Editorial

Buchbesprechung

Larissa Tetsch


Buchcover: Die Gen-Lotterie – Wie Gene uns beeinflussen

Kathryn Paige Harden:
Die Gen-Lotterie – Wie Gene uns beeinflussen
Herausgeber: Hogrefe AG; 1. Auflage 2023 (12. Juni 2023)
Sprache: Deutsch
Taschenbuch: 304 Seiten
ISBN-10: 3456862423
ISBN-13: 978-3456862422
Preis Taschenbuch: 34,95 Euro

Plädoyer für die Verhaltensgenetik

(11.10.2023) Unsere Gene beeinflussen unseren Erfolg im Leben. Diese Erkenntnis kann helfen, soziale Ungleichheiten zu minimieren.

Es ist ein schwieriges Thema, daraus macht Kathryn Paige Harden keinen Hehl: Wenn man Gene und Vererbung mit Begriffen wie Erfolg, Reichtum und Bildung oder mit Drogensucht und Arbeitslosigkeit in Verbindung bringt, gerät man schnell in den Verdacht, die Gleichwertigkeit von Menschen anzuzweifeln. In „Die Gen-Lotterie“ nimmt sich die Autorin, die an der University of Texas eine Professur für klinische Psychologie innehat, Zeit zu erklären, warum Genetik und Egalitarismus nicht im Widerstreit stehen müssen und wie die Erkenntnisse der Genforschung sogar helfen können, soziale Ungleichheit zu reduzieren. Dabei geht sie auch auf die Bestrebungen der Eugenik ein, die nicht nur im nationalsozialistischen Deutschland, sondern auch in den Vereinigten Staaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ungewollte Erbanlagen gezielt ausmerzen sollten. Tatsächlich wird Harden für ihre Forschung teilweise selbst mit Holocaust-Leugnern auf eine Stufe gestellt. Mutig, dass sie das „heiße Eisen“ trotzdem anfasst und in ihrem Buch den Versuch unternimmt, die Erkenntnisse seriöser Genforschung einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Fast liest sich „Die Gen-Lotterie“ wie eine Rechtfertigung ihres Forschungsgebiets.

Die alte Frage: Gen oder Umwelt?

Eigentlich ist die Grundaussage des Buches nur logisch: Erfolg definieren wir meist über Wohlstand, der wiederum häufig mit dem Bildungsabschluss korreliert. Dafür hilfreiche Eigenschaften wie Intelligenz, Hartnäckigkeit und Konzentrationsfähigkeit werden naturgemäß durch Kombinationen von Erbanlagen bestimmt. Allerdings ist der Anteil einzelner Gene bei solchen komplexen Eigenschaften meist nur sehr klein und kann deshalb nur schwer gemessen werden. Hinzu kommt, dass das soziale Umfeld die Entwicklung von Kindern und ihren späteren Erfolg ebenfalls beeinflusst. Dabei sind die Einflüsse der Gene und der Umwelt so miteinander verknüpft, dass sie sich kaum trennen lassen. So geben erfolgreiche Eltern mit großer Wahrscheinlichkeit Gene an ihre Nachkommen weiter, die diese für Erfolg prädestinieren. Gleichzeitig schaffen die Eltern aber vermutlich ein dem Lernen förderliches Umfeld, indem sie ihrem Nachwuchs eine positive Arbeitseinstellung vermitteln, bei den Hausaufgaben helfen und gerne den freiwilligen Sprachkurs oder den Museumsbesuch bezahlen. Um genetische und Umwelteffekte auseinanderzuhalten, sind Zwillingsstudien das Mittel der Wahl. Harden ist selbst Kodirektorin des Texas Twin Projects, das die Lebenswege von Mehrlingen miteinander vergleicht, und stellt viele Erkenntnisse dieses Forschungszweigs vor. Damit widmet sich der erste Teil des Buches vor allem der Bedeutung von Genen bei der Entstehung von Ungleichheit.

Eine Prise Glück

Ein Kind kann nur die Gene erben, die seine Eltern besitzen, aber welche Kopien es von Vater oder Mutter erhält, bleibt dem Zufall überlassen. Darauf verweist der Begriff „Die Gen-Lotterie“. Harden plädiert deshalb dafür, im Kopf zu behalten, dass viele unserer Fähigkeiten weniger ein Verdienst sind, sondern dass wir damit in der „Lotterie“ Glück hatten. Wie stark sich selbst Geschwister in „erfolgsrelevanten“ Eigenschaften unterscheiden können, zeigt sie an ihren eigenen Kindern. Korrelationsstudien zwischen Genen und Erfolg beziehungsweise Misserfolg beziehen sich immer nur auf Individuen innerhalb einer Gruppe. Vergleiche zwischen Gruppen, beispielsweise mit verschiedener ethnischer Zugehörigkeit, sind dagegen nicht zulässig, weil in unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Gene eine Rolle spielen (können). Mit diesem Argument entzieht Harden denjenigen Vorwürfen den Nährboden, die verhaltensgenetische Aussagen mit Eugenik in Verbindung bringen. Hinzu kommt, dass alle bisherigen Assoziationsstudien mit Gruppen von Menschen durchgeführt wurden, die wir als „Weiße“ bezeichnen würden. Das ist besonders bedauerlich, weil das Wissen um genetische Unterschiede helfen kann, soziale Ungleichheiten durch maßgeschneiderte Interventionen zu reduzieren. Wie das funktionieren kann, legt Harden im zweiten Teil ihres Buches dar. Ziele sollten dabei sein, die vorhandenen Fähigkeiten jedes Menschen maximal zu fördern und Gegebenheiten so zu verändern, dass alle Menschen einer Gesellschaft partizipieren können.

Anspruchsvolle Lektüre

Harden beginnt jedes Kapitel mit einem konkreten Beispiel aus ihrem näheren Umfeld, wodurch ihre Schilderungen sehr lebendig werden. Insgesamt ist der Text sehr faktenreich und dicht geschrieben, sodass er sich nicht immer leicht liest. Komplizierte Zusammenhänge werden gut erklärt, aber man benötigt doch eine gewisse Konzentrationsfähigkeit, um am Ball zu bleiben. Wie tief Harden ins Fachliche einsteigt, zeigen die umfangreichen Literaturlisten am Ende jedes Kapitels. Die Frage nach der Zielgruppe ist nicht leicht zu beantworten. Für eine fachlich vorgebildete Leserschaft, die verstehen will, wie Gene unseren Bildungs- und Lebensweg bestimmen, ist „Die Gen-Lotterie“ uneingeschränkt zu empfehlen. Auch Therapeutinnen, Sozialarbeiter und Lehrerinnen können sicher von der Lektüre profitieren. Wer eine leichte Lektüre mit einfachen Weisheiten erwartet, sollte sich dagegen nach einem anderen Buch umsehen.





Letzte Änderungen: 11.10.2023