Editorial

Genregulation in Raum und Zeit

Angela Magin


(15.02.2024) BERLIN: Biologen steuern die Genexpression in sich entwickelnden Hirn-Organoiden – mithilfe von Licht.

Raum und Zeit bestimmen das Leben von Anfang an: Bereits im frühen Embryo entscheidet die Position einer Zelle über ihre Differenzierung. Je nachdem, wo sie liegt, wirken unterschiedliche Faktoren auf sie ein. Gradienten löslicher Signalmoleküle, sogenannter Morphogene, steuern so die Entwicklung.

Diese Steuerung interessiert Ivano Legnini. Während seiner Doktorarbeit an der Sapienza-Universität Rom kam er erstmals zu Nikolaus Rajewsky ans Berliner Institut für Medizinische Systembiologie (BIMSB) des Max-Delbrück-Centrums (MDC). „Als Molekularbiologe wollte ich mehr über Computational Biology und Systembiologie lernen, und Nikolaus’ Labor war ein Pionierlabor in dem Feld“, erinnert sich Legnini. Die Möglichkeiten am MDC und die Arbeit in Rajewskys Gruppe gefielen ihm. Daher kehrte er als Postdoktorand, finanziert durch ein EMBO-Fellowship, zurück nach Berlin, um an einem Projekt zur posttranskriptionalen Regulation zu arbeiten.

Ivano Legnini, Lisa Emmenegger, Alessandra Zappulo und Agnieszka Rybak-Wolf
Gemeinsam kombinierten sie Optogenetik und räumliche Transkriptomik mit Organoid-Modellen:(v.l.n.r.) Ivano Legnini, Lisa Emmenegger, Alessandra Zappulo und Agnieszka Rybak-Wolf. Fotos: Diana Orefice/HT, Felix Petermann/MDC

Editorial
Licht im Inkubator

Bei dem einen Thema blieb es nicht: „Nikolaus und ich trafen uns regelmäßig, um über mögliche Projekte zu sprechen“, erzählt Legnini. Diese Gespräche erwiesen sich als wunderbare Gelegenheit, neue Ideen zu entwickeln: „Eine Sache, die uns beide faszinierte, war es, Genregulation mit räumlicher Auflösung zu kontrollieren.“ Bisherige Methoden erlaubten es nicht, die Genexpression an einem definierten Ort im dreidimensionalen Raum zeitlich präzise zu steuern. Rajewsky schlug vor, dass Optogenetik eine Lösung bieten könne. So nahm ein Projekt seinen Anfang, für das Forschende verschiedener MDC-Abteilungen kollaborierten. Das Resultat der Zusammenarbeit erschien Ende 2023 in Nature Methods (doi.org/gsvs3s).

Das Projekt begann mit Standard-2D-Zellkulturen in 96-Well-Platten, berichtet Legnini: „Als wir das System etablierten, brauchten wir vorerst weder Programmierbarkeit noch räumliche Auflösung. Also baute uns Ricardo Wurmus aus der MDC-Abteilung „Bioinformatik und Omics-Datenwissenschaft“ einen LED-Array für unsere 96-Well-Platten, mit dem wir die Zellen in individuellen Wells gezielt mit Licht stimulieren konnten.“

Beispielsbild ortsaufgelöste Transkriptomik
Ortsaufgelöste Transkriptomik erlaubt es, bis zu Hunderte RNA-Moleküle gleichzeitig zu visualisieren. Mehr dazu in LJ 4/2021 ab Seite 60 - Link. Foto: MDC

Um die Photostimulation auch molekularbiologisch zu verwirklichen, adaptierte Legnini drei durch blaues Licht aktivierbare Genexpressionssysteme. Das erste davon basiert auf einem modifizierten CRISPR-Cas9-System, dessen N- und C-terminale Domänen getrennt – und somit inaktiv – vorliegen und mit je einer der photoinduzierbaren Dimerisierungseinheiten pMag und nMag fusioniert sind. Lichteinwirkung aktiviert Cas9, die nun ihrerseits mithilfe einer Single-Guide (sg)-RNA an eigens von Legnini konstruierte Promotoren bindet und die Transkription einer Expressionskassette über ebenfalls assoziierte Aktivierungsdomänen auslöst. „Als Marker haben wir GFP und NeonGreen verwendet“, erläutert Legnini. „So konnten wir einfach sehen, ob und bei welchen Zellen die Photostimulation funktioniert hat.“ Als Alternative dazu optimierte er lichtinduzierbare TetON- und Cre-Lox-Systeme.

Nikolaus Rajewsky
Von 2016 bis 2023 bot Nikolaus Rajewsky auch seinem Postdoktorand Ivano Legnini ein kreatives Umfeld, um sich experimentell auszutoben. Foto: P. Castagnola

„Für erste Tests leistete das LED-Array gute Dienste“, erinnert sich Legnini, „aber dann brauchten wir höher entwickelte Methoden, denn wir wollten die Photostimulation auf spezifische Bereiche fokussieren, vielleicht sogar auf einzelne Zellen.“ Kurzerhand funktionierte die Arbeitsgruppe in Zusammenarbeit mit Anna Oliveras Martinez aus Robert Zinzens MDC-Abteilung „Systembiologische Bildgebung“ ein konfokales Mikroskop um. Zusammen optimierten die Berliner die Laser-Intensität, die Frequenz und das Timing der Lichtimpulse – und siehe da: Die hohe Auflösung des Mikroskops ermöglichte es tatsächlich, einzelne Zellen zu stimulieren.

„Das war sehr cool“, freut sich Legnini noch immer, gibt jedoch zugleich den Nachteil preis: „Wir hatten damit eine hohe Auflösung für eine definierte Gegend erreicht. Aber was, wenn wir mehrere Regionen oder Proben gleichzeitig stimulieren wollen?“ Ein Lasermikroskop kann nur eine Region beleuchten, was somit aufeinanderfolgende Stimulationen notwendig machte und seine Verwendbarkeit limitierte.

Mit Spiegeln zum Erfolg

„Also entwickelte Andrew Woehler, der damalige Leiter der Lichtmikroskopie-Plattform des MDC, ein digitales Mikrospiegel-Mikroskop, bei dem das Licht durch einen Chip geleitet wird“, erzählt Legnini. „Der Chip enthält Hunderttausende Spiegel, die jeweils nur wenige Mikrometer groß sind und in zwei Stellungen programmiert werden können: flach oder gekippt. Nur in einer Position reflektieren sie Licht. So können wir jede beliebige Form auf die Proben zeichnen.“ Und nicht nur das: Das Mikrospiegel-Mikroskop erlaubt es sogar, Hunderte Proben simultan zu stimulieren.

Die Technik stand also – es konnte losgehen. Gemeinsam mit Rajewsky überlegte sich Legnini sofort die erste Fragestellung: „Können wir Signalwege der Embryonalentwicklung beeinflussen?“ Kurz zuvor hatte Agnieszka Rybak-Wolf als Leiterin der MDC-Technologie-Plattform „Organoide“ die Herstellung von zerebralen Organoiden etabliert. Diese winzigen, hochkomplexen Gebilde entstehen aus Aggregaten pluripotenter Stammzellen und spiegeln die frühe Embryonalentwicklung des Gehirns wider – ein perfektes In-vitro-Modell, um Legninis lichtinduzierte Expressionssysteme am Beispiel eines Morphogens zu testen.

Für den Machbarkeitsnachweis fiel die Wahl auf einen Klassiker: Sonic Hedgehog (SHH). „Das ist ein bekanntes Morphogen, dessen Funktion gut untersucht ist“, begründet Legnini die Entscheidung. SHH reguliert die frühe Entwicklung des Neuralrohrs, die beginnt, wenn ein Wirbeltierembryo lediglich aus einer flachen Scheibe dreier Zellschichten besteht, dem Ekto-, dem Meso- und dem Entoderm. Auf der Mittellinie der Scheibe bildet sich eine Achse, entlang derer sich die ektodermale Schicht einfaltet. Dadurch entsteht eine röhrenförmige Struktur im Inneren des Embryos – das Neuralrohr –, das sich am Vorderende des Embryos dann zum primären Hirnvesikel und dahinter zum Rückenmark entwickelt.

Im Organoid-Modell lassen sich diese Strukturen mit bestimmten Signalmolekül-Cocktails gezielt induzieren. Legnini erklärt: „Wir wollten untersuchen, was während der frühen Entwicklung im Neuralrohr passiert, bei der SHH die Differenzierung des ventral gelegenen Anteils des Rückenmarks steuert. Daher haben wir Organoide verwendet, die den posterioren Teil des Hinterhirns und das Rückenmark repräsentieren.“

Also designten die Berliner spezifische sgRNAs für ihr CRISPR-Cas9-System, die den endogenen SHH-Promotor aktivieren, und stimulierten die Organoide mit Licht. Eine diffizile Aufgabe, sagt Legnini: „Zu dem Zeitpunkt, an dem wir die Genexpression beeinflussten, waren die Organoide nur einen Millimeter groß und sehr weich. Für die Photostimulation musste man sie extrem still halten, was eine Menge Optimierung und technische Fähigkeiten erforderte.“ Lisa Emmenegger aus Rajewskys Team und Alessandra Zappulo aus der MDC-Abteilung „Systembiologie der Differenzierung von neuronalen Zellen und Geweben“ übernahmen hierbei die Federführung. Unter dem Stereomikroskop manipulierten sie die Organoide mithilfe von Glas- und Plastikpipetten.

Photoaktivierung: Check!

Nach der Photostimulation wurde es spannend: Hatte die Aktivierung funktioniert? In der Tat zeigten Marker für die ventrale Region des Neuralrohrs wie beispielsweise FOXA2 in Immunfluoreszenz-Aufnahmen von Organoid-Schnitten die erwarteten Muster – sowohl in stimulierten Regionen als auch um diese herum. SHH hatte also Rezeptoren auf Nachbarzellen abhängig vom räumlichen Abstand aktiviert.

Für eine globale Untersuchung per RNA-Sequenzierung dissoziierten Zappulo und Rybak-Wolf die Organoide in Einzelzellen. Bei der Datenanalyse entdeckten sie Cluster von Zellen mit unterschiedlichen Expressionsmustern, denen sich je ein bestimmter Differenzierungsstatus zuordnen ließ. „Natürlich wussten wir so aber nicht, an welcher Stelle im Organoid sich die einzelnen Zellen befunden hatten“, gibt Legnini zu. Deshalb kombinierte das Team die Optogenetik mit räumlicher Transkriptomik. „Mittels Multiplex-Fluoreszenz-in-situ-Hybridisierung (Multiplex-FISH) konnten wir Tausende Transkripte im intakten Gewebe nachweisen, und zwar einfach in Gewebeschnitten“, ist der Biologe begeistert – und erklärt: „Bei der Multiplex-FISH werden mehrere Hybridisierungsrunden mit spezifischen Sonden durchgeführt. Für jedes Transkript gibt es multiple, an Barcodes gekoppelte Sonden. Aus den Kombinationen der Barcodes lässt sich dann ableiten, welches Transkript wo vorhanden war.“ Im Wesentlichen gleiche die Methode der bekannten FISH, sagt Legnini, „nur eben mit Hunderten oder gar Tausenden Transkripten gleichzeitig“.

Die Berliner beschränkten sich auf den Expressionsnachweis von 88 Genen. „So fanden wir heraus, dass Zellpopulationen unterschiedliche Markergene exprimierten, und zwar je nach Entfernung von der SHH-Quelle und in genau dem Muster, das man im sich entwickelnden Neuralrohr erwartet“, fasst Legnini die Ergebnisse des Mammutprojekts zusammen.

Farbenfrohe Zukunft

Mit seiner eigenen Arbeitsgruppe an der Human Technopole in Mailand wendet Ivano Legnini seit März 2023 seine Methode auf neue Zielgene an: „Wir arbeiten jetzt mit vielen anderen Faktoren, auch solchen, die weit weniger verstanden sind als SHH.“ Außerdem möchte er die Auflösung des digitalen Mikrospiegel-Mikroskops weiter steigern und andere Lichtquellen nutzen: „Das blaue Licht, das wir zur Stimulation verwendet haben, penetriert nicht sehr tief in biologischen Geweben. Rotes Licht dringt weiter ein, bis in den Millimeter-Bereich.“ Seine aktuellen Ziele sind daher molekulare Werkzeuge, die rotes Licht zur Stimulation nutzen, und vielleicht irgendwann sogar ein Multicolor-Set-up, um verschiedene Gene zeitgleich zu beeinflussen.

Fünf Personen arbeiten bereits in seinem Labor an den ersten Experimenten, berichtet Legnini stolz. Er selbst pendelt nicht mehr zwischen Berlin und Mailand, was er mit einem lachenden und einem weinenden Auge sieht: „Ich vermisse Deutschland, aber die Deutsche Bahn vermisse ich nicht!“ Den guten Kontakt zum MDC Berlin hält er über Kollaborationen und gemeinsame Forschungsanträge aufrecht: „Ich habe so viele Jahre in Berlin gelebt, ich fühle mich dort zuhause.“