Editorial

Gemeinsam wandert
es sich besser

(10.10.2022) Auch Tiere, die sonst lieber allein leben, werden auf Wanderschaft gesellig und kommunikativ – beschreiben fünf Forscherinnen vom Radolfzeller MPI.
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Lautes Plärren und Schnattern, und in diesem akustischen Chaos eine perfekt choreo­graphierte Flugformation, die uns zeigt: Der Winter ist im Anmarsch. Man mag sich fragen, warum Gänse so viel Energie zum Krachmachen aufwenden. Offenbar ist der soziale Austausch wichtig genug, dass sich die Anstrengung lohnt. Und möglicherweise fühlt sich das Geschnatter aus Sicht einer Gans ja gar nicht so nach Anarchie an wie für uns Säugetier-Zweibeiner.

Etliche migrierende Tierarten machen sich in Gruppen auf Reisen, und da ist naheliegend, dass auch Information zwischen den Individuen ausgetauscht und weiter­gegeben wird. Genau diesen Aspekt schauten sich fünf Forscherinnen der Uni Konstanz und des Max-Planck-Instituts für Verhaltens­biologie in Radolfzell für einen Review-Artikel an. Einhundert Publikationen hatte das Team um Andrea Flack für seine Übersicht zusammen­getragen und hieraus einen eigenen Überblick erstellt.

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Erlernt oder geerbt?

Mit Tierwanderungen sind im Rahmen dieser Arbeit zielgerichtete Migrationen gemeint zwischen verschiedenen Orten; und zwischen diesen beiden Orten gibt es keine Überlappung der wandernden Art. Der Wolf, der hunderte Kilometer durch die Lande zieht, ist hier also nicht gemeint: Zum einen streift er durch ein kontinuierliches Verbreitungs­gebiet seiner Artgenossen, zum anderen folgt er dabei keinem gerichteten Weg.

Als typisches Beispiel für Tiermigra­tionen wie sie im Review gemeint sind kann man also die Zugvögel nennen. Ebenso findet man sie aber bei Insekten, Walen oder Lachsen. Eine Frage, die man sich vielleicht als molekular­biologisch geprägte Leserin stellt: Ist es nicht am sichersten, das Wander­verhalten fest im Genom zu verankern? Schließlich konkurrieren ja auch die Individuen untereinander um Futter oder Brutplätze, und das eigene „egoistische Wander-Gen“ wäre doch ein großer Vorteil.

Auch auf diesen Punkt gehen die Autorinnen ein. So galt für Singvögel lange das Paradigma, dass deren Wanderwege genetisch festgelegt sind. Gerade junge Singvögel, die noch keine Gelegenheit hatten, selbst Erfahrungen zu sammeln, scheinen auf diese genetische Programmierung angewiesen zu sein. Experimente, bei denen man die Tiere an anderen Orten aussetzt, bestätigten diese Vermutung. Zumindest manchmal. Tatsächlich, so steigen die Autorinnen dann differenziert ins Thema, seien die Ergebnisse solcher Studien nicht einheitlich. Vielmehr sei einfach der Gebrauch sozialer Signale als Zusatz­information lange übersehen und gar nicht erst in Erwägung gezogen worden.

Sozialer als gedacht

Singvögel galten lange als Einzelgänger, auch beim Wandern, doch es gibt immer mehr Hinweise, dass sie sich sehr wohl in Gruppen sammeln können. Außerdem liegen auf den Wanderrouten immer wieder Engpässe, etwa beim Überqueren von Bergketten. Spätestens hier stoßen Individuen ohnehin aufeinander. Über gegenseitige Rufe könnten die Singvögel aber auch über gewisse Distanzen in Kontakt bleiben. Die gesamte Gruppe profitiert dann von den Informationen, die einzelne weiter verstreute Tiere zusammentragen. Das trifft natürlich nicht nur auf Singvögel zu: Blauwale können mit weit entfernten Artgenossen kommunizieren und sprechen so offenbar den Zeitpunkt einer Wanderung ab.

Ein starres unwandelbares „Wanderprogramm“ wäre auf lange Sicht ohnehin nachteilig, denn Umwelt­bedingungen können sich bereits innerhalb weniger Jahre ändern. Populations­genetiker dürfte es wenig überraschen, dass demnach auch eine Variabilität verschiedener „Wanderallele“ im Genpool wichtig ist. Und diese angeborenen Verhaltens­muster können die Individuen dann noch anpassen über eigene Erfahrungen und über die Kommunikation mit Artgenossen.

Zum Beispiel beschreiben die Autorinnen eine Population von Weißwangen­gänsen, die einen neuen Ort für einen Zwischenstopp entdeckten und immer wieder ansteuerten. Diese Gepflogenheit kann über Generationen hinweg beibehalten werden, sodass Verhaltens­biologen von einer Kultur sprechen.

Mehrere Routen führen zum Ziel

Ob nun kulturell oder genetisch geprägt: Die Diversität von Wanderrouten kann auf lange Sicht für das Überleben einer Art entscheidend sein. Denn ist eine Strecke plötzlich nicht mehr nutzbar, dann müssen sich alternative Routen „herum­gesprochen“ haben oder im Genpool hinterlegt sein, die die Tiere nutzen können. Dieser Aspekt, so mahnen die Autorinnen, sollte gerade auch dort berücksichtigt werden, wo der Mensch in das Landschaftsbild eingreift. Die Idee, zum Beispiel einen Wanderkorridor für Zugvögel freizuhalten, ist gut gemeint; aber falls dadurch alle weiteren Routen wegfallen, geht auch die Diversität verloren, die eine Art braucht, um auf Umwelt­veränderungen reagieren zu können.

Interessanterweise werden selbst Tiere, die sonst als Einzelgänger unterwegs sind, bei Wanderungen mitunter gesellig. Zum Beispiel gibt es Schmetterlinge, die sich unterwegs für gemeinsame Übernachtungen an einem Schlafplatz niederlassen. Auch bei Lachsen macht es die schiere Masse für das einzelne Individuum unwahr­scheinlicher, von einem Fressfeind verspeist zu werden. Neben der Wanderroute ist also auch das Timing entscheidend.

Bei Tierwanderungen, so resümieren die Autorinnen, erweist sich ein soziales Kommunizieren also als vorteilhaft. Das mag auch ein Grund dafür sein, warum sich Wanderverhalten zwischen sehr verschiedenen Spezies ähneln kann – denn zeitsynchron als eine Gruppe aufzubrechen oder als Einzelgänger wie der Blauwal zumindest mit Gleichgesinnten in Kontakt zu bleiben, hat sich wohl bewährt. Ganz nach dem Motto: Viele Augen sehen mehr als zwei.

Mario Rembold

Aikens, E. O. et al. (2022): Viewing animal migration through a social lens. Trends Ecol Evol, S0169-5347(22)00141-0.

Bild: Pixabay/terski


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Letzte Änderungen: 10.10.2022