Editorial

RNAylierung

von Stefanie Haas (Laborjournal-Ausgabe 1-2, 2024)


(15.02.2024) Es geht ganz schnell. Nach einer halben Stunde gibt es ein E.-coli-Bakterium weniger, aber 150 Bakteriophagen T4 mehr in der Welt. Der Traum vom langen Prokaryoten-Leben ist geplatzt wie die eigene Zellwand. Alles fing damit an, dass das Escherichia-Virus T4 an E.-coli andockte, dessen Zellwand lysierte und die eigene DNA mit dem Bauplan für die nächste Generation in das Bakterium injizierte. Danach begann sofort die Umprogrammierung der Wirtszelle: Die bakterieneigene Maschinerie für Transkription und Translation produzierte nur noch T4-Proteine und das E.-coli-Schicksal war besiegelt. Eine halbe Stunde nach der Infektion war alles vorbei.

Doch wie kann es sein, dass T4 derart schnell die Kontrolle über die Wirtszelle erlangt und sie für die eigenen Zwecke manipuliert? Ganz entscheidend trägt dazu die ADP-Ribosyltransferase (ART) ModB von T4 bei. ARTs übertragen ADP-Ribosyl-Gruppen des Ausgangsmoleküls Nicotinamid-Adenin-Dinukleotid (NAD) auf Proteine. Die Transkription aller T4-Gene folgt einer definierten zeitlichen Abfolge, wobei die ART-codierenden modA- und modB-Gene direkt nach der Infektion exprimiert werden. So kann T4 E.-coli-Proteine frühzeitig ADP-ribosylieren. Eines der ersten Ziele von ModB ist die bakterielle RNA-Polymerase (RNAP). Deren Modifikation trägt dazu bei, dass RNAP bevorzugt die viralen Gene abliest und dadurch die Produktion der E.-coli-Proteine verdrängt. Neben RNAP sind über dreißig weitere manipulierte Bakterienproteine bekannt.

EM-Bild Bakteriophage T4, Foto: M.Müsken/HZIDer Bakteriophage T4 zerstört Bakterien schneller als Antibiotika. EM-Bild: M.Müsken/HZI

Unentdeckte Biochemie

Doch damit nicht genug: Die Arbeitsgruppe um Andres Jäschke an der Universität Heidelberg entdeckte 2016 neben ADP-ribosylierten Proteinen auch solche, die zusätzlich ganze RNA-Moleküle kovalent gebunden hatten. Das war überraschend, denn obwohl Wechselwirkungen zwischen Proteinen und RNA natürlich nichts Ungewöhnliches sind, waren beide Makromoleküle im Rahmen zellulärer Abläufe eher dafür bekannt, nur kurzzeitig miteinander zu interagieren. Bereits zwei Jahre zuvor hatten die Heidelberger in Kooperation mit dem Max-Planck-Institut für terrestrische Mikrobiologie in Marburg die Existenz von NAD-RNAs zeigen können, also RNA-Molekülen, die mit einer NAD-Kappe am 5‘-Ende versehen sind. Neben Bakterien wurden sie mittlerweile auch in Archaeen und Eukaryoten gefunden. Unklar blieb jedoch, wie NAD-RNAs entstehen und was überhaupt deren Rolle ist. Mittlerweile ist bekannt, dass die NAD-Kappe RNAs vor Abbau schützt, dass sie am Export aus dem Kern ins Zytoplasma beteiligt ist und dass sie die Translation der jeweiligen RNA in den Ribosomen beeinflusst.

Alle diese Puzzlestücke führten schließlich zu folgender Hypothese: Die Ribosyltransferasen akzeptieren nicht nur NAD als Substrat, sondern auch NAD-RNAs. Sie katalysieren also nicht ausschließlich die ADP-Ribosylierung, sondern auch die Übertragung von RNAs auf Proteine – die sogenannte RNAylierung.

Der Nachweis dieses bisher unbekannten biologischen Prinzips ist Jäschkes Team nun kürzlich für ModB des Escherichia-Virus T4 gelungen (Nature. doi.org/mdjf): In einer T4-infizierten E.-coli-Zelle werden NAD-RNAs zu einem frühen Zeitpunkt auf definierte Argininreste der ribosomalen Proteine rS1 und rL2 des Translationsapparates der Wirtszelle übertragen. Vermutlich führt diese spezielle posttranslationale Modifikation dazu, dass bevorzugt Phagenproteine in den Ribosomen hergestellt werden und die Produktion bakterieneigener Proteine zum Erliegen kommt. Als Beleg dafür sehen die Forscher, dass bei Phagenmutanten ohne ModB die Umprogrammierung der E.-coli-Zelle deutlich langsamer verläuft. Außerdem werden weniger Viren freigesetzt als beim Wildtyp.

Biomolekulare Chimären

ModB ist also ausschlaggebend für eine schnelle Replikation. Doch welche Reaktion liegt dem nun zugrunde: die ADP-Ribosylierung, die RNAylierung oder beides parallel? Zukünftige Untersuchungen müssen es zeigen. Ebenso gilt es zu verifizieren, ob ARTs nur spezifische RNAs je nach NAD-Kappe auf Proteine übertragen. Und warum unter den T4-ARTs nur ModB Proteine RNAyliert, ist ebenfalls unbekannt.

Zweifelsohne ermöglicht die RNAylierung der synthetischen Biologie ein neues Werkzeug, um definierte RNAs gezielt an Proteine anzuheften. Als eine Art „molekularer Klebstoff“ ließe es sich beispielsweise einsetzen, um spezifische RNA-Protein-Konjugate herzustellen und so die Eigenschaften von Proteinen und Nukleinsäuren kombiniert zu nutzen.

Lassen sich damit vielleicht auch neuartige Therapien entwickeln? ARTs sind nicht auf Phagen beschränkt. ADP-ribosylierte Wirtsproteine wurden auch nach Infektion mit Influenza-, Corona- und HI-Viren beschrieben. Außerdem nutzen nicht nur Viren ARTs. Mit ihrer Hilfe inaktiviert beispielsweise das antivirale Abwehrsystem von Säugetieren im Gegenzug virale Proteine. Somit ist die Entwicklung antiviraler Medikamente denkbar, die die virale Replikation gezielt manipulieren. Darüber hinaus spielen wirtseigene ARTs in Bakterien eine Rolle bei Arzneimittelresistenzen oder fungieren als Toxine, was sie interessant für antibakterielle Therapien macht. Im Menschen sind ARTs unter anderem an der Reparatur von DNA-Einzelstrangbrüchen beteiligt. Inhibitoren von Poly(ADP-ribose)-Polymerasen (PARP) werden in der Immunonkologie bereits als Erhaltungstherapie nach einer Chemotherapie eingesetzt.