Zu spät oder zu heftig?
(12.01.2021) Welche Rolle spielt das Immunsystem bei schweren und leichten COVID-19-Verläufen? Entstehen Schäden auch durch die körpereigene Abwehr?
Nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 dauert es meist eine knappe Woche bis zum Symptombeginn – falls der Infizierte überhaupt Symptome zeigt. Es beginnt mit Halsschmerzen, Abgeschlagenheit, manchmal auch mit Fieber oder leichtem Schnupfen. Auch der Großteil schwerer Verläufe beginnt mit diesen recht milden Symptomen – erst in den Folgetagen zeigt COVID-19 dann seine vielen Gesichter. Warum aber entscheidet sich meist erst nach zwei Wochen, welchen Verlauf die Erkrankung nimmt?
Schnell war klar, dass nicht allein das Virus für diese Verläufe verantwortlich sein kann, sondern wohl auch die Immunabwehr über das Ziel hinausschießt. Besorgniserregend lesen sich in diesem Zusammenhang beispielsweise die Ergebnisse einer chinesisch-US-amerikanischen Kooperation: Die Forschenden berichteten Anfang November über Autoantikörper in COVID-19-Patienten, die Thrombosen begünstigen sollen (Sci. Transl. Med.: eabd3876).
Erinnert an bekanntes Syndrom
Nach wie vor ist unklar, warum im Rahmen von COVID-19 immer wieder Gefäßschädigungen oder Schlaganfälle auftreten. Die Endothelien der Blutgefäße produzieren zwar das ACE2-Protein, das dem Virus als Rezeptor und Einfallstor dient, andererseits ist SARS-CoV-2 normalerweise nicht im Blut nachweisbar. Das Autorenteam hat Blut von 172 hospitalisierten Patienten untersucht und findet in etwa der Hälfte der Fälle Antikörper gegen körpereigene Phospholipide oder Phospholipid-bindende Proteine. Solche Autoantikörper kannte man zuvor vom Antiphospholipid-Syndrom. Die Folge: Eine erhöhte Neigung zur Blutgerinnung, was zu den Gefäßschäden schwerer COVID-19-Verläufe passt.
Ein überschießendes oder schlecht reguliertes Immunsystem als Treiber eines schweren Verlaufs: In dieses Bild fügt sich auch Dexamethason ein. Das entzündungshemmende Glucocorticoid hat sich in der Pandemie bewährt, um schwere COVID-19-Verläufe bei deren Beginn abzumildern.
Ein Immun-Phänomen
An der Berliner Charité geht Leif Erik Sander immunologischen Fragen zu COVID-19 nach. „Autoreaktivität spielt wohl eine Rolle“, ordnet er die zahlreichen Ergebnisse aus den Publikationen der vergangenen Monate ein. Gerade beim Long-COVID, jenen „Nachwehen einer COVID-19-Erkrankung“, wie es Sander nennt, könnten Autoantikörper mitmischen, die als Reaktion auf die Infektion freigesetzt werden.
„Schweres COVID-19 ist ein Immun-Phänomen“, glaubt Sander. Allerdings spricht er nicht gern vom „Zytokinsturm“. „Das hält sich hartnäckig in Literatur und Presse, doch ich glaube, das stimmt so nicht.“ Denn die Spiegel proinflammatorischer Zytokine seien bei einer Sepsis um viele Größenordnungen höher als bei schwerem COVID-19. „Andere Entzündungsparameter wie das C-reaktive Protein sind aber stark erhöht“, fährt er fort. Somit gilt es also, die immunologischen Biomarker differenzierter zu betrachten und nicht voreilig mit anderen Immun-Überreaktionen über einen Kamm zu scheren.
Langfristige Spuren
Auch Winfried Pickl vom Institut für Immunologie der Medizinischen Universität Wien wirft einen Blick auf langfristige Spuren, die SARS-CoV-2 im Immunsystem hinterlässt. Er und weitere Wiener Forschende haben ihre Resultate im Oktober vorab online veröffentlicht (Allergy, doi: 10.1111/all.14647). 109 Probanden hatten die Wissenschaftler zu ihren Symptomen befragt und deren Blut auf immunologische Marker untersucht. Alle 109 Studienteilnehmer hatten milde Krankheitsverläufe – womit gemeint ist, dass niemand intensivpflichtig wurde und nur acht von ihnen kurzzeitig ins Krankenhaus aufgenommen wurden.
Trotzdem zeigten die Probanden im Vergleich zu einer Kontrollgruppe auch zehn Wochen nach der Erkrankung weiterhin immunologische Veränderungen. So war die Anzahl der neutrophilen Granulozyten verringert. „Das sind ja unsere Bakterienfresser im Blut und Gewebe“, erklärt Pickl den Befund. Dafür sind die T-Helferzellen nach wie vor in erhöhter Anzahl unterwegs. „Interessant ist, dass auch die zytotoxischen Zellen noch klare Aktivierungszeichen zeigen“, ergänzt Pickl. Doch wogegen kämpfen diese Leukozyten? Dass noch aktives Virus im Körper vorhanden ist, hält der Immunologe für unwahrscheinlich, denn PCR-Tests sind nach dieser Zeit schon längst wieder negativ. „Die zytotoxischen T-Zellen brauchen aber Antigen-Präsentation, damit sie aktiv sind“, und so fragt sich Pickl: „Wie lange verweilt ein Fremd-Antigen im Körper?“ Möglicherweise verbleiben inaktive Virusbestandteile noch wochenlang in lymphatischen Geweben und halten die Leukozyten auf Trab.
„Was ebenfalls erstaunlich und gleichzeitig beruhigend ist“, fährt Pickl fort, „ist, dass nach dieser Zeit noch ein relativ großes Gedächtnis vorhanden ist – sowohl von T-Helferzellen als auch den B-Zellen“. Zwar habe sein Team das noch nicht Antigen-spezifisch abgeklärt, sondern stützt sich dazu auf eine rein phänotypische Charakterisierung – doch man sei jetzt dabei, sich diese Immunität genauer anzuschauen.
Ein Henne-Ei-Problem
Auch wenn die Ergebnisse verschiedener Studien in unterschiedliche Richtungen zeigen oder sich gar zu widersprechen scheinen, so kristallisiert sich doch heraus, dass COVID-19 zwar viral ausgelöst wird, im weiteren Verlauf aber zu einer immunologischen Erkrankung wird. Doch ist es die Infektion selbst, die bei einigen Menschen das Immunsystem verändert? Oder gibt es umgekehrt immunologische Eigenschaften, die jemanden mehr oder weniger empfänglich für einen schweren COVID-19-Verlauf machen? Dieses Henne-Ei-Problem zu lösen, könnte auch beim Umgang mit der Pandemie helfen. Vor allem, wenn man geeignete Biomarker hätte, um früh vorauszusagen, wer wahrscheinlich schwer erkrankt und wem man frühzeitig welche immunmodulierenden Medikamente verabreichen sollte. Sicher wird sich manch ein Puzzleteil, das derzeit so gar nicht passen will, am Ende doch in ein entsprechendes Gesamtbild einfügen.
Mario Rembold
Bild: Babraham Institute
Dieser hier stark gekürzte Artikel erschien zuerst in Laborjournal 12-2020.
Weitere Artikel zum Thema:
- Wunderwaffe hinterfragt
Derzeit wird viel an mRNA-basierten Impfstoffen geforscht. Doch ist es überhaupt plausibel, auf diesem Weg das Immunsystem zu erreichen? Wir fragen nach bei Leif Erik Sander.
- Wahrscheinlich unbedenklich
Es häufen sich Berichte über Autoimmunität nach SARS-CoV-2-Infektionen. Im Verdacht stehen Antikörper im Spenderplasma von Rekonvaleszenten.