Wenn Sie mit solch großen Datensätzen arbeiten, besteht dann nicht die Gefahr, dass im Ergebnis lediglich der kleinste gemeinsame Nenner herauskommt und sich interessante Befunde herausmitteln?
Walter: Das ist eine absolut richtige Schlussfolgerung. Wenn wir sehr viele Leute untersuchen, können wir nicht mehr so gut differenzieren. Eine neue Herausforderung bildgebender Neuroforschung ist daher, auf der einen Seite zwar auf große Probandenzahlen zurückgreifen zu können, um eben immer diesen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ zu finden. Andererseits aber brauchen wir neue statistische Ansätze, um wiederum Aussagen über Subgruppen oder idealerweise sogar Einzelpersonen treffen zu können. Die meisten Studien aus der klinischen Bildgebung sind immer noch Querschnittstudien. Man schaut sich zwei oder drei Gruppen im Querschnitt an und ermittelt Unterschiede oder Assoziationen mit klinischen Merkmalen. Inzwischen interessieren wir uns vor allem für Längsschnittstudien, die den Verlauf einer Erkrankung abbilden. Wir hoffen, so auch Voraussagen treffen zu können. Also Prädiktion statt Assoziation. Dabei greifen wir zum Beispiel auf Machine-Learning-Methoden zurück, um statistisch zuverlässiger zu differenzieren (Prog Neuropsychopharmacol Biol Psychiatry, 91: 113-21).
Was würden Sie gern besser voraussagen können?
Walter: Uns interessieren besonders Fragen mit klinischer Relevanz. Kann man zum Beispiel bei Menschen mit Depressionsdiagnose vorhersagen, wer auf welche Therapien am ehesten anspricht? Können wir vorhersagen, ob ein Patient mit einer ersten depressiven Episode eine uni- oder bipolare Störung entwickelt? Oder können wir über Bildgebung oder Verhaltenstest herausfinden, bei wem wir ein Medikament relativ gefahrlos absetzen können?
Was haben Sie dazu bisher herausgefunden?
Walter: Noch nichts, was in die klinische Routine Eingang gefunden hätte. Langsam setzt sich die Einsicht durch, dass es weder die Depression, noch die Schizophrenie gibt, sondern viele Subgruppen mit unterschiedlicher Pathophysiologie. Um verlässliche Befunde zu finden, müssen wir also immer mehr Personen untersuchen. Uns interessieren dabei vor allem spezifische, klinisch relevante Fragen. In einem Projekt namens AiDA etwa haben wir erforscht, bei welchen Patienten man ein Antidepressivum wieder absetzen kann – das wollen wir nämlich nur bei einem niedrigen Rückfallrisiko.
Und Sie hoffen, dieses Rückfallrisiko im MRT zu erkennen?
Walter: Wir haben dazu nun eine erste vielversprechende Publikation. Dieses Ergebnis bezieht sich aber nicht auf Bildgebungsbefunde, sondern auf ein Verhaltensexperiment. Der Proband spielt ein Gewinnspiel, bei dem er Einsatz, Gewinn und Anstrengung gegeneinander abwägen muss. Wir nennen das Effort-based decision-making. Über ein computationales Modell errechnen wir dann die Wahrscheinlichkeit für einen Rückfall. Erstautorin dieser Arbeit ist Isabel Berwian (JAMA Psychiatry, 77(5): 513-22).
Der Patient spielt also in regelmäßigen Zeitabständen ein Spiel oder macht einen Verhaltenstest? Der Arzt sieht das Ergebnis und entscheidet, wie er die Therapie fortführt?
Walter: Ja, das wäre ein Beispiel. So etwas könnte man als App auf dem Smartphone anbieten, und es lässt sich natürlich sehr viel besser für die breite Masse hochskalieren als ein MRT-Verfahren. Deswegen sind wir sehr daran interessiert, unsere Bildgebungsuntersuchnungen, wo immer möglich, auch mit einfachen Tests zu kombinieren. Also zunächst untersuche ich in Laborexperimenten das Gehirn und gleichzeitig das Verhalten erkrankter Personen und suche nach Zusammenhängen. Später in der klinischen Anwendung setze ich dann nur noch das Verhalten ein.
Sind Depressionen oder andere psychische Erkrankungen denn wirklich Hirnerkrankungen mit messbaren strukturellen Veränderungen?
Walter: Depressionen sind auch Hirnerkrankungen, aber in einem anderen Sinne als Alzheimer oder ein Schlaganfall. Letztere sind Vorgänge, die einmal losgetreten praktisch nur innerhalb des Gehirns ablaufen. Aber bei Depression oder Angststörungen spielen Umweltfaktoren eine wichtigere Rolle. Eine gewisse emotionale Verletzlichkeit kann für den einen sogar ein Vorteil sein und das Gehirn besser funktionieren lassen, wenn er unter den richtigen Umwelteinflüssen aufwächst und lebt. Wir können deshalb nicht erwarten, dass wir rein hirnbasierte Marker finden werden, auf denen klinisches Handeln basieren kann. Ein anderes Problem ist aber auch, dass unsere bildgebenden Methoden womöglich noch nicht gut genug sind. Zum Beispiel, wenn man sich Pädophilie anschaut: Das ist ein sehr stabiles Merkmal, man hat es oder hat es nicht.
Pädophilie ist also angeboren?
Walter: Das kann man so nicht sagen. Es ist ja auch möglich, dass die Weichen dafür im sehr frühen Kindesalter gelegt werden. Denken Sie an Ihre Muttersprache: Sie werden keine zweite Sprache jemals so gut beherrschen, dennoch ist Ihnen die Muttersprache ja nicht angeboren. Worauf ich aber hinaus will: Ich war mir sehr sicher, dass wir bei einem so stabilen Merkmal wie der Pädophilie irgendwelche stabilen Signaturen im Gehirn finden werden.
Und die konnten Sie nicht nachweisen?
Walter: Nicht so klar wie erwartet. Die meisten gefundenen Unterschiede bezogen sich nicht auf die sexuelle Präferenz, sondern darauf, ob eine Person mit pädophilen Präferenzen auch Täter war. Pädophilie als Präferenz ist nicht gleichzusetzen mit sexuellem Kindesmissbrauch. Nicht jeder pädophile Mensch wird zum Täter, und ungefähr die Hälfte der Täter bei Kindesmissbrauch sind gar nicht pädophil. Die Korrelationen bezogen sich aber vor allem auf pädophile Täter im Vergleich zu pädophilen Nicht-Tätern. Da ging es sowohl um strukturelle Unterschiede, aber auch um Empathie, moralische Urteilsfähigkeit und die Inhibitionsfähigkeit des Gehirns. Nun waren das alles aber nur Querschnittuntersuchungen, und daher wissen wir noch nicht: Sind diese Auffälligkeiten nun Ursache oder Folge des Verhaltens?
Hierzu haben Sie eine Studie veröffentlicht, in der Sie schlussfolgern, dass man viele Facetten in Betracht ziehen müsse, wenn man Pädophilie als Präferenz einerseits und sexuelle Übergriffe auf Kinder andererseits neurobiologisch verstehen und sauber differenzieren will (J Abnorm Psychol, 128(5): 453-64). Wer eine pädophile Neigung hat, ohne das zu wollen – und ausreichende moralische Urteilsfähigkeit und Empathie mitbringt, der muss ja dann einen enormen Leidensdruck haben, oder?
Walter: Das stimmt. Sie müssen sich vorstellen, Sie hätten eine Neigung in sich, die Sie selber verurteilen, über die Sie mit niemandem sprechen können und die Sie niemals ausleben dürfen. Für diese Leute haben wir an der Charité übrigens auch eine Anlaufstelle. Das Projekt „Kein Täter werden“ wird vom Sexualmediziner Klaus Beier geleitet. Das Team dort bietet Betroffenen Therapie an, damit sie nicht zum Täter werden.
Wenn man nun über Hirnscans oder eine Spiele-App Depressionsrisiken oder vielleicht sogar pädophile Neigungen ermitteln könnte, dann birgt das doch auch gesellschaftliche Probleme. Zum Beispiel, wenn der Arbeitgeber oder die Krankenversicherung solche Tests verlangt.
Walter: Vollkommen richtig, und dieses Problem ist umso größer, je zuverlässiger solche Vorhersagen werden. Wissenschaftlich und als Ärzte und Therapeuten würden wir uns natürlich eine hohe Vorhersagefähigkeit wünschen. Aber diese ethischen Fragen stellen sich natürlich ebenfalls, und besonders klar wird das am Beispiel der Pädophilie.
Das Gespräch führte Mario Rembold
Foto: privat