Editorial

Wichtig ja! Aber groß?

(21.07.2023) Schlummern in der Molekularbiologie heute noch offene Probleme mit ebenso großem Erkenntnispotenzial wie in deren Pioniertagen?
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Kann die Molekularbiologie heute noch fundamentale Einsichten liefern? Liest man die Kommentare zu einigen Entdeckungen der letzten 10 Jahre, dann lautet die Antwort offenbar weiterhin: Ja!

Nehmen wir zum Beispiel Andrew Jackson von der University of Edinburgh. Sein Team am dortigen MRC Institute of Genetics and Molecular Medicine hatte in Mäusen ein Gen ausgeschaltet, das für eine Untereinheit des Enzyms Ribonuklease H2 (RNase H2) kodiert. Funktioniert das analoge Enzym im Menschen nicht, entwickeln betroffene Kinder eine seltene Autoimmun-Krankheit namens Aicardi-Goutières-Syndrom. Die Maus-Mutanten offenbarten jedoch erstmal eine große Überraschung: Mit dem Gen-Defekt bauten sie in die DNA-Fäden jeder einzelnen Zelle mehr als eine Million Ribonukleotide statt Desoxyribonukleotide an (Cell 149 (5): 1008-22). Das Rückgrat jeder DNA-Kette war demnach haufenweise durchsetzt mit dem „falschen“ Zucker Ribose – statt ausschließlich mit der „richtigen" Desoxyribose synthetisiert zu sein.

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Wie die DNA, so die RNA

Jackson schloss daraus, dass der Ausfall der Ribonuklease eine wichtige Fehlerkorrektur beim Zusammenbau der DNA-Stränge aushebelt – und rühmte dies selbst als „fundamentale Entdeckung“. In seinen eigenen Worten:

„Das Erstaunlichste daran ist, dass wir durch unsere Arbeit zum Verständnis einer seltenen genetischen Krankheit den mit Abstand häufigsten Fehler in der DNA-Synthese aufgedeckt haben [...]. Ein einziges Enzym ist entscheidend für die Reparatur von über einer Million Fehlern in der DNA jeder einzelnen Zelle, um die Integrität unseres gesamten Genoms zu schützen.“

Anderes Beispiel. Samie Jaffreys Team von der Cornell University im US-Bundesstaat New York verkündete vor einigen Jahren Ergebnisse, nach denen an mRNA-Moleküle im gleichen Maße Methylgruppen angehängt werden können wie an DNA-Stränge (Cell 149( 7): 1635-46). Mit solchen Methylierungen und De-Methylierungen der DNA steuern die Zellen bekanntlich, welche Gene spezifisch an- und abgeschaltet werden sollen. Ein Prozess, der bei den DNA-Spezialisten unter dem Sammelbegriff „Epigenetik“ läuft, für die mRNA bis dahin jedoch nicht mal vermutet wurde.

Versteckte Kontrolle

Jaffrey und Co. fanden hingegen, dass 20 Prozent der gesamten mRNA, die Ratten in den Zellen mehrerer Gewebe produzieren, Methylgruppen trugen. Konkret waren von den vier verschiedenen Basen der mRNA nahezu ausschließlich Adenosine methyliert. Und da bei der DNA diese Adenosin-Methylierung der vorherrschende Mechanismus ist, um das Ablesen bestimmter Gene gezielt zu unterbinden, spekulierte US-Team natürlich sofort, dass das Zufügen von Methylgruppen an RNA-Moleküle eine ähnliche epigenetische – und demnach zusätzliche – Kontrollfunktion auf dem Weg vom Gen über die mRNA zum Protein spielt.

„Die RNA-Methylierung kann daher diktieren, wie viel Protein gebildet wird und wann“, gab Jaffrey damals zu Protokoll. Und machte unmissverständlich klar: „Damit haben wir etwas Grundlegendes in der Biologie entdeckt. Es war die ganze Zeit da und niemand wusste davon.“

Beide Beispiele beschreiben wichtige Entdeckungen in ihren jeweiligen Feldern, keine Frage. Aber sind sie wirklich derart „fundamental für die Biologie“?

Pioniere gingen früh

Erinnern wir uns an die 1960er-Jahre, als mehrere Pioniere der Molekularbiologie das Feld bereits wieder verließen. Berühmt ist etwa folgendes Zitat aus einem Brief, den der Nobelpreisträger Sydney Brenner 1963 an den anderen Nobelpreisträger Max Perutz schrieb:

„Inzwischen ist wohl weithin anerkannt, dass fast alle 'klassischen' Probleme der Molekularbiologie entweder gelöst sind oder im nächsten Jahrzehnt gelöst werden. Die Biochemiker, die das Feld jetzt übernehmen, werden jetzt sicherstellen, dass alle chemischen Details der Replikation und Transkription aufgeklärt werden. Aus diesem Grund bin ich der Meinung, dass die Zukunft der Molekularbiologie in der Ausweitung der Forschung auf andere Bereiche der Biologie liegt – insbesondere auf Entwicklungs- und Neurobiologie.“

Brenner argwöhnte folglich schon damals, dass nach der Entschlüsselung der zentralen und universalen molekularen Vorgänge des Lebens fortan keine fundamentalen Einsichten mehr in der Molekularbiologie zu erlangen seien – und es stattdessen nur noch Details zu entschlüsseln gebe. Wichtige Details zwar, kein Zweifel – aber allesamt fest verankert im Rahmen der bereits etablierten molekularen Grundprinzipien.

Wie einst die Physiker

Brenners Zeitgenosse Seymour Benzer beschrieb in einem Interview 2002 ähnliche Gefühle:

„Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Marshall Nirenberg [Entdecker des genetischen Triplett-Codes und ebenfalls Nobelpreisträger] im Jahr 1963. Wir spürten damals beide, dass alle Probleme der Molekularbiologie kurz vor der Lösung standen. Etwa so wie die Physiker am Ende des 19. Jahrhunderts, als sie sagten: 'Wir müssen uns nur noch mit Nachkommastellen beschäftigen'."

Zwar versuchte Benzer, diesen „Abgesang auf die Molekularbiologie” rückblickend noch mit dem Hinweis zu relativieren, dass zu diesem Zeitpunkt natürlich noch keiner eine Ahnung von der gesamten rekombinanten DNA-Technologie haben konnte. Aber letztlich repräsentierte die nachfolgende Gentechnologie dennoch „nur“ die reine Anwendung und Verfeinerung bekannter Prinzipien – und ging keinen Schritt über die bereits etablierten Grundsätze in Molekularbiologie, Biochemie und Genetik hinaus.

Der Grundrahmen bleibt

Und danach? Nehmen wir die womöglich aufregendsten neuen Felder der letzten zwei Jahrzehnte: Genomik, Epigenetik, kleine regulatorische RNAs und Genome Editing via CRISPR/Cas. Keines von ihnen hat irgendwelche neuen Grundprinzipien offenbart. Genomik wurde durch pure Technik eröffnet statt durch originelle Theorien. Epigenetik und kleine RNAs sind zwar tatsächlich wichtige und erstaunliche Regulationsphänomene, trotzdem stellen sie nüchtern betrachtet „nur“ zwei weitere Fälle dar, wie Genaktivität gesteuert wird – und sprengen somit auch nicht den etablierten Grundrahmen der Molekularbiologie. Und auch Genome Editing hat per se keine fundamentalen neuen Erkenntnisse offenbart, sondern verdankt seinen Siegeszug durch die Forschung vor allem seinem mächtigen Potenzial als experimentelles Präzisionswerkzeug.

Grundlegend aber nicht weltbewegend

Folglich hängt es am Ende davon ab, wie weit man den Bezugsrahmen aufzieht, innerhalb dessen man etwas als eine fundamentale Entdeckung ansehen will. Die beiden eingangs genannten Beispiele kann man in ihren jeweiligen (Sub-)Feldern sicher als grundlegende Entdeckungen betrachten, allerdings kaum als weltbewegende Erkenntnisse darüber hinaus. Im Gegensatz dazu warteten die Molekularbiologen der 1950er und 60er Jahre definitiv mit Erkenntnissen auf, die das Verständnis von Leben überhaupt zutiefst prägten.

Fragen wir daher nochmal anders: Gibt es in der Molekularbiologie heute noch offene Probleme, hinter denen ebenso großes Erkenntnispotenzial schlummert?

Ralf Neumann

(Illustration kreiert mit der Bild-KI Dall-E2)

 

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Letzte Änderungen: 20.07.2023