Unser leuchtendes Erbe
(29.09.2020) Das Buch „Blueprint“ gibt spannende Einblicke in die Entwicklung der menschlichen Zivilisation und hilft, sich und die Umwelt besser zu verstehen.
Die DNA ist die Grundlage aller Lebewesen. Unsere Gene beeinflussen nicht nur, wie wir aussehen, sondern auch wie wir uns fühlen und verhalten. Der Mediziner und Soziologe Nicholas A. Christakis ist jedoch der Meinung, dass unserem biologischen Erbe ein viel zu schlechter Ruf vorauseilt. Zu lange hat sich die wissenschaftliche Gemeinschaft auf die Neigung der Menschheit zu Gewalt, Grausamkeit und Eigeninteresse konzentriert – damit möchte der Autor nun brechen. In seinem Buch „Blueprint“ verrät der Yale-Professor, wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen. Dabei nimmt er den Leser mit auf eine Reise durch die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen – von den Sozialwissenschaften über die Evolutionsbiologie bis hin zu Genetik, Neuro- sowie Netzwerkwissenschaft.
Christakis vergleicht dabei drei Formen von Gemeinschaften – die zufällige (zum Beispiel Schiffbrüchige), die geplante (Kommunen) und die künstliche (Internetspiele) – und entlarvt dabei erstaunliche Parallelen. Er demonstriert anhand dieser, wie sich Gesellschaften bilden und dass unsere Gene dazu einen ordentlichen Beitrag leisten. Denn die Grundpfeiler einer funktionierenden Gesellschaft sind in unserem Erbgut verankert und finden sich auch bei anderen Tierarten wieder – zum Beispiel die Fähigkeit zu lieben, Freundschaften zu bilden, Kooperationen einzugehen oder zu lernen.
Leider ist „Blueprint“ gerade zu Beginn etwas schleppend. Die Erzählungen über Schiffbrüchige, Kommunen und Polarforscher sind ernüchternd, vor allem wenn Christakis nach über 130 Seiten revidiert: „Aus drei Gruppen von Polarforschern, 20 Schiffsbesatzungen oder 60 Kommunen lassen sich kaum zuverlässige Schlüsse ziehen.“ Wozu dann das Ganze?
Von Liebe und Freundschaft
Glücklicherweise steigt mit jedem Kapitel, von denen es insgesamt zwölf gibt, die Spannung. Besonders faszinierend sind dabei (zumindest für die Rezensentin) die Einblicke in die Kulturen unterschiedlicher Menschenvölker aus Südamerika, Afrika oder dem Himalaya-Gebirge. Im fünften Kapitel enthüllt Christakis, wie Menschen auf dem ganzen Planeten romantische Beziehungen eingehen – und wie verschieden diese sein können. Zum Beispiel glauben einige Kulturen, etwa in Amazonien, dass ein Kind mehrere Väter haben kann und dass das Baby wie eine Art Schneeball durch die Ansammlung von Samen entsteht (Seite 186) – die in Industrienationen verbreitete Monogamie ist dort fehl am Platz. Oder hätten Sie gedacht, dass Küssen in manchen Kulturen in Afrika, Süd- sowie Zentralamerika alles andere als normal ist. Etwa bei den in Zentralbrasilien lebenden Tapiapé – und das, obwohl sogar Schimpansen und Bonobos kussähnliches Verhalten an den Tag legen (Seite 159).
Wie ein roter Faden ziehen sich spannende und fesselnde Fakten durch das gesamte Buch. Und gerade diese Fülle an Informationen empfiehlt, das Buch nicht nur einmal zur Hand zu nehmen. Denn „Blueprint“ regt auch zum Nachdenken an und kann dabei helfen, nicht nur das eigene Verhalten und soziale Umfeld besser zu verstehen, sondern auch aktuelle Geschehnisse auf der ganzen Welt einzuordnen.
In „Blueprint“ kommt auch die Forschung nicht zu kurz. So gibt der Autor dem Laien interessante Einblicke in die Welt der Wissenschaft und wie eine wissenschaftliche Studie funktioniert. Christakis greift hier auf der einen Seite immer wieder auf seine eigene Forschung im Human Nature Lab der Uni Yale zurück. Auf der anderen Seite führt Christakis unzählige Berichte, Interviews und Forschungsergebnisse an, die er mit ebenso vielen Zitaten belegt. Bei insgesamt 600 Seiten nimmt die Referenzliste mit über 100 Seiten fast 20 Prozent des Werkes ein und bietet über das Buch hinaus eine erstaunliche Quelle für die eigene Recherche.
„Blueprint“ ist ein durch und durch empfehlenswertes Buch. Trotz des schweren Einstiegs entpuppt sich das Werk von Christakis als besonders aufklärend und sollte wohl von jedem Menschen einmal gelesen werden. Denn es bietet einen tiefen Einblick in das menschliche Zusammenleben und deshalb ein hervorragendes Orientierungswerkzeug. Und auch wenn die Welt immer verrückter zu werden scheint, gibt „Blueprint“ Hoffnung. Denn der Mensch hat auch eine „leuchtende Seite“, die aber „bislang nicht die Aufmerksamkeit erhalten [hat], die sie verdient“ (Seite 19).
Juliet Merz
Bild: Pixabay/Mahmoud-Ahmed (DNA)
Im demnächst erscheinenden Laborjournal (Ausgabe: 10/2020) haben wir weitere Buch-Rezensionen „rund ums Gen“ für Sie vorbereitet.
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Nicholas A. Christakis:
Blueprint – Wie unsere Gene das gesellschaftliche Zusammenleben prägen
Fischer Verlag (2019)
Sprache: Deutsch
600 Seiten,
Preis: 26 Euro (gebunden), 19,99 Euro (E-Book)