Editorial

„Reproduktion ist ein laufendes Experiment ohne wissenschaftliche Begleitung“

Carolin Sage


(14.06.2023) Während sich reproduktionsmedizinische Praxen über regen Zulauf freuen, sieht es für die universitäre Forschung in diesem Fachgebiet düster aus. Die wenigen Lehrstühle erhalten kaum Fördergelder und die Berufsaussichten für junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an Hochschulen oder Universitätskliniken sind schlecht. Das „Netzwerk Reproduktionsforschung“ hat es sich zum Ziel gemacht, diese Missstände zu ändern.

Das Fachgebiet der Reproduktionsmedizin wurde vor allem durch Kinderwunschbehandlungen bekannt. In Deutschland bleibt etwa jedes achte Paar ungewollt kinderlos. Durch assistierte Reproduktionstechniken (ART) wie In-vitro-Fertilisation (IVF) und Intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI) kann vielen Betroffenen geholfen werden. Doch die Behandlungen sind physisch und psychisch belastend, und die Erfolgsquote liegt nur bei etwa 20 Prozent pro Behandlungszyklus.

Dennoch ist vor allem die Entwicklung dieser Behandlungsmethoden der Grund für die Bekanntheit des Fachgebietes. Paradoxerweise hat die Lukrativität der Kinderwunschbehandlungen aber andererseits dazu geführt, dass sich die Reproduktionsforschung in Deutschland nie wirklich umfassend entwickeln konnte. Zwar beschäftigt sich medizinisches und biologisches Fachpersonal an mehr als 130 privat geführten reproduktionsmedizinischen Zentren mit Fragestellungen, die eng mit Unfruchtbarkeit zusammenhängen. Weiter gefasste Themen wie eine breite Ursachenforschung oder Behandlungsfolgen sind allerdings in der universitären Forschung angesiedelt. Und die wird hierzulande kaum gefördert. Folgerichtig liegt sie im weltweiten Vergleich weit abgeschlagen hinter der internationalen Spitzenforschung.

Eizelle wird künstlich befruchtet
Segen und Fluch zugleich für die Reproduktionsforschung: In-vitro-Fertilisation Foto: AdobeStock / SciPro

Die drei Säulen der Frauenheilkunde

Natürlich befasst sich die Reproduktionsforschung auch damit, den Ablauf von ART-Behandlungen zu verbessern. Allerdings umfasst sie weit mehr als nur Fragestellungen rund um Kinderwunschbehandlungen. Zusammen mit der gynäkologischen Endokrinologie bildet die „Reproduktionsmedizin“ vielmehr eine der drei Säulen der Frauenheilkunde. Neben den beiden prominenten Säulen „Gynäkologie und gynäkologische Onkologie“ sowie „Pränatalmedizin und Geburtshilfe“ tritt diese dritte Säule allerdings vergleichsweise in den Hintergrund. So sind an allen 38 Universitätsfrauenkliniken in Deutschland Abteilungen der beiden starken Säulen vertreten. Abteilungen der gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin findet man jedoch nur an 22 dieser Standorte. Neun zusätzliche Abteilungen speziell für gynäkologische Endokrinologie kommen noch dazu. Schon dadurch ist diese dritte Säule der Frauenheilkunde im Vergleich zu den anderen beiden Fachgebieten schwächer aufgestellt. Hinzu kommt, dass auf die gesamte Summe der 31 universitären Versorgungszentren für gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin nur drei besetzte Lehrstühle kommen. Im Gegensatz dazu wurde in der Geburtshilfe und Pränatalmedizin erst 2020 mit der Akademisierung der Hebammenausbildung ein triftiger Grund für den Erhalt und Ausbau der vorhandenen Abteilungen geschaffen. Die gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin ist somit im Vergleich zu den beiden anderen starken Säulen der Frauenheilkunde in der universitären Forschung und der Lehre nicht nur temporär deutlich unterrepräsentiert.

Die Defizite sind sowohl in der Krankenversorgung als auch in der Ausbildung von Fachärztinnen und Fachärzten spürbar. So können sieben Universitätskliniken keine Versorgung im Bereich der Reproduktionsmedizin anbieten. Darunter auch die Charité-Universitätsmedizin Berlin und das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. In drei weiteren Bundesländern gibt es kein universitäres Angebot: Brandenburg, Bremen und Mecklenburg-Vorpommern. Die Aus- und Weiterbildung zu Fachärztin oder Facharzt kann daher ohne die Unterstützung von privaten Zentren nicht gewährleistet werden.

Dritte Säule im Schatten

In den 1960er- bis 1980er-Jahren war die reproduktionsmedizinische Forschung in Deutschland noch federführend. Mit der Entwicklung der assistierten Reproduktionstechniken konnte ein regelrechter Boom des Forschungsgebiets verzeichnet werden. Was mit viel Schwung begonnen hatte, endete aber schon wenige Jahrzehnte später in einem Schattendasein. Nach der Emeritierung der ersten Generation in gynäkologischer Endokrinologie und Reproduktionswissenschaften erfolgte inner- und außerhalb der Hochschulen eine Verlagerung des Interessensgebietes hin zum lukrativsten Teil der Reproduktionsmedizin – den assistierten Reproduktionstechniken. Mit der Gründung von privat geführten Kinderwunschzentren wanderten schließlich auch die führenden Köpfe aus Reproduktionsmedizin und -wissenschaft aus den Universitätskliniken ab. Und mit ihnen ging die Expertise – was nachfolgend mit für die Schließungen und Kürzungen der endokrinologischen und reproduktionsmedizinischen Abteilungen sorgte.

Die drei Säulen der Frauenheilkunde
Welches ist wohl die schwächste der drei Säulen, auf denen die Frauenheilkunde steht? Illustr.: vita.ch / LJ

Ungehörte Klagen

Ein Rückblick zeigt, dass schon um die Jahrtausendwende Klagen laut wurden, dass die Reproduktionsforschung in Deutschland zunehmend schwach aufgestellt sei. Im Jahr 2004 schrieben die Regensburger Ärztin Monika Bals-Pratsch et al. dazu im Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie: „Die gynäkologische Endokrinologie und Reproduktionsmedizin ist seit Jahren mit zunehmender Tendenz an deutschen Universitätsfrauenkliniken unterrepräsentiert. […] Es besteht Handlungsbedarf.“ Im Detail prangerten sie eine auffallend niedrige Publikationstätigkeit sowie mangelnde Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten an. Zudem enthüllte eine Befragung bereits zu diesem Zeitpunkt, dass der Fachbereich selbst dort beschnitten wurde, wo er an Universitäten oder Kliniken noch vorhanden war. So arbeiteten Fachärztinnen und Fachärzte etwa vermehrt auch in anderen Disziplinen.

Der Trend zum Abbau der endokrinologischen und reproduktionsmedizinischen Abteilungen innerhalb der universitären Strukturen hielt jedoch an. Mahnungen und Klagen der Fachgesellschaften wie zum Beispiel der Deutschen Gesellschaft für Reproduktionsmedizin (DGRM) und der Arbeitsgemeinschaft universitärer reproduktionsmedizinischer Zentren (URZ) blieben ungehört.

Mangelhafte Qualität in Lehre und Versorgung

Bis heute hat sich die Situation noch weiter verschlechtert. Von den 2002 vorhandenen zwölf Lehrstühlen sind nur noch drei erhalten geblieben. Erforderliche Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten, beispielsweise im Rahmen einer Facharztausbildung, können schon seit vielen Jahren nicht mehr angemessen bereitgestellt werden. Diese werden stattdessen auch von niedergelassenen Expertinnen und Experten angeboten, die Universitäten beteiligen sich allenfalls nur noch. In einer Stellungnahme des Ordinarienkonvents von 2015 wird auch die Qualität der Patientinnen-Versorgung bemängelt: „Viele Kollegen verfügen auch nach abgeschlossener Facharztausbildung nicht über ausreichende Kenntnisse auf dem Gebiet der Endokrinologie und Reproduktionsmedizin, um ihre Patientinnen kompetent zu betreuen“ (Geburtshilfe und Frauenheilkunde 75(12): 1203-5).

Ein Blick in die benachbarte Schweiz hingegen zeigt: Es geht auch besser. Dort sind die gynäkologische Endokrinologie beziehungsweise Reproduktionsmedizin an allen fünf Universitätsspitälern vertreten. Zwar ist die Versorgung nicht immer mit einer Professur verbunden und die Abteilungen sind nicht immer eigenständig, aber es gibt keine flächendeckende Lücke wie es in fünf deutschen Bundesländern der Fall ist.

Die Stärkung der dritten Säule der Frauenheilkunde in den universitären Strukturen ist allerdings nicht nur deshalb wichtig, weil dort auch die niedergelassenen Reproduktionsmedizinerinnen und -mediziner von morgen ausgebildet werden. Auch die Unabhängigkeit der Forschung innerhalb eines Forschungsfeldes sowie ein Einblick in dessen gesamte Breite sind wichtige Qualitätsmerkmale wissenschaftlicher Praxis. Schließlich adressiert die Reproduktionsforschung ganz generell den Erhalt oder die Wiederherstellung der reproduktiven Gesundheit. Das ist weit mehr als nur das, was im Rahmen einer Kinderwunschbehandlung nötig und wichtig ist. Entsprechend bildet die Ursachenforschung bei In- oder Subfertilität nur einen Teil der Reproduktionsmedizin ab. Beispielsweise hängen auch zum Teil sehr komplexe Krankheitsbilder wie Endometriose, das polyzystische Ovariensyndrom (PCOS) oder auch Myombildungen sehr eng mit der weiblichen Fruchtbarkeit zusammen.

Ein weites Forschungsfeld

Doch nicht nur bei diesen Themen bildet die Reproduktionsmedizin wichtige Schnittmengen mit anderen Disziplinen. Gleiches gilt etwa für Aspekte wie den Zusammenhang von Ernährung und Nahrungsergänzungsmitteln auf Zykluslänge und -regelmäßigkeit oder den Einfluss von Übergewicht auf die Fruchtbarkeit. Oder für die Forschung zu den Einflüssen bestimmter Umweltgifte auf die körperliche Entwicklung im Zusammenhang mit In- oder Subfertilität. Solche Stoffe gelangen oftmals als Rückstände aus Industrie oder Landwirtschaft in die Umwelt und interagieren als sogenannte endokrine Disruptoren mit der Wirkung von fortpflanzungsrelevanten Hormonen. Bekannt sind etwa Substanzen wie Bisphenol A oder Phthalate, für die bereits eine Wirkung auf die Keimzellbildung nachgewiesen wurde. Für andere Stoffe, wie beispielsweise einige per- oder polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS), laufen die Untersuchungen noch.

Da die Reproduktionsforschung Themen entlang eines Lebenszyklus von Kinder- und Jugendgynäkologie bis hin zur Menopause umfasst, grenzt sie natürlich ebenso an weitere Fachgebiete der Frauenheilkunde an. Aber auch eine Überschneidung mit zentralen Fragen rund um die männliche Fruchtbarkeit ist gegeben. Beispielsweise ist gerade bezüglich endokriner Disruptoren oder bei der Fragestellung, wie sich Alterungsprozesse auf die Fertilität auswirken, eine vernetzte und vergleichende Forschung an beiden Geschlechtern sinnvoll.

Dazu kommt, dass es auch jenseits gynäkologischer Tumoren noch weitere Schnittstellen zur Onkologie gibt – etwa im Zusammenhang damit, wie Fruchtbarkeit nach oder während einer onkologischen Behandlung erhalten beziehungsweise wiedererlangt werden kann.

Und schließlich befasst sich die Reproduktionsforschung auch über den Lebenszyklus hinaus mit der Frage, welche Auswirkungen Fruchtbarkeitsbehandlungen oder assistierte Reproduktionstechniken auf das nachfolgende Leben haben könnten. Welche Einflüsse haben zum Beispiel die Nährmedien, in denen sich die Zygoten etwa fünf Tage lang bis zur Übertragung in den Uterus befinden, auf die spätere Entwicklung des Kindes? Einer solchen Fragestellung geht man etwa im Rahmen der Erforschung von embryonaler beziehungsweise fötaler Programmierung nach – einem Aspekt der reproduktionsmedizinischen Forschung, der sich demnach an die Pädiatrie und Neonatologie anschließt.

Die Komplexität des breiten Forschungsfeldes der gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin macht deutlich: Eine enge Vernetzung mit angrenzenden Fachgebieten und die Einbindung in universitäre Strukturen ist sinnvoll und wichtig. Reproduktionsforschung ist in besonderem Maße interdisziplinär und hat Berührungspunkte zu vielen anderen Forschungsgebieten.

Das „Netzwerk Reproduktionsforschung“

Mit der Forderung, die bestehenden Strukturen zu verbessern und die Position der gynäkologischen Endokrinologie und der Reproduktionsmedizin zu stärken, haben sich schon in der Vergangenheit Fachverbände sowie einzelne Vertreterinnen und Vertreter des Faches zu Wort gemeldet.

Unabhängig davon schlossen sich 2019 zehn Forscherinnen und Forscher zum „Netzwerk Reproduktionsforschung“ zusammen, um mit einer Reihe von konkreten Vorhaben die Verbesserung der unbefriedigenden Lage ihres Fachgebiets voranzutreiben. Ihr Hauptziel ist die Stärkung der universitären Forschung durch Initiierung von Forschungsprogrammen sowie die Schaffung von Fördermöglichkeiten für den wissenschaftlichen Nachwuchs des Faches. Den Fokus legt das Netzwerk auf die Forschungsbereiche der reproduktiven Gesundheit und schließt dabei die interdisziplinäre Grundlagenforschung in Biologie, Veterinärwissenschaft und Medizin mit ein. Des Weiteren wollen die Mitglieder des Netzwerks die Kommunikation und den Austausch innerhalb der Forschungsgemeinde fördern und auch die Interaktion mit europäischen und internationalen Initiativen stärken. Auch die Verbesserung der Sichtbarkeit ihres Fachgebiets in der öffentlichen Debatte und hinsichtlich politischer Entscheidungen ist ein erklärtes Ziel der Mitglieder.

„Wir müssen mit vielen alten Vorstellungen aufräumen “, sagt Jörg Gromoll vom Centrum Reproduktionsmedizin und Andrologie am Universitätsklinikum Münster und Mitbegründer des Netzwerks. „Unfruchtbarkeit ist nicht immer die Schuld der Frau, ist von der Natur nicht gewollt und betrifft nicht nur einige wenige“, so Gromoll.

Porträt Jörg Gromoll
Jörg Gromoll, Universitätsklinikum Münster: „Wir müssen mit vielen alten Vorstellungen aufräumen.“ Foto: WWU / Erk Wibberg
Geld von BMBF und DFG

Doch wie könnte die Forschung zur reproduktiven Gesundheit gestärkt werden? Das Netzwerk Reproduktionsforschung setzt hierbei vor allem auf die Schaffung von Forschungsprogrammen und Fördermöglichkeiten für junge Forschende. Ruth Grümmer vom Institut für Anatomie des Universitätsklinikums Essen und selbst Mitglied des Netzwerks Reproduktionsforschung betont, wie wichtig die weitere Förderung im Anschluss an die Promotion ist: „Die Universität kann den jungen Menschen oft keine Perspektiven bieten. Deshalb gehen sie letztlich doch in eine IVF-Praxis.“ Folglich ist es langfristiges Ziel, einen repräsentativen und eigenständigen Fachbereich innerhalb der universitären Strukturen zu etablieren.

Zwei Erfolge kann das Netzwerk schon verbuchen: Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) fördert die Errichtung von Nachwuchszentren. Die Fördermaßnahme erstreckt sich über einen Zeitraum von sechs Jahren und liegt im zweistelligen Millionenbereich. Bei der Gestaltung und der Ausschreibung der Stellen konnte das Netzwerk aktiv mitarbeiten – und so sicherstellen, dass nachhaltig wirksame Strukturen geschaffen werden. Konkret heißt es hierzu in der Bekanntmachung des BMBF vom August 2022: „Ziel der Fördermaßnahme ist es, den Forschungsbereich der reproduktiven Gesundheit in der Universitätsmedizin zur Profilbildung strukturell zu stärken und mehr Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler nach der Promotion in diesem Forschungsbereich zu halten. […] Um wesentliche Fragen der reproduktiven Gesundheit zu beantworten und damit die Versorgung der Betroffenen verbessern zu können, ist insbesondere ein interdisziplinärer Ansatz unter Kooperation von Forschung und Klinik wichtig.“

Gefördert werden Einzelvorhaben, die in der Regel an medizinischen Fakultäten verankert sein sollen, aber auch interdisziplinär mit anderen Wissenschaften arbeiten können. Auch eine Vernetzung mit ethischen, rechtlichen und psychosozialwissenschaftlichen Disziplinen ist denkbar. Nicht gefördert werden Nachwuchszentren, die ausschließlich neue Verfahren zur Reproduktionstechnik entwickeln – sowie solche, die reine Grundlagenforschung ohne translationale Ausrichtung verfolgen oder den Fokus ausschließlich auf rein ethische, rechtliche und soziale Fragstellungen richten.

Die Hoffnung ist, dass es über solche Leuchtturmprojekte gelingt, die entsprechenden Forschungsgebiete neu an Universitäten anzusiedeln. „Wenn die Nachwuchsgruppen gute Ergebnisse liefern, haben die Fakultäten auch ein Interesse daran, das auszubauen. So können langfristig auch Professuren entstehen“, erklärt Gromoll.

Als weitere Fördermaßnahme für den wissenschaftlichen Nachwuchs stellte das Netzwerk einen DFG-Antrag zur Errichtung einer Nachwuchsakademie. Der Antrag mit Fokus auf Alterungsprozesse in der Reproduktion wurde Anfang des Jahres bewilligt und schließt auch die Untersuchung von Nachkommen mit ein. Aus der Bewilligung geht hervor: Gefördert werden junge Forschende bis maximal sechs Jahre nach der Promotion im Rahmen einer FertilAGE-Nachwuchsakademie. Gewährt wird eine einjährige Anschubfinanzierung für ein konkretes Projekt. Während der Förderzeit werden die Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler von Mentorinnen und Mentoren begleitet, die sie darin unterstützen, zunehmend Selbstständigkeit zu entwickeln, um nach Ablauf der Förderung ihr Projekt eigenständig weiterzuführen. Wie die BMBF-Nachwuchszentren startet auch FertilAGE in diesem Sommer.

Porträt Ruth Grümmer
Ruth Grümmer, Universitätsklinikum Essen: „Die Universität kann den jungen Menschen oft keine Perspektiven bieten.“ Foto: EPNS
Reproduktionsforschung im gesellschaftlichen Kontext

Was die Förderung durch öffentliche Gelder betrifft, mussten die Mitglieder des Netzwerks feststellen, dass ihr Fach bis dahin auch für die Entscheidungsträger bei den Fördergebern wenig sichtbar war. „Zuletzt war Reproduktion weitgehend ein fortlaufendes Experiment ohne wissenschaftliche Begleitung“, kommentiert Gromoll. Demnach scheint in Gesellschaft und Politik erst seit kurzem ein Bewusstsein zu reifen, dass eine konkurrenzfähige Reproduktionsforschung tatsächlich eine Investition in die Gesundheit nachkommender Generationen ist.

Deswegen noch ein paar Details dazu: In Deutschland entstanden seit der Geburt des ersten deutschen IVF-Babys 1982 in Erlangen mehr als 100.000 Kinder durch künstliche Befruchtungen. Das reproduktionsbiologisch fortgeschrittene Alter der werdenden Eltern und veränderte Lebensgewohnheiten und Umwelteinflüsse führen in unserer Gesellschaft dazu, dass der Anteil der Kinderwunschbehandlungen stetig ansteigt. In Deutschland liegt er derzeit bei etwa vier Prozent. Statistisch gesehen verteilen sich die Fertilitätsstörungen mit rund 30 bis 40 Prozent gleichmäßig auf Mann und Frau; in den verbleibenden Fällen liegt die Ursache bei beiden Partnern, oder es kann keine Ursache gefunden werden. Die Aufklärung über reproduktive Gesundheit hingegen ist mangelhaft. So ist den meisten jungen Frauen nicht klar, dass ihre Fruchtbarkeit bereits ab dem dreißigsten Lebensjahr abnimmt. Auch die Fruchtbarkeit des Mannes nimmt mit dem Alter ab. Etwa ab dem vierzigsten Lebensjahr stellt man im Schnitt eine abnehmende Spermienproduktion und -qualität fest.

„Vielleicht müssen wir uns selbst ankreiden, dass wir nicht in Lage sind, solche Dinge zu kommunizieren“, greift sich Gromoll an die eigene Nase. Wissenschaftskommunikation ist aber immer ein Zusammenspiel von verschiedenen Akteuren. In Frankreich wird beispielsweise gerade ein breit angelegtes regierungsgefördertes Aufklärungs- und Forschungsförderprogramm etabliert. „Dazu gehören Aufklärungsaktivitäten in der Schule, aber auch Förderung von Forschung“, erklärt Gromoll.

Gesellschaftliche Aufklärung hat daher auch für das Netzwerk Reproduktionsmedizin einen wichtigen Stellenwert. „Unfruchtbarkeit ist eine Volkskrankheit, die nun erstmals in der Menschheitsgeschichte auch vererbt werden kann“, so Gromoll. Er hat Recht. Die Kinder von Eltern, die sich nicht auf natürlichem Wege fortpflanzen konnten, sind nun selbst im fortpflanzungsfähigen Alter. Schon allein deshalb sollten wir anfangen, Unfruchtbarkeit als gesellschaftliche Thematik und nicht als Einzelschicksal zu betrachten. Und wir sollten uns auch mit den Folgen der Behandlungen für die Nachkommen beschäftigen. Ruth Grümmer sagt dazu: „Wie komplex Reproduktionsforschung ist und was man damit vielleicht auch in den Folgegenerationen auslösen kann, das ist in der Gesellschaft nicht präsent.“

Aufklärungskampagnen können helfen, die Wahrnehmung für die Problematik zu schärfen und die Ausgrenzung Betroffener zu verhindern. Denn leider wird Fruchtbarkeit immer noch mit Leistungsgedanken verknüpft, sodass Unfruchtbarkeit bei Frauen und Männern gleichermaßen zu dem Gefühl führt, versagt zu haben. Das müsste nicht so sein, wenn ein breiteres Wissen über die Gründe von Infertilität existieren würde.

Vernetzung als Ziel

Neben den Vorhaben, universitäre Forschung und Lehre zu fördern sowie Gesellschaft und Politik bezüglich reproduktiver Gesundheit zu informieren und zu sensibilisieren, steht aber auch die Vernetzung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst auf der Agenda des Netzwerks für Reproduktionsforschung. Hierzu soll perspektivisch ein Deutsches Zentrum für reproduktive Gesundheit (DZRG) errichtet werden. Da Unfruchtbarkeit als Volkskrankheit zu sehen ist, liegt es nahe, solch ein koordinierendes Zentrum zu schaffen. Für Infektionskrankheiten sowie Tumor-, Herz-Kreislauf- und andere Erkrankungen gibt es sie schließlich schon länger.

Für die Reproduktionsmedizin ist es bis dahin jedoch noch ein langer Weg, auf dem die Akteure des Netzwerks die Unterstützung aus der Politik sowie den Fachverbänden und -gesellschaften sicher gut gebrauchen können.