Fest und flüssig zugleich
Dies versteht man, wenn man sich ihren Aufbau anschaut. Im Prinzip bestehen Quallen aus einer geleeartigen Substanz, die zwischen zwei Epithelien gequetscht ist. Die Gallerte ist das Bindegewebe der Qualle, die Mesogloea, und macht den größten Teil der Qualle aus. Sie besteht zu etwa 96 Prozent aus Wasser und ist für den Physiker ein Gel, also eine leicht verformbare, elastische Substanz, die gleichermaßen Eigenschaften von Flüssigkeiten und Festkörpern besitzt. „Dänische Physiker kamen deshalb auf die Idee, die Qualle als Modell für ein lebendes Gel zu verwenden“, erklärt Vilgis. „Aus Sicht der Grundlagenforschung ist das ein wundersam, einfaches – weil molekular übersichtliches – ‚Objekt‘. Auf jeden Fall ist es das schmackhafteste und spannendste Beispiel an Gelen, das mir während meiner foodphysics-Tätigkeit über den Weg ‚lief‘ und immer noch läuft.“
Gemeinsam mit Flüssigkeiten, Schäumen, Flüssigkristallen, Polymer-Schmelzen, Polyelektrolyten (z. B. das Absorbermaterial in Windeln), kolloidalen Suspensionen wie Tinte und Blut, Gummi, Tensiden und jeder Menge biologischer Materialien gehören Gele zur weichen Materie, die in der Physik als Modellsystem dient, um grundlegende Phänomene wie etwa Selbstorganisation, nicht-lineare Materialeigenschaften, Phasen- bzw. den Glasübergang zu untersuchen.
Das Quallen-Gel besteht aus Polymeren, die eine große Menge an Lösungsmittel aufnehmen und dadurch anschwellen können. Die etwa ein Prozent organische Materie der Mesogloea enthält Strukturproteine wie Kollagen und Elastin sowie wasserlösliche Mucoproteine (Proteine, die Zuckerketten tragen, die wiederum Aminozucker enthalten) und Polysaccharide. Das Kollagen sorgt für die Stabilität des Quallen-Körpers, Elastin für dessen elastische Beweglichkeit. Beim Erhitzen denaturiert es zu Gelatine, beim Trocknen zerfällt es und damit auch der Quallen-Körper. Kulinarisch kein Genuss!
Gerben statt einlegen
Mithilfe zweier Salze, Natriumchlorid und Alaun, einem schwefelsauren Aluminiumsalz, werden die Quallen in der asiatischen Küche im Prinzip gegerbt, wie es auch mit Leder gemacht wird. Dabei reduziert das Kochsalz die Wasseraktivität, während das Alaun den pH-Wert senkt.
Diese beiden Faktoren spielen auch eine Rolle, wenn Gemüse durch Salz und Essig haltbar gemacht wird – aber eine Essigbehandlung hilft bei Quallen nicht. Stattdessen sind die multivalenten Aluminiumionen wichtig. Ihre Ionenvalenz und der Ionenradius sind genau passend, um die Kollagen-Polymere dauerhaft zu vernetzen. Das Natriumchlorid hat neben der Senkung der Wasseraktivität noch eine weitere Funktion: „Die Ladungen des Elastins sind sehr stark netto positiv. Die müssen erst abgeschirmt werden, damit der Gerbprozess überhaupt funktioniert. Durch die Zugabe von monovalentem NaCl werden die Polyelektrolyte hinreichend auf großer Skala ‚neutral‘ und stoßen sich nicht mehr ab. Die höhervalenten Salze können dann lokal die elektrostatische Bindung ermöglichen“, so Vilgis.
Vor dem Servieren werden die Quallen rehydriert und serviert. Beim Draufbeißen wirken sie knackig, etwa wie ein Apfel oder Spaghetti al dente, erklärt der Forscher. Beim ersten Biss werden die Kollagen-Elastin-Fasern deformiert, wodurch Wasser freigesetzt wird und einen weichen, eher geleeartigen Geschmackseindruck hinterlässt. Beim zweiten Biss nimmt die Kraft zu und die Fasern brechen – die Qualle schmeckt knackig.
Essbares „Glas“
Das Quallen-Gerben funktioniert, aber mit einer Einwirkzeit von einem Monat sehr langwierig. Wer nicht so lange auf seine Spezialität warten möchte, kann jetzt auf eine Methode der molekularen Küche zurückgreifen. Um ein ähnlich interessantes Geschmackserlebnis zu erzeugen, werden die Quallen hierbei in Ethanol getränkt. Dabei handelt es sich um ein schlechtes Lösungsmittel für geladene und polare Mucoproteine sowie Polysaccharide, so dass das Gel kollabiert statt anzuschwellen. Auf diese Weise wird das Netzwerk dichter, und die Qualle elastischer, also gummiartiger.
Das hört sich jetzt noch nicht so lecker an, aber wenn der Ethanol verdampft, kommt es zu einem Glasübergang. Bei Polymeren beruht dieser auf einem „Einfrieren“ der Ketten: „Beim Glas liegen amorphe Strukturen vor, die Mucoproteinketten schnurzeln unter Alkoholeinwirkung zusammen, verschlaufen und verknoten sich wie ein Berg Spaghetti. Wenn der Alkohol verdampft ist und auch kein Wasser mehr da ist, rücken die Moleküle so eng zusammen, dass sie sich nicht mehr weit bewegen können. Beim Beißen auf die Quallen-Chips kann die Energie nicht mehr durch molekulare Bewegung abgefangen werden. Sie brechen wie Glas und schmecken knusprig wie Kartoffelchips oder Cornflakes. Wir finden das im Mund sensorisch lustig, wenn es kracht.“
Deshalb ist Vilgis auch überzeugt: „Mit Sicherheit kommen Quallen-Chips, aber auch analog hergestellte Kartoffel-/Gemüse.Chips irgendwann auf den Markt bzw. in die Restaurants.“ Na dann, guten Appetit!
Larissa Tetsch
M. T. Pedersen, T. A. Vilgis (2019): Soft matter physics meets the culinary arts: From polymers to jellyfish. International Journal of Gastronomy and Food Science, 16, 100135.