auf die nächste Generation übertragen können. Aber mit dieser Programmierung somatischer Zellen zu iPS, die sich an allen Keimblättern beteiligen können, ist eine Trennung zwischen Keimbahn und Körper nicht mehr gegeben. Denn prinzipiell können wir jetzt auch somatische Zellen dazu bringen, ihr Erbgut auf die nächste Generation zu übertragen (Nat Rev Mol Cell Biol, 17(3):136)

Zum Beispiel kann man diese pluripotenten Stammzellen in Eizellen oder Spermien umwandeln. Durch die Meiose gibt es da zumindest noch Ähnlichkeiten zur natürlichen Fortpflanzung. Aber man kann auch direkt aus iPS Embryo-ähnliche Einheiten bilden, sogenannte Embryoide. Embryonen aus iPS-Zellen emanzipieren sich von der Meiose und von den Gameten und ermöglichen Säugetieren eine neue Art der Embryogenese. Dies ist vielen nicht klar und hat doch enorme Bedeutung: Sie brauchen rein theoretisch keine Gameten mehr aus dem Hoden oder Eierstock, um sich fortzupflanzen!

Gameten aus iPS erzeugen – ist das bereits in Säugetieren gezeigt?

Boiani » Bei der Maus geht das schon mindestens seit 2016 für Eizellen (Nature, 539:299-303), und für die Spermien der Maus wurde das sogar schon 2011 gezeigt (Cell, 146(4):519-32). Diese Gameten waren in der Lage, entwicklungsfähige Embryonen zu erzeugen.

Sie erwähnten bereits das Klonen: Eine somatische Zelle liefert das Erbgut, doch man brauchte zusätzlich eine auf natürliche Weise entstandene Eizelle.

Boiani » Tja, wissen Sie, ich komme genau aus diesem Gebiet des somatic cell nuclear transfer. Geklonte Mäuse standen am Anfang meiner Laufbahn. Es gab eine große Sorge, dass damit Missbrauch betrieben werden könnte. In Deutschland ist das Klonen von Menschen natürlich verboten, ganz klar! Zudem brauchte man ja auch immer die Eizelle als Empfänger des somatischen Kerns, und an eine humane Eizelle heranzukommen, ist auch ziemlich kompliziert. Heute aber könnten wir genau das ohne Eizelle umsetzen. Okay, die Verfahren sind anders: Im einen Fall haben Sie das Cytoplasma der Eizelle, im anderen Fall einen Cocktail sogenannter Reprogrammierungsfaktoren. Aber am Ende haben Sie Erbgut geklont, nur mit verschiedenen Methoden.

Ich finde es daher ein bisschen heuchlerisch, wenn einige Leute mit diesen Begriffen spielen. Für mich sind die Embryoiden nichts anderes als Klonen im Verborgenen. Die ethische Gemeinschaft hat vor zwanzig Jahren gegen das Klonen protestiert, und jetzt wird uns das Klonen wieder auf dem Teller serviert, und niemand sagt etwas. Um es klarzustellen: Ich bin nicht gegen das Klonen, ich bin gegen die Heuchelei. Ich verstehe nicht, wie man die Transplantation des somatischen Zellkerns in die Eizelle abweisen, aber mit dem Bau von Embryo-ähnlichen Strukturen aus Zelllinien einverstanden sein kann. Ich kann heute die Gameten als Produkte der Meiose einfach überspringen und die Fortpflanzung von meiotisch-sexuell auf mitotisch-asexuell umstellen. Das Verbot, Menschen zu klonen, bedeutet nichts mehr, denn ich habe eine alternative Methode, die sogar effizienter ist, weil man nicht erst Eizellen entnehmen muss. An humane iPS heranzukommen, ist nämlich vergleichsweise einfach.

Demnach wäre es also legal, über humane iPS menschliche Embryoide zu erzeugen und deren Entwicklung im Labor zu untersuchen?

Boiani » Ich bin kein Jurist, aber nach meiner Interpretation wäre das möglich. Denn iPS sind keine embryonalen Stammzellen. Beide sind sich in vielen Aspekten sehr ähnlich und vielleicht sogar äquivalent, aber sie stammen nicht aus einem Embryo und fallen nicht unter das Embryonenschutzgesetz. Nach meinem Kenntnisstand wäre es daher nicht verboten, Embryoide aus humanen iPS im Labor zu erzeugen.

Aber hier kämen ja unabhängig von der Gesetzgebung noch die Ethikkommissionen ins Spiel, und die würden solche Forschungsvorhaben sicher sorgfältig prüfen, oder?

Boiani » Dazu muss ich eine Sache klarstellen: Schon die natürlichen menschlichen Embryonen haben es ziemlich schwer. Eigentlich ist es ein Wunder, dass die Fortpflanzung beim Menschen überhaupt funktioniert, denn in der frühen Embryonalentwicklung haben wir sehr hohe Verluste. Der Mensch ist da sehr, sehr ineffizient. Die Vorstellung, dass künstliche Embryonen sich besser entwickeln würden, halte ich derzeit für abwegig. Aktuell gibt es also keinen Grund zur Sorge, dass man menschliche Embryoide im Labor über eine sehr frühe Phase hinaus in der Entwicklung halten könnte – ganz zu schweigen von einer post-implantativen Entwicklung. Schon die Maus-Ergebnisse zeigen, wie schwierig das ist.

Das waren in den oben erwähnten Maus-Studien um die zwei Prozent, die es bis zur Gastrulation geschafft haben.

Boiani » Ja. Und bei der Maus haben wir sehr viele Vorteile gegenüber dem Menschen, denn neben der einfacheren Embryologie sind die Kulturmethoden seit Jahrzehnten etabliert und optimiert. Aber wie gesagt, falls es bei der Maus irgendwann im vollen Umfang gelingt, wäre es auch beim Menschen wohl nur eine Frage der Zeit und des technisch-klinischen Aufwands, bis diese Möglichkeit in Reichweite kommt.

Im Sommer haben Sie gemeinsam mit Francesca Duncan in Ihrer Zeitschrift ein Editorial verfasst zum Umgang mit Stammzellen und mit aus Stammzellen erzeugten Embryonen (Mol Hum Reprod, 28(4): gaac008). Sie beziehen sich darin auf die aktuellen Guidelines der International Society for Stem Cell Research (ISSCR) und benennen auch ethische Punkte, die Ihnen aus Sicht eines Reproduktionsmediziners und Embryologen wichtig sind. Aber wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist es derzeit sehr unwahrscheinlich, dass ein Embryoid aus menschlichen iPS überhaupt in ein Stadium gebracht werden kann, in dem er leidensfähig ist. Warum also müssen wir diesen Fall überhaupt in Leitlinien mitdenken?

Boiani » Ich persönlich wäre, was die Grundlagenforschung betrifft, etwas liberaler als die aktuelle Gesetzgebung. Prä-implantative Embryonen haben keinerlei Fähigkeit zu leiden. Ich sage jetzt mal bewusst provokant: Ich als Tierforscher arbeite mit Mäusen, die leidensfähiger sind als ein früher menschlicher Embryo, der ja gar kein Nervensystem hat. Aber selbstverständlich brauchen wir Kontrollen und Ethikkommissionen – wir sind nicht im Wilden Westen! Mit menschlichen Embryonen sollte man nicht spielen und menschliches Leben ist keine Ware, also muss der Forscher seine Experimente auch sehr gut begründen.

Aber wenn wir uns auf Verbote einigen, bringen diese ja nichts, wenn man sie umgehen kann über eine Alternative, bei der diese Verbote nicht greifen. Ich würde sogar sagen, dass diese Verbote dann kontraproduktiv waren, wenn wir jetzt diese unregulierten Alternativen haben. Wir haben genau das Gegenteil erreicht durch diese Verbote, die ja nur Produkte der Meiose schützen. Es ist zwar verboten, künstliche menschliche Embryonen auf die Gebärmutter zu übertragen, aber im Prinzip ist diese Übertragung nicht mehr zwingend notwendig, wie Jacob Hanna gezeigt hat.

Nun könnte man auch die andere Extremposition einnehmen und sagen: Menschliche Embryonen sollten per se ein Tabu sein in der Forschung, einfach weil sie menschlich sind. Egal, wie sie erzeugt wurden, sie haben das Potenzial, zu einem Menschen zu werden. Allein dieses Potenzial rechtfertigt doch schon einen höheren ethischen Status.

Boiani » Ja, aber wenn allein das Potenzial entscheidend ist, würde ich entgegnen: Möglich ist vieles, aber das wenigste wird Realität. Speziell in der menschlichen Reproduktion verwirklicht nur eine Minderheit der befruchteten Eizellen dieses Potenzial. Das ist einfach die biologische Wahrheit. Stimmt, eine befruchtete Eizelle ist entwicklungsfähig. Aber davon abzuleiten, dass diese befruchtete Eizelle einem Menschen gleicht, finde ich unpassend. Jedenfalls spricht die Natur da eine andere Sprache.

Ab wann in der menschlichen Embryonalentwicklung wird es aus Ihrer Sicht ethisch problematisch?

Boiani » Wo ich bereits beginne, eine rote Linie zu ziehen, ist die Einnistung in der Gebärmutter. Vor allem aber ist die Gastrulation entscheidend und die Bildung des Nervensystems. Dann erst erkenne ich ein Individuum. Vor der Einnistung können aus einem Embryo ja auch zwei eineiige Zwillinge entstehen. Wo ist hier die Individualität? Was schütze ich denn dann? Einen Menschen? Zwei potenzielle Menschen? Oder auch null, wie es der häufigste Fall ist?

So habe ich über die Frage der Individualität tatsächlich nie nachgedacht. Also dass es zu mir in gewisser Weise ja auch einen verhinderten Zwilling gibt.

Boiani » Ja, genau. Deshalb ist eine Zygote für mich kein Individuum. Ein Embryo vier Tage nach der Befruchtung ist auch kein Individuum. Individualität entsteht erst nach der Einnistung in der Gebärmutter zu einem Zeitpunkt, ab dem sich der Primitivstreifen ausbildet. Erst mit der Gastrulation beginnt der Embryo damit, die Keimblätter zu bilden, also die Vorgänger der einzelnen Gewebe. Und damit entstehen auch individuelle Strukturen.

Die Ausbildung des Primitivstreifens ist auch ein Kriterium in den Leitlinien, die sich die Wissenschaftsgemeinschaft selber gibt. In den Guidelines der ISSCR und in Ihrem Editorial zum Thema wird außerdem eine Zeit von 14 Tagen genannt, die menschliche Embryonen oder – wenn wir das auf iPS ausweiten – Embryoide maximal kultiviert werden dürfen.

Boiani » Für Forscher und auch für Gesetzgeber ist eine definierte Zahl hilfreich, und so kam man auf die 14 Tage. Tatsächlich ist die Embryonalentwicklung sehr heterogen, aber 14 Tage ist die kürzeste Zeit, in der dieser Primitivstreifen entstehen kann. Wenn wir uns also an diesen 14 Tagen orientieren, sind wir zu mehr als 99 Prozent auf der sicheren Seite. Es ist also vor allem eine pragmatische Zahl.

Mich würde noch interessieren, was es mit den Leitlinien der ISSCR auf sich hat. Warum hatten Sie sich hierauf im besagten Editorial bezogen? Und engagieren Sie sich auch in der ISSCR?

Boiani » Nein, ich bin ja Embryologe und daher eher Beobachter der Stammzellforscher und der ISSCR. Wir als Reproduktionsforscher sind zum Beispiel in der European Society Human Reproduction and Embryology (ESHRE) organisiert, und es gibt weltweit noch ein paar weitere Organisationen des Feldes, wie in den USA die American Society for Reproductive Medicine (ASRM). Als ich aber auf die aktualisierten ISSRC-Guidelines aufmerksam wurde, fiel mir auf: Eine Gesellschaft, die sich mit Stammzellforschung beschäftigt, äußert sich auf einmal zu Möglichkeiten des Missbrauchs von iPS für die Reproduktion. Und von der Seite der Reproduktionsmedizin war es still. Darüber haben wir dann im Editorial Board gesprochen und kamen zu dem Schluss, dass wir auch eine Stellungnahme dazu schreiben sollten.

Gibt es denn einen Punkt aus den Leitlinien der ISSCR, den Sie anders oder genauer formuliert hätten?

Boiani » Ich denke, die Risiken, die mit dem Kultivieren von Stammzellen über lange Zeit verbunden sind, hätten besser zur Geltung kommen können. Das jedenfalls war einer meiner ersten Gedanken dazu. In der Embryologie und Reproduktionsmedizin machen wir uns sehr viele Gedanken über die Zeit, die Embryonen in Kultur verbringen. Wir versuchen, diesen Zeitraum so kurz wie möglich zu halten. Je früher ein Embryotransfer auf die Gebärmutter möglich ist, desto besser. Denn damit verringern wir das Risiko für epigenetische Veränderungen während der Zellkultur.

Die iPS gelten immer als Alleskönner. Aber sie werden über lange Zeit kultiviert. Wir reden da nicht über Tage wie bis zum Embryonentransfer, sondern über Wochen, Monate, sogar Jahre. Wir wissen aber: Je länger diese Zellen in Kultur bleiben, desto höher ist auch das Risiko, dass es zu epigenetischen Veränderungen und zu Defekten kommt und die Qualität der Zellen darunter leidet. Natürlich haben auch die Autoren der ISSCR-Leitlinien an die Qualität der Stammzellen gedacht und erwähnen explizit die Aneuploidie, die ausgeschlossen werden muss. Aber an der Chromosomenzahl erkennen Sie natürlich nicht, welche Veränderungen es sonst noch gegeben hat. Wenn wir also Embryonen aus iPS erzeugen und damit im Tiermodell weiterkommen wollen, dann sehe ich darin ein Problem. Denn diese Einflüsse auf die kultivierten Zellen sind nicht kontrollierbar.

Nun sprechen wir über Leitlinien, die sich eine Forscher-Community gibt. Achten Sie und die anderen Redakteure Ihres Journals darauf, ob solche Leitlinien eingehalten werden, wenn jemand ein Paper einreicht?

Boiani » Wir verlassen uns auf die Empfehlungen und Anmerkungen von bioethischen Kommissionen. Und wir verlassen uns auf das, was die Autoren in ihren Materialien und Methoden beschreiben. Wenn sie uns zusichern, dass die Versuche genehmigt waren, dann gehen wir davon aus, dass das auch der Fall ist. Wir sind keine Polizisten, wir können nicht alles nachprüfen. Zudem sind solche Leitlinien ja Empfehlungen; was aber am Ende verbindlich ist, sind die Gesetze vor Ort.

Nun haben Sie betont: Einen Menschen aus umprogrammierten Körperzellen herzustellen, sei derzeit nicht vorstellbar. Aber machen wir ein Gedankenexperiment: Wenn diese Methode nun sicher wäre und vielleicht sogar sehr viel zuverlässiger als andere Techniken zur Kinderwunscherfüllung – warum wäre es eigentlich verwerflich, wenn Menschen auch auf diese Weise Nachkommen zeugen?

Boiani » Menschen, die einen unerfüllten Kinderwunsch haben, leiden. Und ich bin ganz dafür, dass wir diesen Menschen helfen, eine Familie zu gründen. Das finde ich nicht verwerflich. Aber es gibt immer eine Abwägung zwischen Nutzen und Risiken. Wenn es sicher wäre, hätte ich wenige Bedenken. Aber es ist sehr, sehr unsicher nach allem, was wir wissen. Und deshalb wäre es beim aktuellen Kenntnisstand unverantwortlich, solche Embryonen auf den Menschen zu übertragen. Ich befürchte, wir sind dabei, eine alternative Art der Reproduktion zu schaffen, die August Weismann Angst machen würde. Die Angst vor den Klonen aus Eizellen wie vor zwanzig Jahren erscheint lächerlich, verglichen mit den heutigen Möglichkeiten.