Editorial

Gute wissenschaftliche
Praxis – ein alter Hut!?

(22.03.2022) Mangelt es Biologen und Medizinern an Integrität? Oder gibt es einfach nur keine guten wissenschaftsethischen Fortbildungs­veranstaltungen?
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Ihr eigenes Institut arbeitet wissenschaftlich einwandfrei. Davon, sehr geehrte Leserinnen und Leser, sind nicht nur Sie, sondern ist vor allem Ihre Chefetage überzeugt. Zumindest ergab das eine Befragung an dänischen Universitäten (Sci Eng Ethics, 26:3167–82). Ihr zufolge nehmen Forschungs- und Abteilungsleiter zwar Reproduzier­bar­keits­krise, Wissenschafts­skandale und schwindendes Vertrauen der Öffentlichkeit wahr, doch ihre eigene Abteilung trägt dazu unmöglich bei. Es sind stets andere Institute, Fachbereiche und Länder, denen es an Forschungs­integrität mangelt. Handlungs­bedarf vor Ort besteht nicht.

Nun ist Dänemark nicht Deutschland, Österreich oder die Schweiz. Außerdem kommen spektakuläre Betrugsfälle glückli­cherweise selten vor, und Ergebnisse werden sich schon reproduzieren lassen, wenn sich alle nur ein wenig mehr anstrengen. Denn mal Hand aufs Herz: Arbeiten Sie selbst wissenschaftlich tadellos? Bestimmt! Schließlich schützt Sie Ihr Instituts­umfeld davor, zu sehr auf biblio­metrische Bewertungs­kriterien wie den Journal-Impact-Faktor zu schielen, einem Publish-or-Perish nachzugeben und halbgare Wahrheiten zu veröffentlichen. Auch die Schludrigkeiten und kleinen Inkompetenzen des Alltags fallen nicht schwer ins Gewicht. Mit anderen Worten: Die Ursache für Reprodu­zierbarkeits- und Vertrauens­krisen liegt in den Strukturen des Wissenschafts­systems da draußen. Ihre Lösung findet sich indes bei Ihnen vor Ort in Form Ihrer lokalen Forschungs­kultur und des Miteinanders Ihrer Kollegen.

Editorial

Richtlinien vorhanden

Doch ist das nicht ein Widerspruch? Wären für ein systemisches Problem nicht systemische Lösungs­ansätze nötig? Tatsächlich mangelt es nicht an ihnen: Im März 2017 veröffentlichten der Zusammen­schluss der Akademien der Wissenschaften in Europa (ALLEA) und die Europäische Kommission eine überarbeitete Version des Europäischen Verhaltens­kodex für Integrität in der Forschung. Auf einem Dutzend Seiten beschreibt er die Verhaltensregeln guter Forschungs­praxis auf Basis von vier Prinzipien: Zuverlässigkeit, Ehrlichkeit, Respekt und Rechen­schafts­pflicht. Alle Stipendiaten des EU-Forschungs­rahmen­programms Horizont Europa verpflichten sich ihnen. Die Deutsche Forschungs­gemeinschaft (DFG) aktualisierte ihre 19 Leitlinien zur Sicherung guter wissen­schaftlicher Praxis zuletzt 2019. Wer DFG-Fördermittel möchte, unterzeichnet sie. Auch wer gerade keine EU- oder DFG-Stipendien nutzt, findet auf der eigenen Instituts­website ähnliche Grundsätze. Fakultativ sind für den Forschungs­treibenden keine davon.

An offiziellen Richtlinien fehlt es also nicht. Eigentlich braucht die Bioforschungs­gemeinschaft ihnen nur zu folgen und Reproduzier­barkeits- und Vertrauens­krisen wären Geschichte. Dennoch scheinen sich die meisten aufgedeckten Fälschungs­vorfälle – die sicher nur die Spitze des Eisbergs bilden – in der Biomedizin zu finden. Warum? Von Andrew Wakefields 1998 erfundener Verbindung zwischen Masern-Mumps-Röteln-Impfungen und Autismus über Hwang Woo-suks Total­fälschung geklonter, humaner Stammzell-Linien im Jahr 2005 bis hin zu den seit vergangenem Jahr 153 Retraktionen des früheren Gießener Anästhe­siologen Joachim Boldt ist allen eines gemein: Die Versuchung ist groß, Daten zu „verschönern“.

Der Privatdozent für Biomedizin-Ethik am Rechtswissen­schaftlichen Institut der Universität Zürich, Roberto Andorno, nennt die wichtigsten Ursachen: „Zum einen sind die finanziellen Vorteile wissen­schaftlicher Entwicklungen im Gesundheits­wesen enorm. Schnell lockt eine berufliche Karriere. Zum anderen können Forschungs­ergebnisse nicht so präzise reproduziert werden wie in der Mathematik oder Physik. Wird Labormäusen die gleiche Substanz an der gleichen Stelle injiziert, kann man sich nicht sicher sein, überall die gleichen Krebszellen vorzufinden. Diese biologische Variabilität zwischen Organismen, Zellen und Molekül­strukturen lässt einen Interpre­tations­spielraum offen, der manipulierte Daten schwieriger zu identifizieren macht.“

Gleichzeitig ist Wissenschaft eben nicht länger Berufung, sondern Karriere. Begutachtungs­verfahren und Wettbewerbs­druck fördern Moralvor­stellungen nicht, ergänzt Andorno. „Auch Wissenschaftler sind nur normale Menschen mit Ambitionen und Leidenschaften.“ Das US-Office of Research Integrity führt eine lange Liste aktueller Untersuchungen wissen­schaftlichen Fehlverhaltens.

Für all das liegt die Lösung eigentlich auf der Hand: Alle Master­studenten und Doktoranden sollten verpflichtet werden, eine Lehrveran­staltung für Integrität in der Forschung zu besuchen. Alltags­schludrigkeiten sollte das vermindern, Wissenschafts­skandale gar unterbinden.

Schwer zu beurteilen

„Nicht so einfach“, urteilt Andorno, der ebensolche Kurse seit 2017 auf dem Graduierten­campus der Universität Zürich verantwortet: „Wir verfolgen hier zweierlei Lehrziele: einerseits das Wissen um Konzepte und Prozeduren verantwortungs­bewusster Forschung, wie etwa Autorenrechte, gesunde Mentor-Mentee-Beziehungen und die Vermeidung von Interessens­konflikten und Plagiaten, und andererseits eine ethische Geisteshaltung unserer Teilnehmer.“ Evaluieren lässt sich jedoch nur der Wissensteil, sagt Andorno. „Ob die moralische Urteilskraft von Studenten in derartigen Lehrveran­staltungen reift, ist schwer beurteilbar.“ Zumal sich viele Dozenten gar nicht erst die Mühe machen, um Feedback zu bitten. Laut einer Befragung akademischer Institutionen im Rahmen des EU-finanzierten Projekts „Integrity“ im Jahr 2019 evaluieren nur die Hälfte aller Dozenten solcher Kurse ihren Lehrerfolg.

Existieren vielleicht dennoch Schlüssel­faktoren, anhand derer wissen­schaftliche Integrität erfolgreich gelehrt werden kann? Dieser Frage ging Andorno gemeinsam mit Johannes Katsarov von der Zürcher Arbeits- und Forschungs­stelle für Ethik und Mariëtte Van Den Hoven vom Ethikinstitut der Universität Utrecht als Teil des EU-Projekts „Integrity“ nach. Gemeinsam sichteten sie 1.548 Publikationen, die entsprechende Bildungs­anstrengungen zwischen 1990 und 2020 beschrieben. Erstautor Katsarov erklärt: „Für unsere Meta-Analyse berücksichtigten wir nur Studien, die ihren Lehrerfolg in Bezug auf das Wissen, die Einstellungen und die Kompetenz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer objektiv anhand wissenschaftsethischer Probleme evaluierten, und zwar im Vergleich zu Prä-Tests oder Kontrollgruppen. Selbstein­schätzungen der Lernenden oder Zufriedenheits­evaluationen ignorierten wir.“ Nur dreißig Studien entsprachen diesen strengen Anforderungen (Educ Psychol Rev, DOI: 10.1007/s10648-021-09630-9).

Mithilfe mehrdimen­sionaler Meta-Regressions­analyse destillierte das schweizerisch-nieder­ländische Autoren­gespann diejenigen Kurs-Charakteristika heraus, die die ethische Urteils­fähigkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer beflügelten. Dafür mussten sie alle Kurseigen­schaften gleichzeitig betrachten, da diese oft korrelieren. Werden beispielsweise Fallbesprechungen in Gruppen­diskussionen realisiert, lässt sich nicht ohne Weiteres ableiten, ob die Diskussion einzelner Fallbeispiele oder das gemeinsame Lernen als Gruppe den Lehrerfolg begünstigten. Eine Regressions­analyse fitzelt derartige Kreuzeinflüsse auseinander.

Emotionalität ist das A und O

Die vielleicht erstaunlichste Einsicht der Meta-Analyse lautet: Pure Fakten bringen wenig. Vor allem emotionales Engagement zählt. Ein intellektuelles Abwägen des Für und Widers abstrakter Fallbeispiele – also der angebliche Goldstandard des Ethik­unterrichts – erwies sich als wenig effektiv. Nur Kurse, die komplett auf Fallbeispiele verzichteten, schnitten schlechter ab. Besser rangierten dagegen erfahrungs­basierte Lehrveran­staltungen, in denen Teilnehmer aktiv ihre eigenen Motive, Erlebnisse oder Dilemmas beschrieben sowie Lösungs­vorschläge und deren Konsequenzen diskutierten. Katsarov erklärt: „Hypothetische Szenarien weisen Lernende oft von sich. Schließlich würde ihnen selbst so etwas nie passieren.“ Rollenspiele machen sie dagegen zu Akteuren: „Sie können sich nicht länger emotional distanzieren und erfahren an ihrer eigenen Haut, wie ihre ethische Problem­sensitivität unterminiert wird von Arbeitsstress, Interessens­konflikten und sozialem Druck – insofern sie nicht auf solche Situationen vorbereitet sind.“

Praxisbezug und emotionale Verknüpfung sind laut Meta-Analyse die mit Abstand besten Indikatoren für einen erfolgreichen Integritäts­kurs. Ob beides als Rollenspiel umgesetzt wird, durch ein Hinterfragen von Selbstein­schätzungen, durch eine interaktive Geschichte oder einen zu schreibenden Essay, ist letztendlich egal – solange Teilneh­merinnen und Teilnehmer aktiv reflektieren, wie sie in einer ethisch heraus­fordernden Situation reagieren würden.

Katsarov hat mit digitalen Ethik­lernspielen, sogenannten Serious Moral Games, gute Erfahrungen gemacht: „Spiele wie ‚Academical’ oder ‚uMed: Your Choice’ führen teils zu starken Einstellungs­änderungen. In einem Szenario zum Beispiel sehen sich Medizin­studenten als Assistenzarzt mit einer Führungs­kraft konfrontiert, die einen Patienten mit invasiven, riskanten Methoden untersuchen möchte, obwohl diagnostische Indizien das nicht rechtfertigen. Viele Studentinnen und Studenten scheitern daran, sich auf geeignete Weise gegen die Führungskraft durchzu­setzen, was mit einem schweren Schaden für Patienten und Klinik endet.“ Nach Spielende erinnern sie sich dank aktiver Auseinander­setzung und wahrscheinlichem Misserfolg nicht nur besser an forschungsethische Grundsätze, sondern reifen auch in ihrer ethischen Urteilsfähigkeit.

Außerdem beginnen erfolgreiche Lehrveran­staltungen wider die Erwartung, sagt Andorno: „Tritt ein Dozent am Anfang vor die Kursteil­nehmer und präsentiert abstrakte Verhaltens­regeln Artikel für Artikel im Frontal­unterricht, resultiert das häufig in Gleichgültigkeit.“ Weder macht dieses Vorgehen Teilneh­merinnen und Teilnehmer sensitiver für ethische Probleme, noch lernen sie Strategien zu deren Lösung.

Auf den ersten Blick scheint diese Erkenntnis jedoch paradox: Die besten Kurse für gute wissenschaftliche Praxis lehren die Richtlinien guter wissen­schaftlicher Praxis nicht. „Lernende schalten ihren Verstand ab, wenn sie sich vorgefertigter Regeln bedienen können“, erklärt Katsarov. „Außerdem behindert Reaktanz ihren Lernerfolg, also ein psycho­logischer Widerstand dagegen, Normen zu verinnerlichen, deren Notwendigkeit unklar ist und die eher als bürokratische Hindernisse wahrge­nommen werden.“ Andorno ergänzt: „Müssen Teilnehmer hingegen Arbeit reinstecken und ethische Standards selbst entwickeln, lernen sie deren Wert schätzen und verankern sie in ihrem Bewusstsein.“ Mit einem Schmunzeln fügt er hinzu: „Für den Dozenten ist dann der Moment unheimlich zufrieden­stellend, wenn die Teilnehmer erfahren, dass ihre eigenen Sichtweisen den öffentlichen Richtlinien entsprechen.“

Eine unwichtige Rolle spielten laut Meta-Analyse die Gruppengröße, die Anzahl besprochener Fallbeispiele, die Geschlechter­zusammensetzung, die Verwendung von E-Learning-Methoden und die Zugehörigkeit der Teilnehmer zu verschiedenen Fachbereichen – insofern eine Praxisnähe erhalten blieb. Eine mehr als halbtägige Kursdauer hat einen positiven Effekt. Erfolgreiche Kurse verlassen sich außerdem nicht nur auf Gruppen­aktivitäten, in denen sich der Einzelne zurücklehnen kann, sondern fördern mit möglichst wenigen Unterrichts­formen ein aktives, individuelles Engagement. Negativ auf den Wissenserwerb wirkt sich dagegen eine Anwesen­heitspflicht aus, vermutlich weil nur freiwillige Kursteil­nehmer intrinsisch motiviert sind.

Schulungsbedürftige Direktoren

Nun nutzen die didaktisch wertvollsten Kurspläne nichts, wenn sich niemand anmeldet. Das ist derzeit vielleicht die größte Herausforderung, konstatiert Katsarov: „Viele Ansätze scheitern, weil sich Leute über ethische Fragen erhaben fühlen.“ Verhaltens­kodizes zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis werden oft nur als zu unterschrei­bender Teil von Bewerbungs- und Einstellungs­formularen begriffen. In der Praxis gelten sie als wenig hilfreich, denn zu abstrakt und generalisiert sind ihre Leitlinien, zu wenig werden sie den Nuancen individueller Verdachtsfälle gerecht. Sie werden als Soft Skills erachtet, die nebenbei erlernt werden können. „Wären Forscherinnen und Forscher arbeitsrechtlich an konkrete wissen­schaftliche Standards gebunden, stießen entsprechende Kursangebote sicherlich auf größeres Interesse“, glaubt Katsarov.

Zum Abschluss benennt Andorno den eigentlichen Missstand: „Neben Doktoranden sollten deren Doktorväter und Doktormütter, Professoren und Instituts­direktoren Integritätskurse besuchen. Denn sie sind es, die einerseits fast immer involviert sind, wenn wissen­schaftliches Fehlverhalten aufgedeckt wird, und deren Verhalten andererseits in den Grauzonen des wissen­schaftlichen Alltags den größten Einfluss auf Nachwuchs­wissenschaftler hat. Doch aus politischen Gründen werden sie nicht als schulungs­bedürftig erachtet.“ Welcher Seniorforscher möchte sich schon zu Nachschulungen verdonnern lassen?

Henrik Müller

Bild: Diane A. Reid/National Cancer Institute

Dieser Artikel erschien zuerst in Laborjournal 3/2022.


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Letzte Änderungen: 22.03.2022