Editorial

Hygrorezeption

von Henrik Müller (Laborjournal-Ausgabe 10, 2023)


(11.10.2023) Hygrorezeption ist unsere Fähigkeit, über die Haut „nass” zu empfinden. Dabei ist der Mensch – im Gegensatz etwa zu Stabheuschrecken, Bienen, Nachtfaltern und Kakerlaken – gar nicht mit Oberflächenrezeptoren für die Empfindung von Nässe ausgestattet. Wie aber kann er ohne solche Hygrorezeptoren Feuchtigkeit wahrnehmen?

Tatsächlich ist das Konzept „Nässe“ eine Wahrnehmungsillusion, die uns unser Gehirn auf Basis früherer Reizerfahrungen vorgaukelt. Sie ist das Ergebnis einer multimodalen sensorischen Integration: Wir haben gelernt, die Empfindungen, die wir bei Kontakt mit Feuchtigkeit erleben, als „nass“ zu definieren. Doch unabhängig von bewusstem Empfinden ist die Fähigkeit, die Umgebungsfeuchtigkeit wahrzunehmen, auch für autonome Anpassungen entscheidend. So unterdrückt Hautfeuchtigkeit die Aktivität von Schweißdrüsen. Auch löst mangelnde Augenfeuchtigkeit Tränenfluss aus – ein Reflexmechanismus zum Schutz der Augenoberfläche. Genauso entscheidet die taktile Rauheit der Handflächen und deren Fähigkeit, trocken von nass zu unterscheiden, darüber, wie präzise wir etwas greifen können.


Psychophysik

Wie nehmen wir Feuchtigkeit also ganz ohne Hygrorezeptoren wahr? Im Jahr 1900 ließ der Psychologe Isaac Madison Bentley an der Cornell University New York Probanden mit verbundenen Augen ihre in dünnen Gummihüllen steckenden Finger in ein Wasserglas fassen. Auch ohne physischen Kontakt mit der Flüssigkeit nahmen sie Nässe wahr, und zwar umso deutlicher, je kälter das Wasser war (AJP, doi.org/b842rz). Hygrorezeption ist also eng mit unserem Kälteempfinden verbunden. Sinkt die Hauttemperatur, weil Feuchtigkeit auf der Haut verdunstet, wird das als „Nässe“ gedeutet. Je kühler die Empfindung, als umso feuchter wird etwas erachtet (Ergonomics. doi.org/kf9g). Ein warm-feuchter Reiz mit einer Temperatur über der lokalen Hauttemperatur wird hingegen nicht als nass empfunden (Skin Res. Technol., doi.org/f6v3gh).

Feuchtigkeitsunterschiede von 1,6 Mikrolitern Wasser pro Quadratzentimeter Haut können wir bereits wahrnehmen (Text. Res. J., doi.org/dmpdnr) – je nachdem ob der Feuchtigkeitsreiz als statischer oder dynamischer Reiz dargeboten wird (Ergonomics, doi.org/c4gsdr). So kann sich unsere Detektionsschwelle auf bis zu 400 Mikroliter Wasser pro Quadratzentimeter Haut erhöhen (Acta Psychol., doi.org/f4dw6t). Je nasser außerdem etwas ist, umso größer müssen Feuchtigkeitsunterschiede sein, um zwischen ihnen unterscheiden zu können (Skin Res. Technol., doi.org/f6v3gh). Auch spürt behaarte Haut mehr Nässe als kahle Haut (J. Neurophysiol., doi.org/f6gtd2), wahrscheinlich weil die dickere Hornschicht kahler Haut für eine geringere Thermosensitivität sorgt (Science, doi.org/c339tm). Im Gegenzug weist kahle Haut eine höhere räumliche Detektionsschärfe auf als behaarte Haut (Brain Res. Bull., doi.org/ctbt4v).

Kältereize sind also essenziell für Nass-Empfindungen. Allerdings spüren wir Nässe natürlich auch in feuchtwarmen Umgebungen, wenn wir beispielsweise warmes Wasser berühren oder sich unsere Hauttemperatur durch sportliche Betätigung erhöht. Denn neben thermischen Hinweisen spielen auch taktile Empfindungen eine Rolle. Liefern thermosensorische Hinweise nur unzureichende Sinneseindrücke, helfen Tastsinnesempfindungen aus – etwa in Form der Klebrigkeit eines nassen Materials auf der Haut (Acta Psychol., doi.org/f4dw6t). Allerdings löst nur schwacher mechanischer Druck in Form leichter Berührungen ein Nässe-Gefühl aus. Zu hoher Druck wird wieder als weniger kalt und weniger feucht empfunden (Neuroscience, doi.org/f5qnnz).

Neurophysiologie

Über welche neuronalen Mechanismen werden Kälte- und taktile Reize integriert? Die molekularen Details sind unklar. Bekannt ist: Myelinisierte Aδ-Nervenfasern und nicht-myelinisierte C-Nervenfasern leiten Temperaturempfindungen an den Tractus spinothala­micus des Rückenmarks weiter. Die Aδ-Fasern feuern hauptsächlich bei Temperaturen zwischen 20 und 30 Grad Celsius. C-Fasern sind für 30 Grad Celsius oder mehr zuständig. Wie werden sie aktiviert? Durch Transiente Rezeptorpotenzial (TRP)-Kationenkanäle, die in den Zellmembranen der freien Nervenendigungen von Aδ- und C-Fasern präsent sind und auf spezifische Temperaturbereiche zwischen 0 und 50 Grad Celsius reagieren. Werden sie stimuliert, erhöhen sie das Ruhemembranpotenzial ihrer Nervenenden und lösen temperaturspezifische sensorische Signale aus.

Der Tastsinn der Haut wird hingegen durch Mechanorezeptoren vermittelt, also korpuskuläre Nervenendigungen der Spinal- und Trigeminalganglien des Rückenmarks, die von mechanischen Reizen wie Dehnung und Druck aktiviert werden und ihre Impulse über Aß-Fasern der dorsalen Säule der medialen Lemniskusbahn weiterleiten. Es existieren vier Klassen an Mechanorezeptoren: Meissner-Körperchen für Druckveränderungen, Merkel-Zellen für die Druckintensität, Ruffini-Körperchen für Dehnungsreize und die Vater-Pacini-Körperchen für Vibration.

Erneut sind es bestimmte Kationenkanäle, in diesem Fall epitheliale Natrium (ENaC)- und zwei-porige Kalium (KCNK)-Kanäle sowie TRP-Kanäle, die die Mechanotransduktion initiieren. Ob sie aktiviert werden, wenn sich die Lipiddoppelschicht der Zellmembran dehnt, sich das Cytoskelett spannt oder sich die extrazelluläre Matrix verformt, ist allerdings noch Gegenstand verschiedener Forschungsprojekte.

Unbekannt ist außerdem, wo genau Kälte- und taktile Reize zu einem Nass-Gefühl kombiniert werden. Erfolgt das bereits auf subcorticaler Ebene? Oder doch erst im somatosensorischen Cortex? Fest steht jedenfalls: Das menschliche Gehirn benötigt beide Signalarten, um eine neuronale Repräsentation eines Nässe-Reizes zu erzeugen. Egal ist es hingegen, ob tatsächlich Feuchtigkeit vorhanden ist. Liegen beide Sinneseindrücke vor, kommt einem so ziemlich alles nass vor (J. Neurophysiol., doi.org/f6gtd2).