Editorial

Exerkine

von Henrik Müller (Laborjournal-Ausgabe 9, 2023)


(08.09.2023) Sport ist die beste Medizin, heißt es. Laut WHO sollten Erwachsene pro Woche 2,5 bis 5 Stunden mäßig oder 1,5 bis 2,5 Stunden intensiv Sport treiben (Br J Sports Med. doi.org/ghmpgt). Denn bekanntermaßen verbessert körperliche Ertüchtigung die kardiovaskuläre, metabolische und neurologische Gesundheit und beugt Fettleibigkeit und Erkrankungen des Alters vor. Niemand würde widersprechen. Unklarheit herrscht allerdings darüber, wie der menschliche Körper Sport biomechanistisch in erhöhte Fitness und Widerstandskraft übersetzt. Schon eine einzige Trainingseinheit verändert die Expression von 10.000 molekularen Analyten im Körperkreislauf (Cell. doi.org/gg2d78). Entsprechend unzureichend sind Wirkmechanismen erforscht.

Vielfältige Exerkine...

Bekannt ist: Training verändert die Gewebekommunikation über Exercise-derived Factors, kurz Exerkine. Dabei handelt es sich um keine klar definierte Klasse an Biomolekülen, sondern um einen Oberbegriff für alle humoralen Faktoren, die Gewebe als Reaktion auf akute oder chronische Belastung freisetzen und die über autokrine, parakrine oder endokrine Signalwege wirken. Derzeit sind über 300 Exerkine bekannt. Zu ihnen zählen – je nach Art der Kategorisierung – Cytokine, Metaboliten, Hormone und Neurotransmitter sowie Peptide, Lipide, microRNA, mRNA und mitochondriale DNA. Exerkine können direkt in den Blutkreislauf sezerniert oder durch extrazelluläre Vesikel wie etwa Exosomen transportiert werden.

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Illustr.: Nach Abb. 1 in Int. J. Environ. Res. Public Health. doi.org/kk5x

Das erste, im Jahr 2000 entdeckte Exerkin war das Cytokin Interleukin-6 (IL-6), dessen Konzentration im Blut nach körperlicher Betätigung rasch ansteigt (J Physiol. doi.org/c3nqw6). Es wird durch Muskelkontraktion freigesetzt und kontrolliert zusammen mit den Myokinen Interleukin-7 und Myostatin die Muskelmasse und dessen Reparatur. Der vaskuläre endotheliale Wachstumsfaktor (VEGF), Angiopoietin 1 und Interleukin-8 wiederum regulieren die Gewebeangiogenese und den Blutfluss. Die Myokine Irisin und Myonectin hingegen modulieren den Stoffwechsel von Leber, Fett- und Immunsystem. Auch die Myokine Musclin, Interleukin-15, Apelin, Decorin und Lactat werden als Reaktion auf körperliche Betätigung sezerniert und lenken die mitochondriale Biogenese sowie die myocytäre Substratverwertung. Apelin wirkt außerdem dem mit fortschreitendem Alter zunehmenden Abbau von Muskelmasse und Muskelkraft entgegen.

Doch Skelettmuskeln sind nicht die einzigen Sekretionsorgane von Exerkinen. Neben den Myokinen der Muskulatur setzt das Herz Kardiokine frei, die Leber Hepatokine, das Nervensystem Neurokine und die weißen und braunen Fettgewebe Adipokine beziehungsweise Batokine. Entsprechend dieser Vielfalt finden sich Rezeptoren für Exerkine im gesamten Körper von der Skelettmuskulatur über Leber, Bauchspeicheldrüse, Herz, Knochen, Epithel-, Binde- und Fettgewebe bis hin zu Immun- und Nervenzellen. So vermitteln die Adipokine TNF-α, Adiponectin, Visfatin, Omentin-1 und Leptin beispielsweise die positive Wirkung körperlicher Aktivität bei Personen mit Übergewicht und Fettleibigkeit (Obes Rev. doi.org/ghc8gk).

Die Myokine Irisin und Cathepsin B, das im Knochen freigesetzte Osteocalcin, die Adipokine Leptin und Adiponectin sowie die Hepatokine FGF-21 und IGF-1 fördern hingegen die Neurogenese – selbst bei Erwachsenen – und beeinflussen die synaptische Plastizität und die Gesundheit des Gehirns (Int Rev Neurobiol. doi.org/hqt2). Schon ein siebenwöchiges Laufprogramm vergrößerte den Hippocampus und verbesserte die Gedächtnisleistung von Versuchsteilnehmern fortgeschrittenen Alters (PNAS. doi.org/dmzvzm). Im Fettgewebe wiederum fördern Exerkine die Lipolyse, die Freisetzung von Fettsäuren und den Glucosestoffwechsel. In der Leber verbessern sie die Fettsäureaufnahme, in der Bauchspeicheldrüse die Insulinsekretion. Die aufgeführten Beispiele stellen nur eine Teilmenge der bekannten Organokine und ihrer Wirkorte dar. Mehr Details verrät der im letzten Jahr veröffentlichte Review „Exerkines in health, resilience and disease“ (Nat Rev Endocrinol. doi.org/gpqhqh).

...im gesamten Körper

Alle Organokine interagieren miteinander und beeinflussen sich wechselseitig. Doch nicht nur dieses Interaktionsnetzwerk macht die Untersuchung von Exerkinen zur Mammutaufgabe. Die Literatur ist voll von Studien, die gegenteilige Wirkungen bestimmter Exerkine aufzeigen – und das meist auf Unterschiede in der Art, Intensität und Dauer der absolvierten Trainingseinheiten zurückführen. Auch beeinflussen die Fitness und der Ernährungszustand von Studienteilnehmern ihre jeweilige Exerkin-Ausschüttung. Nichtsdestotrotz genießen Exerkine den Ruf, Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems wie etwa koronare Herzkrankheiten und des Stoffwechsels wie etwa Typ-2-Diabetes oder Fettleibigkeit positiv beeinflussen zu können. Vielleicht erlauben sie es sogar, „Trainingspillen“ zu entwickeln, die den Effekt körperlicher Betätigung simulieren – ohne dass dessen schweißtreibender Aufwand nötig wäre. Sport wäre dann nicht länger die beste Medizin.