Editorial

Doppelt verpackt

Juliet Merz


(10.03.2022) MÜNSTER: Das Nervensystem ist ein empfindliches Netzwerk, das es zu schützen gilt. Im Gehirn von Insekten übernimmt diese Aufgabe nicht nur die Blut-Hirn-Schranke, sondern wahrscheinlich auch eine zweite Struktur, die bislang niemand auf dem Schirm hatte.

Wenn das Herz Blut durch unseren Körper pumpt, gelangen unzählige Stoffe in die entlegensten Gefäße, auch in unser Gehirn. Damit die lebensnotwendige Schaltzentrale vor potenziell schädlichen Substanzen oder Pathogenen bestmöglich geschützt ist, schirmt eine Barriere den Blutkreislauf und die Neuronen voneinander ab: die Blut-Hirn-Schranke. In höheren Vertebraten besteht sie vor allem aus einer dicht geschlossenen Endothelzell-Schicht, die die Gefäße auskleidet.

Auch einige Wirbellose haben eine solche Barriere zum Schutz ihres Nervensystems. Bei Insekten beispielsweise besteht die Blut-Hirn-Schranke aber nicht aus Endothelzellen, sondern aus einer zweilagigen Gliazell-Schicht. Doch sie ist nicht die einzige Barriere im Insekten-Gehirn, wie eine Arbeitsgruppe aus Münster kürzlich an Drosophila-Fliegen herausgefunden hat (Nat. Commun. 12: 6357). Dabei wollte Erstautorin Nicole Pogodalla lediglich im Zuge ihrer Doktorarbeit einen speziellen Typ von Gliazellen charakterisieren. „Bislang war zu den sogenannten Ensheathing-Gliazellen nicht viel bekannt, die genaue Funktion der Zellen im Gehirn von Insekten wurde bisher kaum erforscht“, so die frisch promovierte Postdoktorandin aus der Arbeitsgruppe von Christian Klämbt. „Welche Aufgaben sie genau erfüllen, wusste niemand.“ Doch im Laufe der Experimente zur Charakterisierung stießen Pogodalla und ihre Kollegen auf immer mehr Indizien, die allmählich ihre Funktion als Barriere verrieten.

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Blick ins Larven-Gehirn: Besonders auffällig sind die grün leuchtenden Ensheathing-Gliazellen, die das Neuropil ummanteln und dabei auch dessen Form verraten.Foto: N. Pogodalla

Neuronen-Gewusel

Insekten haben keine Venen oder Adern. In ihnen wabert das Blut in einem offenen Kreislauf durch den Körper, der sogenannten Hämolymphe. Inmitten dieses Blutkreislaufes liegt an der Bauchseite der Tiere das Nervensystem, das aufgrund seines segmentalen Aufbaus auch Strickleiternervensystem genannt wird. Es besteht aus mehreren paarweise angeordneten Nervenknoten, den Ganglien, die über weitere Neuronen quer- und längsverbunden sind. Im Kopf verschmilzt das neuronale Netzwerk zu einem großen Oberschlundganglion, das gemeinhin auch als Gehirn bezeichnet wird.

In das Gewusel von Neuronen mischen sich die bereits erwähnten Gliazellen. Letztere haben vielerlei Aufgaben und strecken zusammen mit den Nervenzellen ihre Fortsätze beziehungsweise Dendriten und Axone in das Zentrum der Ganglien, das sogenannte Neuropil. Die Blut-Hirn-Schranke aus der Gliazell-Doppelschicht umschließt wie eine Kabelummantelung das gesamte Nervensystem, nicht aber das im Inneren liegende Neuropil. Diesen Job übernimmt eine separate Zellschicht aus Ensheathing-Gliazellen.

Dass diese dabei als Barriere fungieren könnten, war allerdings nicht bekannt – bis Pogodalla und Co. Experimente mit Fluorophor-gekoppeltem Dextran wagten. In Gehirnen von Wildtyp-Drosophila-Larven sorgten die Ensheathing-Gliazellen dafür, dass die fluoreszierenden Polysaccharide kaum vom Neuropil in die umliegenden Zellschichten diffundierten. Zum Vergleich konnte sich das fluoreszierende Dextran nahezu ungehindert im Gehirn verteilen, wenn die Ensheathing-Gliazellen fehlten. Um das zu erreichen, aktivierte das Forschungsteam in Larven zwei proapoptotisch wirkende Gene, reaper und hid, die im Laufe der Fliegen-Entwicklung die Ensheathing-Gliazellen in den Zelltod trieben. „Die Ensheathing-Gliazellen scheinen die Neuropile vom restlichen Cortex abzuschirmen“, fasst Pogodalla ihre Beobachtungen zusammen und ergänzt ein interessantes Detail: „In Fliegen mit entfernten Ensheathing-Gliazellen versucht eine andere Gliazell-Sorte – die Astrozyten – den Platz der Ensheathing-Gliazellen einzunehmen. Sie verändern ihre Form und versuchen das Neuropil zu umhüllen. Die Abgrenzung beziehungsweise Ummantelung des Neuropils scheint für das Fliegengehirn also eine wichtige Rolle zu spielen.“

Und tatsächlich zeigte sich die Bedeutsamkeit einer intakten Neuropil-Ummantelung durch Ensheathing-Gliazellen in Verhaltensstudien. Zwar waren Drosophila-Larven auch ohne diesen Gliazell-Typ überlebensfähig, allerdings war ihr Bewegungsradius stark eingeschränkt, wie Pogodalla und Co. feststellten: „Normalerweise kriechen die Jungtiere emsig umher, um ins Dunkle zu flüchten oder Futter zu finden“, beschreibt die Postdoktorandin das natürliche Verhalten der Versuchstiere. „Drosophila-Larven ohne Ensheathing-Gliazellen bewegen sich aber kaum noch.“ In adulten Fliegen zeichnete sich ein ähnliches Bild ab: Ihre Mobilität war ebenfalls beeinträchtigt. Zusätzlich konnten die Münsteraner beobachten, dass Drosophila-Fliegen ohne Ensheathing-Gliazellen deutlich mehr schliefen und eine verkürzte Lebensdauer hatten.

Barriere – ja oder nein?

Doch den Ensheathing-Gliazell-Layer als Barriere zu bezeichnen, fiel der Gruppe gar nicht so leicht, wie Pogodalla berichtet: „Der Begriff Barriere ist in der Forschungs-Community nicht genau definiert. Man sagt jedoch, Barrieren grenzen ein oder definieren verschiedene Reaktionsräume. Letzteres trifft auf die Ensheathing-Gliazellen zu, wie wir in den Dextran-Versuchen gesehen haben.“ Und noch ein anderes Merkmal der Gliazellen überzeugte das Münsteraner Team: Sie tragen wichtige Marker, die man auch von polarisierten Epithelzellen kennt – dem Paradebeispiel für Barrieren.

Wenn Epithelzellen polarisieren, türmen sie sich auf und bilden eine apikale sowie basolaterale Seite aus, die sich voneinander unterscheiden. Die basolaterale Membranoberfläche von beispielsweise Haut- oder Darm-Epithelien ist der extrazellulären Matrix und damit dem Körperinneren zugewandt, die apikale Seite schaut quasi nach außen. Die zwei Seiten tragen unterschiedliche Rezeptoren sowie Membranproteine, verfügen aber auch über eine individuelle Lipid-Zusammensetzung ihrer Membran: Während die apikale Seite reich an Phosphatidylinositol-4,5-Bisphosphat (PIP2) ist, enthält die basolaterale Membran mehr Phosphatidylinositol-3,4,5-Trisphosphat (PIP3). „Die Ensheathing-Gliazellen haben eine ähnliche Lipid-Verteilung“, erklärt Pogodalla und spezifiziert: „Sie haben eine hohe PIP2-Konzentration an der apikalen Seite, die dem Neuropil zugewandt ist; PIP3 hingegen ist besonders an der basolateralen Gliazell-Membran konzentriert.“

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Nicole Pogodalla hat aufgeklärt, welche Rolle Ensheathing-Gliazellen im Drosophila-Gehirn spielen. Foto: Raphael Schleutker

Alternative Polarität

Aber nicht nur in der Lipid-Verteilung ähneln Ensheathing-Gliazellen polarisierten Epithelzellen. Als Polaritäts-Marker gelten auch das Zusammenspiel mit einer extrazellulären Matrix und eine spezielle Anordnung von Cytoskelett-Komponenten. Beides trifft auf Ensheathing-Gliazellen zu. Einen Dämpfer in ihrer Barriere-Hypothese verpasste der Gruppe jedoch die Expressions-Analyse von wichtigen genetischen Polaritäts-Merkmalen in Ensheathing-Gliazellen. Pogodalla: „Beispielsweise sind die beiden Gene bazooka oder crumbs wichtig bei der Polarisation in Epithelzellen, in den Ensheathing-Gliazellen waren diese Gene aber überhaupt nicht exprimiert.“ Pogodalla und Co. sprechen deshalb auch von einer alternativen Art der Induktion von Zellpolarität.

Wie es die Ensheathing-Gliazellen schaffen, Stoffe wie das Fluorophor-gekoppelte Dextran vom Neuropil fernzuhalten, bleibt derzeit noch ein Rätsel. Einen Barriere-Faktor konnte die Münsteraner Gruppe allerdings schon festhalten: „Die Gliazellen überlappen sich und verlängern so den Weg, den Stoffe für die Diffusion zurücklegen müssen.“ Von den bekannten Junction-Proteinen, die bei der Blut-Hirn-Schranke von Vertebraten und einigen Wirbellosen dafür sorgen, dass Zellzwischenräume abgedichtet werden, fehlt indes jede Spur. „Bei Ensheathing-Gliazellen haben wir die bei Insekten üblichen Septate Junctions nicht gefunden“, gibt Pogodalla zu.

Vielleicht, so vermuten die Postdoktorandin und ihr Team, gibt es andere abdichtende Junction-ähnliche Proteine, die zwischen überlappenden Ensheathing-Gliazellen sitzen. Das deuten zumindest mehrere Studien bereits an (zum Beispiel J. Comp. Neurol. 509(5): 526-50). Bislang konnten Pogodalla und Co. aber auch diese noch nicht aufspüren, mit einem Elektronenmikroskop soll der Nachweis nun gelingen. Wie es den Ensheathing-Gliazellen gelingt, das Neuropil vom restlichen Cortex abzuschirmen, könnte also bald entschlüsselt sein.

Pogodalla wird sich noch knapp ein Jahr mit den speziellen Gliazellen und ihrer Barrierefunktion beschäftigen. Wohin es sie anschließend zieht, weiß die Postdoktorandin noch nicht. Aber eins steht fest: „In der akademischen Forschung möchte ich aufgrund des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes nicht bleiben – die Zukunft ist mir damit zu unsicher. Obwohl ich die Forschung wirklich sehr mag. Gerade die Ensheathing-Gliazellen haben es mir besonders angetan. Und vielleicht finde ich in naher Zukunft eine Stelle, die mir die gewünschte Sicherheit verspricht und mir die Möglichkeit bietet, weiter an einem spannenden Thema zu forschen.“