Editorial

Plädoyer für einen kritischen Blick auf die Sozial- und Verhaltensgenomik

Isabelle Bartram, Tino Plümecke, Peter Wehling


(15.02.2024) Eine Replik auf die Besprechung des Buches „Die Gen-Lotterie“ von Kathryn Paige Hayden (LJ 10/2023: 61, „Plädoyer für die Verhaltensgenetik“)

Im Oktober 2023 erschien im Laborjournal eine sehr positive Besprechung des Buches „Die Gen-Lotterie“ der US-amerikanischen Psychologin Kathryn Paige Harden (Link). Harden ist nicht nur eine prominente Vertreterin der Zwillingsforschung, sondern auch eine Protagonistin des in den letzten Jahren neu entstandenen Forschungsfeldes der Soziogenomik oder Sozial- und Verhaltensgenomik. Anders als die Laborjournal-Rezensentin finden wir, dass Hardens Buch aus wissenschaftlicher Sicht vor allem kritisch zu sehen ist – und dass vor allem insbesondere die bildungspolitischen Maßnahmen, die darin als Fazit vorgeschlagen werden, als gefährlich zu bewerten sind. Wir, eine Biologin und zwei Sozialwissenschaftler, nehmen das Buch und die Besprechung daher zum Anlass, einige problematische Aspekte der vermeintlich innovativen Soziogenomik zu erörtern, und möchten dazu anregen, dieses Forschungsfeld sowohl methodisch-konzeptionell zu hinterfragen wie auch sich mit dessen möglichen gesellschaftlichen Effekten intensiv auseinanderzusetzen.

Wasserfarben-Bild von 2 Erwachsenen und 1 Kind, Körper eines Erwachsenen zur DNA-Doppelhelix stilisiert
Illustration kreiert via Craiyon

Der von Harden und anderen vertretene, neueste Versuch, die wesentliche Ursache für individuelle Unterschiede in Bezug auf alle möglichen menschlichen Eigenschaften – von Risikoverhalten, politischer Einstellung und Sexualität bis hin zu Alkoholismus – in den Genen zu suchen, nennt sich Sozial- und Verhaltensgenomik oder Soziogenomik (Sociogenomics, Social Science Genomics). Soziogenomik erhebt den Anspruch, sowohl die Schwächen aller früheren Versuche, Soziales durch biologische Faktoren zu erklären, überwinden zu können als auch deren fatale politische Implikationen – wie etwa genetischen Determinismus, Sozialdarwinismus, Eugenik oder Rassismus – zu vermeiden.

Mit solchen Behauptungen ist die Soziogenomik auch in wichtigen Teilen der deutschen Sozialwissenschaften auf Resonanz gestoßen: So ist vor Kurzem in das Sozio-Oekonomische Panel (SOEP), welches die größte, auch international beachtete Langzeitstudie zu gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland umfasst, ein Teilprojekt integriert worden, worin von den Teilnehmenden zusätzlich zur Erhebung biographischer Daten eine Speichelprobe für genetische Analysen genommen wird [1]. Dieses Teilprojekt firmierte zunächst unter dem Namen „Gene-SOEP“, wird inzwischen aber etwas verklausuliert als „SOEP-G“ bezeichnet. Organisiert und ausgewertet wird das Projekt durch ein Wissenschafts-Konsortium mit Beteiligten aus Deutschland, den Niederlanden, der Schweiz und den USA, dem auch Kathryn Harden angehört. Mithilfe der Genomdaten soll jeweils ein erblicher Einfluss auf die individuelle Ausprägung von 55 teils gesundheitsbezogenen, teils sozio-kulturellen menschlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen (Traits) identifiziert und quantifiziert werden – darunter beispielsweise der Konsum von Cannabis, Tabak und Alkohol, das Alter von Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes, das Bildungsniveau und die religiöse Betätigung.

Im angloamerikanischen Sprachraum, und insbesondere in den USA, wird das Aufkommen der Soziogenomik seit einigen Jahren von einer recht intensiven innerwissenschaftlichen wie öffentlichen Auseinandersetzung begleitet, in der über die Möglichkeiten und Grenzen sowie die Vorteile und Gefahren dieser Forschungsperspektive verhandelt wird. Wie schon in den 1970er-Jahren bei der Kritik an verhaltensgenetischen Verlautbarungen über angeblich erblich bedingte Intelligenzunterschiede zwischen schwarzen und weißen Menschen beteiligen sich auch jetzt wieder Vertreterinnen und Vertreter aus Genetik, Medizin, Psychologie und Statistik an der Debatte und hinterfragen die Methodik der Soziogenomik, ihre wissenschaftliche Qualität sowie ihre Aussagekraft für soziale Phänomene [2]. Wir halten diese kritische Auseinandersetzung auch innerhalb der deutschsprachigen Lebens- und Sozialwissenschaften für dringend notwendig und möchten mit diesem Artikel einen Beitrag dazu leisten.

Möglich geworden ist das neue Modell der Soziogenomik durch technische Entwicklungen, insbesondere durch die in den letzten Jahren drastische Kostensenkung bei Genomsequenzierungen samt den zugleich enorm gestiegenen Rechenkapazitäten bei der Auswertung genomischer Daten. Mithilfe von Genome-Wide Association Studies (GWAS) und Polygenic Scores (PGS), so schreibt Harden gemeinsam mit dem „Genökonomen“ Philipp Köllinger von der Universität Amsterdam, könne die Einbeziehung genetischer Daten in die Sozialwissenschaften jetzt – und erst jetzt – „reichhaltigere und präzisere Antworten auf alte Fragen in Psychologie, Soziologie, Ökonomie und anderen verwandten Feldern liefern“ („ ... deliver richer, more precise answers to old questions in psychology, sociology, economics and related fields“) [3]. Gleichzeitig beteuern die Protagonisten der Soziogenomik immer wieder, ihr Ziel sei es gerade nicht, bestimmte Menschen und Gruppen wegen ihrer vermeintlich schlechten genetischen Dispositionen zu stigmatisieren und zu diskriminieren. Ganz im Gegenteil gehe es darum, den in der „Gen-Lotterie“ Benachteiligten Unterstützung und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Harden bezeichnet die Soziogenomik in ihrem Buch sogar als ein „antieugenisches Projekt“.

Grenzen und Gefahren der Methodik

Schauen wir uns daher im Folgenden die Methoden der Soziogenomik an – und fragen, ob sie tatsächlich die Erkenntnisse liefern können, die versprochen werden. Zugleich möchten wir die Behauptung überprüfen, dass die Soziogenomik mit ihren Ergebnissen zu einer gerechteren Gesellschaft beitragen könnte.

Das zentrale Paradigma der Soziogenomik – die Heritabilität von Verhaltensmerkmalen – stammt aus der Verhaltensgenetik und Zwillingsforschung. Unter Heritabilität wird hier das Maß der Erblichkeit von Merkmalsvarianzen verstanden – also der Anteil, zu dem Ausprägungsunterschiede eines Merkmals auf genetische Variationen zurückgeführt werden können. Heritabilitätsschätzungen beruhen in der Zwillingsforschung auf statistischen Vergleichen von genetischen Daten mit Verhaltensdaten bei eineiigen und zweieiigen Zwillingen sowie bei adoptierten und nicht-adoptierten (Zwillings-)Geschwistern. Unterstellt wird, dass die genetische Komponente unter Kenntnis der verschiedenen Verwandtschaftsgrade und der jeweiligen sozialen Umwelten der Probandinnen und Probanden berechenbar sei. Wie in der umfangreichen Kritik an Zwillingsstudien herausgearbeitet wurde, werden dabei sehr hohe und sicherlich stark überhöhte Heritabilitätswerte von durchschnittlich fast 50 Prozent ermittelt, da die Umwelteinflüsse systematisch unterbewertet werden.

Soziogenomische Studien verlassen sich jedoch nicht allein auf Zwillingsforschung, sondern verwenden Genomdaten von großen Kohorten – etwa aus der UK Biobank –, um die Erblichkeit in Form von sogenannten Polygenic Scores (PGS) von Merkmalsunterschieden zu berechnen. Seit 2005 werden in unzähligen GWAS winzige genetische Abweichungen (Single Nucleotide Polymorphisms, SNPs), die sich trotz rund 99,9-prozentiger Übereinstimmung aller Menschen in jedem individuellen Genom finden, auf statistische Zusammenhänge mit Unterschieden in Krankheitsverläufen, Verhaltensweisen oder Eigenschaften hin untersucht. Die Studien fanden tausende SNPs, die jeweils nur minimal mit einzelnen Eigenschaften korrelieren. Da jedes SNP alleine jedoch nur einen extrem geringen statistischen Effekt hat, bestand der nächste Schritt darin, zigtausende oder teilweise sogar Millionen von SNPs zu PGS zusammenzufassen.

Die bei der Ermittlung von PGS verwendeten Methoden sind vor allem in der Tier- und Pflanzenzüchtung entwickelt worden. Dort dienen PGS (unter der Bezeichnung „Estimated Breeding Value“) beispielsweise dazu, anhand genetischer Daten den zukünftigen Milchertrag potenzieller Nachkommen eines Zuchtbullen vorherzusagen. Diese Methoden zur Prognose von Zuchterfolgen werden in der Soziogenomik auf vielfältige soziale Merkmale von Menschen übertragen. Mittels PGS soll abgeschätzt werden, wie hoch der erbliche Einfluss auf die Ausprägung einer bestimmten Eigenschaft ist. Auch hier sind die statistisch ermittelten Werte allerdings sehr niedrig, sowohl im Vergleich mit den Heritabilitätsschätzungen aus der Zwillingsforschung als auch mit sozioökonomischen Daten, die für Prognosen sozialer Merkmale wie Bildungserfolg herangezogen werden. Im Gene-SOEP lag beispielsweise der errechnete statistische Einfluss des aus über einer Million SNPs zusammengesetzten PGS auf Unterschiede im Bildungsstand der Probandinnen und Probanden bei nur rund neun  Prozent. Weniger als ein Zehntel der Varianz im Bildungserfolg korreliert also mit genetischen Daten.

Andere Studien ergeben ein ähnliches Bild. Doch statt ihre Methodik und ihre Prämissen zu überdenken, argumentieren die Vertreterinnen und Vertreter der Soziogenomik, es bräuchte lediglich mehr Forschungsgelder, um mit noch mehr Testpersonen noch mehr Daten zu gewinnen – dann würde sich die Aussagekraft von PGS schon erhöhen.

Besonders zu betonen ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass soziogenomische PGS nichts über kausale Zusammenhänge aussagen. Die einbezogenen SNPs beeinflussen in der Regel nicht oder zumindest nicht direkt die Ausprägung einer Eigenschaft. Sie befinden sich oft lediglich in der Nähe von Genomabschnitten, die mutmaßlich Einfluss auf die jeweilige Eigenschaft ausüben. Vor allem bezogen auf komplexe menschliche Eigenschaften wie Intelligenz oder Schulerfolg bleiben die kausalen Zusammenhänge zwischen genetischer Variation und der Ausprägung eines Merkmals jedoch völlig ungeklärt [4].

Zudem ist weiterhin festzuhalten, dass sich der örtliche Zusammenhang zwischen spezifischen SNPs und bestimmten Genabschnitten durch die Rekombination des Erbguts von einer Generation zur nächsten verändern kann. Die Aussagekraft eines PGS hängt daher vom genetischen Verwandtschaftsgrad der analysierten Individuen ab: Je weiter entfernt die Verwandtschaft ist oder je heterogener die jeweiligen Herkünfte sind, desto geringer wird der prognostische Aussagewert des PGS.

In der Tier- und Pflanzenzüchtung werden PGS daher nur in einzelnen Zuchtlinien über wenige Generationen angewandt, da die zugrunde liegenden Genomdaten sich sonst zu sehr unterscheiden und rein zufällige Zusammenhänge zu erwarten sind. Beim Menschen kommt hinzu, dass bei Personen, deren genetische Verwandtschaft geringer ist, sich häufig auch die jeweiligen Umweltbedingungen – wie etwa Ernährung, Sozialstruktur, Gesundheitssystem – deutlicher voneinander unterscheiden, was die Einflüsse auf die untersuchten Verhaltensmerkmale kaum mehr kontrollierbar macht.

Die methodische Anforderung, möglichst ähnliche Genome in die Konstruktion von PGS einzubeziehen, versuchen soziogenomische Studien wie das Gene-SOEP dadurch zu erfüllen, dass sie sämtliche Testpersonen genetisch auf ihre „Abstammung“ hin untersuchen und bei Vorliegen einer „non-European ancestry“ von der weiteren Analyse ausschließen. Dies macht eine zusätzliche Problematik soziogenomischer Forschung sichtbar, nämlich ihre nach wie vor bestehende Nähe zu ethnisierenden und rassifizierenden Kategorien, obwohl auch Genetikerinnen und Biologen immer wieder betonen, dass menschliche „Rassen“ kulturelle Konstrukte und keine biologischen Gegebenheiten sind – beispielsweise in der Jenaer Erklärung von 2019.

Die in der Soziogenomik vorgenommene Abgrenzung homogener Abstammungsgruppen ist nicht nur methodisch fragwürdig, sondern kann in der Rezeption auch zu gefährlichen Fehlschlüssen führen. Diese Problematik zeigt sich auch in der Besprechung von Hardens Buch. Die Rezensentin, eine promovierte Biologin, schreibt, „Vergleiche zwischen Gruppen, beispielsweise mit verschiedener ethnischer Zugehörigkeit, sind dagegen nicht zulässig, weil in unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Gene eine Rolle spielen (können)“. Aber nicht die Gene, die mutmaßlich die Ausprägung einer bestimmten Eigenschaft beeinflussen, sind unterschiedlich, sondern lediglich die in den PGS verwendeten SNPs als Marker für diese Gene, deren Aussagekraft, wie oben geschildert, mit abnehmendem Verwandtschaftsgrad sinkt. Das Missverständnis der Methode lässt jedoch die fatale Vorstellung entstehen, in „Gruppen (…) mit verschiedener ethnischer Zugehörigkeit“ seien jeweils unterschiedliche Gene wirksam.

Die Verwechslung von Korrelation und Kausalität

Wer in der Soziogenomik aktiv forscht, weiß sicher, so wie alle anderen, die sich mit statistischen Korrelationen befassen, dass diese noch keine Kausalität bedeuten. Dennoch findet sich in soziogenomischen Darstellungen eine überraschende Fülle impliziter und expliziter kausaler Verknüpfungen. Harden und Köllinger proklamieren etwa, dass „genetische Effekte die meisten Dimensionen individueller Unterschiede beeinflussen, die in den Sozialwissenschaften von Interesse sind („ ... genetic effects influence most dimensions of individual differences that social scientists care about”). Damit setzen sie behauptend schon voraus, was eigentlich erst mittels geeigneter Studien zu prüfen wäre.

In eben diesem Sinne schreibt Harden in ihrem Buch, „dass genetisch bedingte Unterschiede zwischen Menschen die Ursache für soziale Ungleichheit sind“, dass also genetische Variationen zu Unterschieden „in Bezug auf Bildungsabschlüsse, aber auch in Bezug auf körperliche Phänomene wie den Body Mass Index (BMI), psychologische Probleme wie die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung ADHS und andere psychische Störungen sowie mit der Reproduktion zusammenhängende Dinge wie das Alter bei der ersten Geburt“ führten. Harden stellt die berechneten Korrelationen zwischen SNPs und Verhaltensmerkmalen als Ausdruck des behaupteten ursächlichen Zusammenhangs dar.

Der bedenkliche Effekt dieser falschen Überbewertung der Genetik zeigt sich ebenfalls in der Interpretation von Hardens Buch durch die Rezensentin im Laborjournal. Die darin präsentierten Ergebnisse bestätigen angeblich, was laut der Autorin „nur logisch“ erscheint: Für Erfolg hilfreiche Eigenschaften wie Intelligenz, Hartnäckigkeit und Konzentrationsfähigkeit würden „naturgemäß durch Kombinationen von Erbanlagen bestimmt“, so die Rezensentin. Eine recht bescheidene Korrelation von genetischen Daten und menschlichen Merkmalen – wie beschrieben werden im Gene-SOEP beispielweise nur rund neun Prozent der Varianz von Bildungserfolg erfasst – ist hier auf einmal der bestimmende Faktor geworden. Trotzdem werden die Aussagen der Soziogenomik offensichtlich als eingängig, „naturgemäß“ und „logisch“ wahrgenommen, bestätigen sie doch die weit verbreitete Vorstellung davon, weshalb einige Menschen arm sind und andere reich: Sie selbst beziehungsweise ihr gutes oder schlechtes Erbgut seien schuld, nicht gesellschaftliche Strukturen und Machtverhältnisse. Solche Fehldeutungen verdeutlichen die Brisanz der soziogenomischen Forschungsergebnisse und die Notwendigkeit einer präzisen Fragestellung, Hypothesenbildung und Wissenschaftskommunikation.

Verantwortung statt Naivität

Wie der US-amerikanische Pflanzengenetiker Kevin Bird in seiner kritischen Rezension von „Die Gen-Lotterie“ ausführt [5], ignoriert Harden die personellen, methodischen und konzeptionellen Kontinuitäten zwischen der Eugenik des frühen 20. Jahrhunderts und der heutigen Soziogenomik. Zudem bleibt bei ihr völlig unbeantwortet, wie verhindert werden soll, dass das Wissen um die vermeintlich so wirkungsvollen genetischen Unterschiede zwischen Menschen in kapitalistischen Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaften nicht genau jene Diskriminierungseffekte hervorbringt, denen die Erhebung genetischer Daten angeblich gerade entgegenwirken soll. Glauben die Vertreterinnen und Vertreter der Soziogenomik allen Ernstes, dass – wie etwa Harden meint – der Hinweis auf die Zufälligkeit der genetischen „Lotterie“, also darauf, dass kein Mensch für seine individuelle genetische Ausstattung „etwas kann“ [6], ausreiche, um die Menschen mit scheinbar schlechten genetischen „Scores“ vor Stigmatisierung und Diskriminierung zu schützen und darüber hinaus sogar gesellschaftliche Solidarität und sozialstaatliche Unterstützungsleistungen für sie zu mobilisieren?

Um diese Problematiken und die Kontinuitäten von der Eugenik zu den aktuellen Forschungsarbeiten der Soziogenomik nachzuvollziehen, ist das Buch „Misbehaving Science“ des US-amerikanischen Soziologen Aaron Panofsky über die Geschichte der Verhaltensgenetik zu empfehlen. Wissenschaft ist, so wird darin deutlich, nicht neutral oder unpolitisch, wenn sie Vorschläge für bildungspolitische Maßnahmen machen will – und muss sich auch mit den Konsequenzen ihrer Aussagen befassen. Tatsächlich aber zeigt sich in der Soziogenomik eine geradezu sträfliche Vernachlässigung der gesellschaftlichen Kontexte und der Implikationen, die die eigene Forschung und ihre mögliche Umsetzung haben können.

Nehmen wir das auch in Hardens Buch prominente Beispiel des Bildungserfolgs: Gänzlich unklar bleibt, wer die hochgradig sensiblen genetischen Daten wie und wann erheben und nutzen soll. Sollen sämtliche Kinder vor ihrem Schuleintritt genotypisiert werden, um dann gezielt diejenigen fördern zu können, die eine vermeintlich ungünstige genetische Ausstattung aufweisen? Wo und wie lange sollen die genetischen Profile aufbewahrt und gegen Missbrauch gesichert werden? Welchen Personen oder Institutionen sollen sie zugänglich gemacht werden: Eltern, Schulbehörden, den jeweiligen Lehrkräften, spezialisierten Betreuungseinrichtungen? Wie immer diese Fragen im Einzelnen beantwortet werden, es dürfte äußerst schwierig, wenn nicht ganz unmöglich sein, Kinder und Jugendliche mit einem niedrigen „Score“ für Bildungserfolg vor Stigmatisierung und Diskriminierung zu schützen.

Das Ziel und Ideal, das mit der Feststellung genetischer Unterschiede zwischen Menschen erreicht werden soll, ist es laut Harden „Unterschiede ohne Hierarchie“ anzuerkennen. Tatsächlich aber ist es ein Irrglaube, anzunehmen, man könne genetische Differenzen als ausschlaggebenden Faktor für unterschiedliche Befähigungen von Menschen markieren, ohne damit soziale Hierarchien zu etablieren. Menschen nach ihren genetischen Dispositionen (niedriger beziehungsweise hoher PGS) für sozial erwünschte Eigenschaften (kognitive Leistungsfähigkeit et cetera) zu kategorisieren, ist bereits per se eine Hierarchisierung und Abwertung der genetisch vermeintlich weniger Begünstigten. Dass Soziogenomikerinnen und -genomiker wie Kathryn Harden offensichtlich nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, diese Implikationen ihrer Forschung wahrzunehmen und angemessen zu reflektieren, ist ein schwerwiegender Einwand gegen diese Art der Forschung – wie auch gegen deren Versprechen, auf diese Weise soziale Gerechtigkeit und die Anerkennung gesellschaftlicher Diversität erreichen zu können.

Isabelle Bartram
Biologin, Universität Freiburg

Tino Plümecke
Soziologe, Universität Freiburg

Peter Wehling
Soziologe, Universität Frankfurt am Main