Editorial

Essay: Das Pneu-Syndrom

(18.10.2022) Absurde Überregulierung kann man leicht persiflieren, so wie in Diethard Tautz' fiktivem Szenario zur Kontrolle des Reifengebrauchs.
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Es ist ein heißer Sommertag in Köln. Das Tankschiff Excalibur II fährt mit einer vollen Ladung Leichtbenzin von der Raffinerie in Wesseling kommend auf dem Rhein stromabwärts. Als es unter der Deutzer Brücke durchfährt, platzt dort bei einem Auto ein Reifen. Das Fahrzeug kommt ins Schleudern, durchbricht das Geländer und fällt auf das Führerhaus des Schiffs. Der Tanker stellt sich quer und verfängt sich an den Pfeilern der Hohenzollern­brücke. Die Tanks sind angeschlagen, sofort entsteht eine große Benzinwolke. Auf der Brücke wartet ein vollbesetzter ICE auf die Einfahrt zum Bahnhof, zwei S-Bahnen fahren gleichzeitig über die Brücke. Es kommt zur Explosion der Benzinwolke, die Züge stürzen in den Rhein. Die Druckwelle ist so groß, dass auch die Türme des Doms einstürzen und die Besucher auf dem Domplatz unter sich begraben.

Editorial

Zugegeben, das Szenario mag unwahr­scheinlich sein – aber es ist nicht völlig undenkbar. Es zeigt, welche Gefahr von Reifen ausgeht, wenn sie nicht unter kontinuierlicher Kontrolle stehen. Aus diesem Grund wird ein Gesetz zur Kontrolle der Reifentechnik verabschiedet – das „PneuTG“. Es klassifiziert Reifen in vier Pneu-Sicherheits­stufen: P1 (Fahrradreifen), P2 (Autoreifen), P3 (LKW-Reifen), P4 (Flugzeug­reifen). Für Reifen der Klasse P1 wird definiert, dass kein Sicherheits­risiko von ihnen ausgeht, sie werden aber vorsichtshalber trotzdem reguliert.

Alle Personen, die Reifen verwenden, müssen diese in eine der Klassen einteilen und die zugehörigen Maßnahmen beachten. Dabei hilft ihnen der Pneu-Beauftragte aus ihrer Nachbar­schaft. Pneu-Beauftragte haben eine mindestens dreijährige Erfahrung im Umgang mit Reifen und haben einen Schulungskurs absolviert, den sie alle fünf Jahre wiederholen. Sie sind persönlich verantwortlich, dass die Personen ihre verwendeten Reifen korrekt klassifizieren und sie nach den gesetzlichen Vorgaben vor Fahrtantritt auf mögliche Schäden untersuchen.

Überdies wird eine zentrale Kommission für Pneu-Sicherheit (ZKPS) gegründet, die Empfehlungen erarbeitet, wie die Reifen zu überwachen und gegebenenfalls zu reparieren sind. Nachbar­schafts­bezirke werden zu Pneu-technischen Anlagen zusammen­gefasst und bei den Behörden registriert. Wenn der Pneu-Beauftragte einer Anlage nicht vor Ort ist, dürfen in dieser Zeit keine Reifen verwendet werden.

Für die Verwendung jedes einzelnen Reifens gilt eine Aufzeich­nungs­pflicht, die zugehörigen Unterlagen müssen nach der Entsorgung der Reifen mindestens zehn Jahre lang aufgehoben werden. Die Behörden kontrollieren regelmäßig die korrekte Verwendung der Reifen sowie die zugehörigen Aufzeichnungen.

Gleichzeitig erlaubt die weite Fassung des Gesetzes den Behörden auch die sicherheits- und arbeits­technische Überwachung von Garagen, die Erstellung von Vorschriften zu deren Zwangsbelüftung, die Kontrolle des gelagerten Materials sowie die korrekte Verwendung von Hautschutz­pflege nach dem Kontakt mit Reifen. Einmal jährlich sind alle Reifenverwender über die Gesetzeslage zu unterrichten, die Anwesenheit bei der Unterrichtung ist durch Unterschrift zu belegen.

Nachdem das Gesetz etabliert ist, bringt die Industrie Autoreifen auf den Markt, die nicht mehr platzen können und damit unter P1 eingeordnet werden können. Juristen bezweifeln gleichzeitig, dass eine Sicherheits­stufe P1 („kein Sicherheits­risiko“) überhaupt unter behördliche Überwachung gestellt werden darf. Aber da sich die Umsetzung des Gesetzes in den Landes­ministerien „bewährt“ hat, will man nicht daran rütteln. Die Sicherheit der Bürger verlangt eben auch einen gewissen bürokratischen Aufwand.

Was hier wie eine Glosse klingt, ist prinzipiell leider die bittere Realität diverser Gesetzes- und Verordnungs­normen. Viele sind aus gut gemeinten Gründen entstanden. So auch das Gentechnik­gesetz (GenTG), das mit dem Pneu-Szenario oben direkt persifliert werden soll. Als es 1990 geschrieben wurde, war man der Meinung, besser mehr Vorsicht walten zu lassen, da man mögliche Gefahren der damals noch neuen Technologie noch nicht ausreichend einschätzen konnte. Zudem sollte der Industrie ein Rahmen gegeben werden, mit dem sie die Technik rechtssicher anwenden konnte. Aber auch alle Forschungs­labore, in denen Gentechnik angewendet wird, fallen darunter, obwohl viele Passagen im Gesetz eher für Industrie­maßstäbe geschrieben wurden und dem Laboralltag nicht gerecht werden.

Die gentechnische Forschung hat inzwischen riesige Fortschritte gemacht. Wir wissen heute, dass die Übertragung von DNA auch zwischen Arten, die phylogenetisch nicht verwandt sind, ein völlig natürlicher Vorgang ist. Beispielsweise nehmen Mikro­organismen freie DNA aus der Umwelt auf und bauen sie in ihr Genom ein. Und insbesondere die große Vielzahl der Viren ist mittlerweile als natürlicher Überträger von DNA zwischen Arten identifiziert worden. Besonders effizient passiert dies etwa in Kompost­anlagen, in denen organische Abfälle von vielen verschiedenen Spezies zusammen­kommen.

Im GenTG sind gentechnisch veränderte Organismen definiert als „[Organismen, deren] genetisches Material in einer Weise verändert worden ist, wie sie unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt“ (§3, Abs. 3). Heute müssen wir aber davon ausgehen, dass praktisch jede Kombination von genetischem Material auch natürlich vorkommen kann. Damit verliert das Gesetz seine Grundlage, da der Gegenstand der Regulierung nicht mehr eindeutig definiert ist. Im Laufe der Evolution ist es tatsächlich praktisch bei allen Arten regelmäßig zu Genübertra­gungen gekommen, die oft auch für schnelle Anpassungen wichtig waren. Die ursprüngliche Sorge, dass der Mensch mit der Gentechnik etwas ganz Neues schafft, hat sich als unbegründet herausgestellt. Genübertra­gungen waren und sind integraler Bestandteil natürlicher Evolution.

Wenn man das GenTG heute neu schreiben würde, würde es daher völlig anders gefasst werden. Man würde dann wohl nur noch die Arbeit mit potenziell pathogenen Organismen regulieren wollen, die allerdings auch bereits durch andere Gesetze reguliert werden – etwa durch das Infektions­schutzgesetz oder die Biostoff­verordnung. In jedem Fall würde man heute nicht mehr die Arbeiten nach S1 („Arbeiten [...], bei denen nach dem Stand der Wissenschaft nicht von einem Risiko für die menschliche Gesundheit und die Umwelt auszugehen ist.“ [§7, Abs. 1,1]) unter behördliche Überwachung stellen.

Aber das Gegenteil passiert. Arbeiten nach S1 machen vermutlich neunzig Prozent des Überwachungs­aufwands der Behörden aus. Entsprechend wachsen die zugehörigen Mitarbeiterstäbe und bringen zunehmend Extrem­bürokraten hervor, die sich durch besonders spitzfindige Auslegung des Gesetzestextes hervortun und sich auch gerne neue bürokratische Prozeduren ausdenken. Damit wurde eine enorme Regulierungs­bürokratie geschaffen, bis hin zur Regulierung der Verwendung von Hautschutz­creme nach der Benutzung von Labor-Handschuhen. Die Folge ist unter anderem, dass die Auflagen der Gentechnik­behörden zum Teil erhebliche Investitionen in betroffenen Laboren nach sich ziehen – oft auf Kosten sinnvollerer Ausgaben. Kurzum: Der Staat leistet sich hier eine besonders aufwändige und teure Überwachungs­struktur für eine Gefahrenlage, die wissenschaftlich gar nicht mehr belegbar ist.

Das GenTG ist aber bei weitem nicht das einzige Regelwerk, das Forschungslabore zu beachten haben. Gesetze oder Verordnungen regeln in immer größerem Detail den Betrieb von wissen­schaftlichen Instituten. Sie beinhalten in der Regel die Pflicht zur Berufung eines „Beauftragten für ...“, der/die eine Schulung durchlaufen muss und regelmäßige Fortbildungen machen soll, um die Komplexität der Regelungen beachten zu können. An meinem Institut – dem Max-Planck-Institut für Evolutions­biologie in Plön – mit rund 190 Mitarbeitenden müssen inzwischen 26 Beauftragte berufen werden. Hier eine Auswahl: Beauftragte(r) für Gentechnik, Tierschutz, Laserschutz, Datenschutz, Arbeitsschutz, Brandschutz, Nagoya-Protokoll, Exportkontrolle, Gefahrgut et cetera. Zu jedem dieser Themen haben staatlich berufene und spezialisierte Kommissionen umfangreiche Unterlagen mit sehr großer Regelungstiefe erstellt, die jährlich weiter „optimiert“ werden.

Ob damit wirklich ein messbarer Sicherheits­gewinn erzielt wird, ist jedoch in der Regel gar nicht mehr das Thema. Oft entstehen neue Auflagen auch wegen des Interesses von Firmen, die neue Sicherheits­produkte auf den Markt bringen wollen. Und eine Querverbindung zwischen den Kommissionen, in denen abgeschätzt werden könnte, ob die Vielzahl ihrer Regelungen überhaupt noch sinnvoll umsetzbar ist oder ob sie sich nicht sogar gegenseitig widersprechen, ist schon lange nicht mehr erkennbar.

Insbesondere gibt es auch kein erkennbares Verständnis dafür, welchen bürokratischen Aufwand die Regulierungen im Einzelnen nach sich ziehen. De facto ist die Situation derzeit nur deswegen tolerierbar, da für die meisten dieser Gesetze und Verordnungen keine enge bürokratische Überwachung nach dem Muster des GenTG etabliert wurde. Wäre dies der Fall, müsste sich wahrscheinlich die Hälfte der Mitarbei­terinnen und Mitarbeiter eines Forschungsinstituts ausschließlich mit der Abarbeitung des bürokratischen Aufwands beschäftigen. Dafür kommt gerade das Zauberwort „Compliance“ in Mode, überwacht – natürlich – von einer/m „Beauftragten für Compliance“, die oder der dann alles im Blick haben soll.

Ein Abbau der bürokratischen Überregu­lierungen wird zwar regelmäßig gefordert, und Politiker legen auch Lippen­bekenntnisse dazu ab. Aber de facto wird es Jahr für Jahr schlimmer. Neue Bürokratie­monster, wie etwa das Nagoya-Protokoll oder die Neufassung des Tierschutz­gesetzes, werden derzeit mit Nachdruck etabliert und zunehmend unter strenge behördliche Überwachung gestellt.

Wenn man es mit Bürokratie­abbau ernst meint, dann sollte man als Erstes die Überwachung der S1-Arbeiten im Gentechnik­gesetz streichen. Tatsächlich ist diese Möglichkeit bereits in das Gesetz eingebaut: „Die Bundesregierung wird ermächtigt, [...] durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates, gentechnische Arbeiten [...] ganz oder teilweise von den Regelungen dieses Gesetzes auszunehmen“ (§2, Abs. 2 GenTG). Wenn der Wille dazu da wäre, ließe sich dies in kürzester Zeit umsetzen. Und zugleich würde man damit auch die Absurdität beseitigen, Prozesse, von denen kein Sicherheitsrisiko ausgeht, bürokratisch zu reglementieren. Die dadurch frei werdende Beamten­kapazität ließe sich sicher viel sinnvoller einsetzen.

Und warum nenne ich das Ganze das „Pneu-Syndrom“? Ein Pneu ist ein aufgeblasenes Gebilde, das sich um sich selbst dreht.

Zum Autor
Diethard Tautz ist Direktor am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön.

Bild: Pixabay/steve_a_johnson (Reifen) & D. Tautz


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Letzte Änderungen: 18.10.2022