Editorial

Vom Wert des genauen Hinschauens

(11.08.2023) Allzu häufig werden Studien mit dem Urteil abgekanzelt, sie seien ja „nur rein deskrip­tiv“. Das wird ihrem wahren Wert oftmals nicht gerecht.
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Wie funktioniert die experimentelle Wissenschaft? Prinzipiell kann man es ungefähr so zusammenfassen:

  • Stelle eine möglichst neue Frage
  • Sammele Beobachtungen dazu
  • Beschreibe sie vorurteilsfrei und detailgenau
  • Formuliere Hypothesen zu Mechanismus, Funktion oder Zweck des Beschriebenen
  • Knobele experimentelle Strategien aus, wie du die plausibelste Hypothese testen kannst.
  • Teste, teste, teste,… 
  • Wiederhole, wiederhole, wiederhole, …
  • … bis Mechanismus, Funktion oder Zweck des Beschriebenen klar sind (oder wenigstens Konsens darüber besteht).
Editorial

Mechanismus und Funktion zählen

Preisfrage: Welcher Schritte ist wohl der wichtigste? Widmen wir uns dazu einer Beobachtung, die sich in den letzten Jahrzehnten zu einem eher unguten Trend manifestiert hat: Studien zu den obigen Schritten 2 und 3, also Beobachtung und Beschreibung, werden in der Forschergemeinde oft geringschätzig als „rein deskripitiv“ abqualifiziert – und damit den vermeintlich viel „edleren“ Projekten untergeordnet, die Sinn, Mechanismus und Funktion von etwas entschlüsseln. Letzteres sei es, was die Kollegen gemeinhin am meisten schätzen – und was daher auch die Fachzeitschriften und Fördergeber am liebsten sehen wollen. 

Dabei macht das obige Schema eigentlich klar: Jegliche Suche nach Sinn und Funktion von etwas ist zwingend abhängig von sorgfältiger Beobachtung und Beschreibung. Und Letzteres kann bisweilen mindestens so knifflig und originell sein wie das Entschlüsseln funktioneller Mechanismen …

Ein schönes Beispiel, wie wichtig allein die Wahl der Bedingungen ist, unter denen man beobachtet, lieferte vor einigen Jahren der Artikel über die Farbmuster transparenter Insektenflügel von Ekaterina Shevtsova und ihren schwedischen Kollegen an der Universität Lund (PNAS 108: 668-73). Das Team nahm sich jede Menge Insektenflügel und fotografierte sie vor schwarzem statt, wie üblich, vor hellem Hintergrund. Und siehe da – was zuvor im Hellen nur durchsichtig und unspektakulär aussah, schillerte plötzlich wie Schmetterlingsflügel in allen möglichen Farben.

Aus Beobachtung wird Methode

Da die untersuchten Flügel jedoch keinerlei Farbpigmente enthalten, schauten die Schweden noch etwas genauer hin – und fanden, dass das bunte Schillern durch die spezifische Lichtbrechung und -absorption entstand, die wiederum durch die mikroskopische Feinstruktur der jeweiligen Flügel bewirkt wurde. Zugleich registrierten sie beim Beschreiben dieser Beobachtungen, dass die Flügelfarbmuster für die jeweilige Insektenart sehr spezifisch sind – mit der Folge, dass sie sich als klares diagnostisches Werkzeug zur zuverlässigen Spezies-Bestimmung entpuppten.

Kein Wunder, jubelte so mancher Insekten-Taxonom und -Systematiker förmlich über diese Beobachtungen. Denn vor allem Fliegen- und Wespenarten sind manchmal sehr schwer voneinander zu unterscheiden. Und was mit dieser einfachen, neuen Beobachtungs-Methode in dieser Hinsicht möglich ist, demonstrierten Ekaterina Shevtsova und ihr Team in ihrer Studie gleich selbst. Aufgrund entsprechend verschiedener Flügelfarbmuster konnten sie zeigen, dass parasitoide Erzwespen der Gattung Achrysocharoides, die in allen anderen morphologischen Merkmalen keinerlei signifikante Unterschiede zeigten, tatsächlich in drei klar getrennte Arten eingeteilt gehören. Ein Befund, den genetische und molekularbiologische Studien nachfolgend bestätigten.

Werkzeug zur Klärung genereller Fragen

Doch damit war der eindrucksvolle und nachhaltige Wert dieser „rein deskriptiven Studie“ noch nicht erschöpft. Denn einige Drosophila-Spezialisten jubelten ebenfalls über deren Erkenntnisse. Schließlich dient die kleine Taufliege ganzen Heerscharen von Forschern schon lange als der Modellorganismus schlechthin für deren Projekte – mit der Folge, dass auch gar nicht wenige von ihnen die generelle genetische und biochemische Kontrolle der Entwicklung von Insektenflügeln an dem Tierchen studieren. Und denen war natürlich sofort klar, welch tolles Werkzeug sie mit der Flügelfarben-Methode in die Hand bekamen, um die Auswirkungen von genetischen oder zellbiologischen Störungen auf die Flügelbildung in noch klarerem Detail zu studieren.

Viele ähnliche Beispiel folgten, wie wertvoll neue Erkenntnisse aus reinen Beobachtungsstudien sein können – und vor allem, wie weit sie die Tore zu jeder Menge Folgeresultate aufstoßen können.

Dennoch hält sich das Vorurteil vom zweitrangigen Wert rein deskriptiver Studien weiterhin hartnäckig. Erst neulich empörte sich beispielsweise zum wiederholten Male ein Forscher auf Twitter über diese Fehleinschätzung. „In vielen Fällen ist der Hinweis auf die fehlende Entschlüsselung von funktionellen Mechanismen einfach nur lächerlich“, ereiferte er sich. „Wenn jemand eine wirklich neue Beobachtung macht, muss der Mechanismus doch per definitionem erstmal unbekannt sein. Daher ist es doch ein Unding, wenn die Kollegen in den Gutachten zu solchen Studien dazu drängen, mit der Veröffentlichung durchaus aufregender Beobachtungen zu warten, bis die Autoren irgendwann einmal – womöglich nach Jahren – einen Mechanismus dahinter entschlüsselt haben.“

Was ist schöner?

Interessanterweise gab es umgehend Widerspruch von einem der angesprochenen „Kollegen“, der dem Twitterer entgegnete: „Ich bin ein Mechanismus-Fan! Wissenschaft ist doch gerade das Entschlüsseln von Mechanismen. Klar, Beobachtungen zu beschreiben gehört auch dazu. Doch erst in den Mechanismen offenbart sich endgültig die Schönheit der Natur.“

Na ja, auch mit etwas weniger Pathos bleibt „Schönheit“ bekanntlich vor allem Empfindungssache. So würden sicherlich nicht wenige der reinen Form der DNA-Doppelhelix, die James Watson und Francis Crick übrigens auch in einer rein deskriptiven Studie entschlüsselten, unter ästhetischen Gesichtspunkten mehr „Schönheit“ zugestehen als jedem noch so ausgefuchsten biochemischen Mechanismus. Und eventuell unter intellektuellen Gesichtspunkten sogar ebenfalls.

Aber klar, die abschließende Antwort auf die allermeisten Forschungsfragen bietet letztlich die Funktion oder der Mechanismus, der sich hinter dem untersuchten Phänomen verbirgt. Nur hätte man ohne vorherige – und vor allem auch vorurteilsfreie – Beobachtungen die große Mehrheit dieser Fragen gar nicht erst stellen können. Siehe etwa die Erstbeschreibung von Mikroorganismen durch die Pioniere der Mikroskopie. Oder Mendels Erbsenzählerei. Oder – moderner – das reine Ablesen und Beschreiben von Genomsequenzen …

Zwei Seiten derselben Medaille

Und heißt es nicht sowieso, dass in der Wissenschaft das Stellen der richtigen Fragen wichtiger sei als das Finden von Antworten? Wie auch immer, die Beschreibung von Beobachtungen und die Entschlüsselung von Mechanismen sind zwei Seiten derselben Medaille, die da heißt: Wissenschaft.

Folglich sollte ein jeder Gutachter sich schämen, der eine Ablehnung ausschließlich mit dem Totschlag-Argument begründet, es handele sich ja nur um eine rein deskriptive Studie. Entweder war er dann wirklich faul, oder er hat Wissenschaft nur halb verstanden.

Ralf Neumann

(Foto: Ekaterina Shevtsova)

 

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Letzte Änderungen: 01.08.2023