Editorial

Quasispezies

von Henrik Müller (Laborjournal-Ausgabe 11, 2023)


(10.11.2023) Quasispezies sind Wolken im Sequenzraum miteinander verwandter genetischer Varianten von Lebewesen oder Viren. Sie entstehen infolge des Gleichgewichts zwischen fehleranfälliger Replikation, Rekombination und Mutation einerseits und dem auf sie wirkenden Selektionsdruck andererseits – letztendlich also aufgrund des evolutionären Wettbewerbs zwischen den Sequenzvarianten einer Spezies.

Ändern sich Umweltbedingungen nicht, etabliert sich über kurz oder lang eine stationäre Verteilung von Mutanten unterschiedlicher Fitness, in der jede eine konstante Häufigkeit innerhalb der Quasispezies hat (Curr Top Microbiol Immunol. doi.org/bwfpc7). Ändern sich die Umweltbedingungen, selektiert die Evolution nicht einzelne Individuen einer Art, sondern deren Quasispezies.

Der Vorteil: Liegt die Genominformation als Mischung von Fehlerkopien vor, kann sich beispielsweise ein RNA-Virus mit höherer Wahrscheinlichkeit an einen neuen Wirtsorganismus, dessen Immunsystem und sonstige Infektionshindernisse anpassen. Fluchtmutationen durchbrechen dann Resistenzen, verursachen neue Symptome oder evolvieren gar in eine neue Spezies. Der Nachteil: Die meisten Fehlerkopien enthalten schädliche Mutationen, die die virale Fitness schmälern. Sie werden negativ selektiert und wurden somit umsonst synthetisiert.

Fehlerraten

Alles Wichtige ist damit eigentlich gesagt. Dennoch lohnt sich ein Blick auf die Details – gerade im zu erwartenden Vorfeld der nächsten Virus-Pandemie. So ergibt es für eine Spezies wenig Sinn, ihr Genom so stabil wie möglich zu halten. Im Gegenteil: Gerade RNA-Viren instrumentalisieren hohe Fehlerraten. Ihre RNA-Polymerasen verfügen über keine Exonuklease-Funktion zur Fehlerkorrektur und treiben so die genetische Diversifizierung ihrer Genome hin zu komplexen Mutantenspektren an. Mit Mutationsraten von 10-4 Substitutionen pro Genom und Replikationszyklus übertreffen RNA-Viren alle anderen Spezies um mehrere Größenordnungen. Tierische Genome in somatischen Zellen mutieren beispielsweise mit einer Rate von 10-8 bis 10-9 Substitutionen pro Generation. Die Mutationsraten von Pflanzen liegen üblicherweise zwischen 10-7 bis 10-9 pro Generation. Selbst DNA-Viren verändern ihr Erbgut nur mit 10-5 bis 10-8 Substitutionen pro Genom und Replikationszyklus.

Offensichtlich korrelieren Genomgröße und Mutationsrate also invers. Doch weitere Parameter spielen eine Rolle. So drückt beispielsweise die Populationsgröße einer Spezies dessen Mutationsrate (Nature. doi.org/grvq9b). Ebenso gehen längere Generationszeiten mit niedrigeren Mutationsraten einher. Jedoch variiert die Mutationsrate einer Spezies auch abhängig vom betrachteten Gewebe und Lebensalter (Trends Genet. doi.org/ccn4wc).

Fehlergrenzen

Fest steht indes: Mutationen machen Quasispezies nicht nur anpassungsfähiger, sondern bringen auch Risiken mit sich. Je reicher beispielsweise ein RNA-Virus an Mutationen ist, umso weniger infektiös ist es im Durchschnitt und umso wahrscheinlicher stirbt es aus. Um zu überleben, müssen Viren ihre Mutationsraten deshalb zwischen Anpassungsfähigkeit und Fitnessverlusten ausbalancieren. Das definiert eine maximale Fehlergrenze, über der die genetische Information einer Quasispezies verloren geht (Vaccines. doi.org/kwt4).

Immunsysteme nutzen diese Fehlerschwellenbeziehung zur Abwehr von Krankheitserregern aus. So können beispielsweise wirtseigene Enzymfamilien wie die Apolipoprotein-B-mRNA-editierenden katalytischen Polypeptide (APOBEC) und die RNA-spezifischen Adenosin-Deaminasen (ADAR) letale Hypermutationen in Influenza-, Masern- und Rifttalfieber-Viren induzieren.

Auch künstlich lässt sich die Fehlerrate während der viralen Replikation mithilfe mutagener Medikamente erhöhen. Bei Arena-, Picorna-, Retro- und Rhabdoviren kann bereits eine zwei- bis dreifache Erhöhung der Mutationsrate in einer Fehlerkatastrophe enden.

Im Gegensatz zu anderen RNA-Viren verfügen Coronaviren unterdessen über eine 3‘-5‘-Exonuklease-Aktivität (ExoN) in ihren NSP14-Proteinen, die ihre Mutationsraten um das 15- bis 20-Fache verringern (RNA Biol. doi.org/fpwchv). Nur dank ihr können sie ihre mit bis zu 32 Kilobasen verhältnismäßig großen RNA-Genome funktionstüchtig halten. ExoN-Knockout-Mutanten von MERS-CoV und SARS-CoV-2 können nicht länger replizieren (J Virol. doi.org/gkdg9z).

Fehlernutzen

Entsprechend lässt sich die Fehlerschwellenbeziehung auch für die Wirkstoffentwicklung gegen SARS-CoV-2 ausnutzen. So treibt das Cytidin-Derivat Molnupiravir die Fehlergenauigkeit der RNA-abhängigen RNA-Polymerase von SARS-CoV-2 in Richtung Fehlerkatastrophe. Das β-d-N4-Hydroxycytidin-Triphosphat konkurriert mit Cytidin-Triphosphat darum, in die Viren-RNA eingebaut zu werden. Einmal integriert, dient es in der nächsten Replikationsrunde als Vorlage und bildet aufgrund seiner Tautomer-Eigenschaften Basenpaare nicht nur mit Guanosin, sondern auch mit Adenosin. Diese Fehlpaarungen verursachen Transitionen von Guanosin zu Adenosin und Cytidin zu Uracil (Viruses. doi.org/grs4s2).

Da Molnupiravir nur Übergangsmutationen induziert und so vermutlich eine Fehlerkatastrophe auslöst, fällt es SARS‐CoV‐2 schwer, gegen das Medikament anzukommen. Tatsächlich sind – im Gegensatz zu anderen Nukleotid-Analoga wie Remdesivir und Protease-Inhibitoren wie Nirmatrelvir – bisher keine Resistenz-vermittelnden Mutationen im SARS-CoV-2-Genom bekannt. Während das Virostatikum in Großbritannien und den USA seit Herbst 2021 zugelassen ist, sprach sich die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) im Februar 2023 mangels eines positiven Nutzen-Risiko-Verhältnisses jedoch gegen eine Zulassung aus.