Editorial

LEOPARD jagt RNA - Diagnostik-Plattform LEOPARD

Henrik Müller


(13.09.2021) Die Entdeckung ist bahnbrechend: Das prokaryotische Immunsystem CRISPR-Cas9 reagiert nicht nur auf die im CRISPR-Archiv hinterlegten Virus- und Plasmidsequenzen früherer Infektionen. Was dies für die mikrobielle Biologie bedeutet, ist unklar – dem molekularbiologischen Werkzeugkasten eröffnet sie indes ungeahnte Möglichkeiten.

Die CRISPR-basierte Diagnostik verwendet von den etwa vierzig bekannten Cas-Proteinfamilien meist nur die Endonukleasen Cas12 und Cas13. „Werden diese durch eine Erkennungssequenz aktiviert, zerkleinern sie jegliche anwesende Nukleinsäure unabhängig von deren Basenfolge – einzelstränge DNA im Fall von Cas12, RNA im Fall von Cas13“, erklärt Chase Beisel, Gruppenleiter am Würzburger Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI). „Weil auch unspezifische Reporter-Nukleinsäuren Opfer der Endonukleasen werden und das Detektionssignal amplifizieren, lassen sich winzige Mengen einer Probe nachweisen.“ Die vor zehn Jahren zuerst beschriebene CRISPR-Endonuklease Cas9 kann dagegen nur ein einziges Zielmolekül prozessieren – und bindet dieses auch nach dem Zerschneiden der Erkennungssequenz.

Kein Multiplexing

„Auf der anderen Seite lassen sich CRISPR-Cas12/13-Systeme nicht ohne Weiteres multiplexen“, fährt Beisel fort. „Da nicht auf die auslösende Erkennungssequenz rückgeschlossen werden kann, braucht im Diagnostikfall jede Probe ein eigenes Reaktionsgefäß.“ Das ist bei Cas9 anders – da es nur seine spezifische Erkennungssequenz schneidet, lassen sich mehrere Proben gleichzeitig im selben Diagnostikröhrchen detektieren.

CRISPR-Cas-Systeme finden sich in einem Drittel aller Bakterien und drei Viertel aller Archaeen. Ihre Erkennungssequenzen haben sie allesamt im CRISPR-Lokus hinterlegt – dem Genomabschnitt, der neben den Cas-Genen auch die Überbleibsel viraler Infektionen archiviert. Letztere sind dort in Form von 18 bis 30 Nukleotiden langen, als Spacer bezeichneten DNA-Abschnitten codiert und wechseln sich mit konservierten Wiederholungseinheiten ähnlicher Länge ab. Im Fall einer Re-Infektion werden je ein Spacer plus benachbarter Repeat zu einer CRISPR-assoziierten RNA (crRNA) prozessiert. Diese crRNA ist es, die die prokaryotische Immunabwehr zum Eindringling führt, indem ihr Spacer fremdes genetisches Material wiedererkennt, während ihr Repeat das eigentliche Schneidewerkzeug Cas9 bindet – wenn auch nicht auf direktem Weg.

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Cynthia Sharma und Chase Beisel entdeckten, dass die CRISPR-Nuklease Cas9 nicht nur von Guide-RNAs des bakteriellen Immunsystems zu ihren Zielsequenzen geführt wird, sondern auch von zellulären mRNAs – wenn man diese geschickt designt. Aufbauend auf diesem Wissen entwickelten ihre Arbeitsgruppen die CRISPR-Cas9-basierte Diagnostik-Plattform LEOPARD Fotos: HIRI, Hilde Merkert

Denn für die Prozessierung der Cas9-assoziierten crRNA ist im Gegensatz zu den Cas12- und Cas13-Systemen eine weitere RNA notwendig – die trans-activating RNA (tracrRNA). Sie verfügt ebenfalls über Wiederholungseinheiten, die ihrerseits komplementär zu Repeats der crRNA sind. Erst wenn Cas9 eine Haarnadelstruktur der tracrRNA bindet, wird der Ribonukleoproteinkomplex aus Cas9 und crRNA-Repeat/tracrRNA-Anti-Repeat-Duplex durch die Ribonuklease RNAse III in seine reife Form gestutzt. Letztendlich entscheidet dann der Spacer des crRNA-tracrRNA-Doppelstrangs, welche Nukleinsäuresequenz eines Eindringlings geschnitten wird.

Alle bekannten crRNA und tracrRNA entstammen dem CRISPR-Archiv. Doch können auch andere RNAs Cas9 zu ihren Zielen leiten?

Das war eine der Fragen, die Chase Beisel von der North Carolina State University 2018 an die Universität Würzburg mitbrachte. Indessen hebt der W3-Professor hervor: „Unser Projekt entstammt dem Labor meiner langjährigen Kooperationspartnerin Cynthia Sharma [Professorin am Institut für Molekulare Infektionsbiologie der Uni Würzburg]. Seit vielen Jahren studiert ihre Gruppe RNA-Regulatoren verschiedener bakterieller Krankheitserreger, etwa die des Lebensmittelkeims Camphylobacter jejuni. 2018 hatten wir mittels RNA-Immunpräzipitation und -Sequenzierung (RIP-seq) erkannt, dass C. jejunis Cas9 nicht nur doppelsträngige DNA stilllegt, sondern auch einzelsträngige RNA schneidet.“

Welche endogenen RNAs mochte es wohl prozessieren?

Interessantes Sequenzmotiv

Auf der Suche nach einer Antwort spürten die Arbeitsgruppen von Beisel und Sharma in den letzten drei Jahren 205 weitere RNAs auf, die an C. jejunis Cas9 binden und nicht den crRNA- und tracrRNA-Loki des CRISPR-Archivs von C. jejuni entstammen.

Dann kam die Überraschung. Unter den sequenzierten RNAs fanden sich zwei Sequenzmotive: ein 13-Nukleotid-Abschnitt mit Komplementarität zur crRNA und ein 21-Nukleotid-Abschnitt mit Komplementarität zum tracrRNA-Anti-Repeat. Das erste Motiv verblüfft nicht. Schließlich ist es der Job von crRNAs, potenziell gefährliche Nukleinsäuren aufzuspüren. Über das zweite Sequenzmotiv hybridisierte die tracrRNA allerdings nicht mit konservierten crRNAs, sondern mit wirtseigenen mRNAs. Cas9 bindet also tatsächlich auch RNA-Sequenzen, die nicht im CRISPR-Archiv hinterlegt sind.

„Unsere Folgefrage auf diese Entdeckung war so einfach wie weitreichend“, freut sich Beisel noch immer: „Wenn Cas9 mRNA als crRNA akzeptiert, schneidet es auch dessen DNA-Sequenz?“

Nicht-kanonische Leit-RNA

In einem ersten Schritt identifizierten die Infektionsgenetiker acht mRNA-Fragmente, die besonders gut mit den tracrRNA-Anti-Repeats hybridisierten. In einem In-vitro-Translationssystem untersuchten sie dann, ob diese mRNA als nicht-kanonische crRNA (ncrRNA) C. jejunis Cas9 veranlassen, GFP-Reportergene zu zerschneiden. Drei der acht mRNAs verringerten die GFP-Fluoreszenz tatsächlich um mehr als das Zweifache. Zwar reduzierten Original-crRNAs die GFP-Fluoreszenz um das Fünfzehnfache. Aber wenn die Würzburger die ncrRNA mutierten, die Sequenz des tracrRNA-Anti-Repeats durcheinanderbrachten oder anstelle von Cas9 die Cas12-Endonuklease hinzugaben, änderte sich das Fluoreszenzsignal nicht.

Warum die anderen fünf mRNAs Cas9 nicht als ncrRNA dienen, weiß Beisel nicht. Dennoch ist er zuversichtlich: „Auch das Design von Guide-RNA für Cas12 und Cas13 ist selbst mit maschinellen Lernalgorithmen noch eine Herausforderung. Wichtig ist, dass wir den Fuß in der Tür haben. Von Tag zu Tag verstehen wir besser, welche zellulären RNAs die tracrRNA als ncrRNA akzeptiert.“

Das brachte die Würzburger Arbeitsgruppen auf eine weitere Idee, erinnert sich Beisel: „Die tracrRNA dient Cas9 als eine Art Adapter. Wenn sie es ist, die entscheidet, welche Ziel-DNA die Endonuklease per crRNA erkennt, könnte sich eine umprogrammierte tracrRNA einer beliebigen zellulären RNA als ncrRNA bedienen?“

Falls ja, wäre die CRISPR-Cas9-Maschinerie auf jegliche DNA-Zielsequenz ansetzbar.

Sicher ließe sich der tracrRNA-Anti-Repeat mutieren, um eine beliebige mRNA als ncrRNA gefügig zu machen. Doch würde C. jejunis Cas9 eine umprogrammierte tracrRNA akzeptieren, ohne seine enzymatische Funktion zu verlieren? Die Würzburger waren sich unsicher. Ihre einzigen Literaturhinweise stammten von einer orthologen Cas9 des Scharlachbakteriums Streptococcus pyogenes: Bleibt die Haarnadelstruktur in dessen Cas9-Guide-RNA erhalten, können Basen ausgewechselt werden.

Also achteten Beisels und Sharmas Arbeitsgruppen darauf, dass umprogrammierte tracrRNAs – sie bezeichnen sie als Rptr („Raptor“) – stets perfekte Doppelstränge mit mRNAs als ncrRNAs bildeten. Et voilà: Vier ihrer fünf Raptoren reduzierten die GFP-Fluoreszenz von Reportergenen stärker als crRNA-tracrRNA-Kontrollen. Mutierten sie die ncrRNA-Spacer, brachten die Rptr-Anti-Repeats durcheinander oder ersetzten Cas9 durch Cas12 waren die Fluoreszenzsignale dagegen nicht vermindert.

Funktionieren Raptoren neben C. jejunis Cas9 auch mit Endonukleasen anderer Bakterien? Auch die Antwort auf diese Frage ist ja. Mit Streptococcus pyogenes Cas9 und Streptococcus thermophilus Cas9 verringerten sogar alle zehn designten Rptr die GFP-Fluoreszenz von Reportergenen ebenso gut wie crRNA-tracrRNA-Kontrollen.

Beisel fasst zusammen: „Unsere Beobachtungen scheinen für ein breites Spektrum an tracrRNA und CRISPR-Cas9-Systemen gültig zu sein. Bleibt die Sekundärstruktur des mRNA-Rptr-Doppelstrangs erhalten und wird die Vorliebe von RNase III für AT-reiche Doppelstränge beachtet, lässt sich die DNA-Zielsequenz nahezu beliebig wählen.“

Beisel kam im Jahr 2011 als Assistant Professor im Department of Chemical and Biomolecular Engineering an der North Carolina State University erstmals mit RNA-basierten Immunsystemen von Prokaryoten in Berührung. Seitdem interessiert ihn vor allem ihr Einsatz zur Diagnose und Behandlung von Infektionserkrankungen. Es lag also auf der Hand, was Anfang 2020 zu tun war.

In zwei Monaten fertig

Binnen Monaten entwickelten die Arbeitsgruppen der Würzburger einen CRISPR-Cas9-Rptr-basierten Diagnostik-Test, der mehrere Biomarker inklusive Kontrollen im gleichen Teströhrchen unterscheiden kann. Getreu ihres Raubtier-Mottos tauften sie ihre Diagnostikplattform auf LEOPARD – Leveraging Engineered tracrRNAs and On-target DNAs for Parallel RNA Detection.

In den veröffentlichten Proof-of-principle-Experimenten unterscheidet die Plattform von Beisel und Co. zwischen RT-PCR-amplifizierten RNA-Fragmenten von neun Corona- sowie Influenzavarianten – wohl gemerkt in einem einzigen Reaktionsgefäß (Science, doi: 10.1126/science.abe7106). Ihr Protokoll differenziert selbst zwischen Punktmutationen innerhalb eines Virus, wie sie für die D614G-Mutation im SARS-CoV-2-Spike-Protein demonstrierten.

Zusammenfassend erklärt Beisel: „LEOPARD lässt sich auf jede Virusvariante adaptieren. Der Trick besteht darin, die Sequenz des Anti-Repeats eines Rptr so zu justieren, dass sich die Basenunterschiede seiner Ziel-RNA widerspiegeln. Ich sehe keinen prinzipiellen Grund, nicht auch viele andere Krankheiten und Pathogene so zu diagnostizieren. Gleichzeitig kann LEOPARD anhand humaner RNA evaluieren, ob eine Probe korrekt genommen wurde. Gerade in Zeiten globaler Epidemien erleichtern solche Kontext-Informationen epidemiologische Entscheidungen.“

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Schema der SARS-CoV-2-Detektion mit der Diagnostik-Plattform LEOPARD Illustration: HIRI, Sandy Westermann (vergrößern)

Noch beschränkte Probenzahl

Noch vertraut LEOPARD auf eine elektrophoretische Auftrennung geschnittener Zielsequenzen – entweder per konventionellem Agarosegel oder mikrofluidisch in einem Bioanalyzer. Mehr als ein Dutzend DNA-Proben lassen sich aus praktischen Gründen also noch nicht im selben Reaktionsgefäß auswerten. Dafür detektiert das gegenwärtige Protokoll attomolare RNA-Konzentrationen – das entspricht einzelnen SARS-CoV-2-Genomen. Und der LEOPARD jagt selbst in Gegenwart von einhundertmal mehr Fremd-RNA noch beutespezifisch.

Dass sich mit einer derartigen Sensitivität Patientenproben analysieren lassen, ist natürlich auch Beisel und Sharma bewusst. Deshalb nutzten sie die Möglichkeiten des Medizincampus der Universität Würzburg und evaluierten in einer ersten Studie neun RT-qPCR-klassifizierte, SARS-CoV-2-positive und -negative Nasenabstriche. LEOPARD fand Wildtyp- und D614G-SARS-CoV-2-RNA ausschließlich in positiven Proben, die mRNA von RNase P als Abstrichkontrolle in allen Proben, C.-jejuni-mRNA in keiner. Bisher arbeitet die Diagnostik-Plattform also ohne falsch positive und falsch negative Treffer. Natürlich ist die statistische Aussagekraft von neun Proben eingeschränkt.

Hochskalierte Protokolle

Wie viele DNA-Proben LEOPARD gleichzeitig überprüfen kann, lässt Beisel offen: „Unsere gegenwärtigen Anstrengungen sind darauf ausgerichtet, alle Protokolle hochzuskalieren. Gelelektrophorese oder Bioanalyzer sind in einer klinischen Umgebung natürlich unpraktisch. Mit Mikroarrays oder Next Generation Sequencing ließen sich dagegen Hunderttausende DNA-Sequenzen simultan überprüfen. Auch sind Lateral-Flow-Assays denkbar, wie sie ja von CRISPR-Schnelltests bereits bekannt sind. So oder so stellt eine parallele Diagnose Hunderter DNA-Sequenzen einen enormen Fortschritt in der Diagnostik dar.”

Trotz dieser vielversprechenden Aussichten hält die Zukunft Herausforderungen für Beisel bereit: „LEOPARD muss schneller werden“, erklärt er. „Unser aktuelles Protokoll benötigt einen halben Tag. Doch erst wenn zwischen Probennahme und Ergebnis nur Minuten verstreichen, wäre das revolutionär. Einerseits müssen wir dafür eine extraktionsfreie Methode entwickeln, um Proben für LEOPARD vorzubereiten. Für einen portablen Test müssen wir außerdem unsere Multiplex-Detektion mit Amplifikationsmethoden wie Recombinase Polymerase Amplification (RPA) oder Loop-mediated Isothermal Amplification (LAMP) kombinieren. Oder wir amplifizieren unser Detektionssignal über tracrRNA-abhängige Cas12-Nukleasen. Mal sehen, was am besten funktioniert.”

Um danach einen kommerziellen Diagnostiktest zu etablieren, ist eine universitäre Ausgründung für Beisel die zukunftsträchtigste Möglichkeit. Ihr Spin-off-Potenzial bestätigte bereits das Bayerische Staatsministerium mit einem Medical Valley Award. Und auch die BMBF-Fördermaßnahme GO-Bio Initial unterstützt sie darin, CRISPR-Cas9 ans Patientenbett zu bringen. Viel Erfolg!