Editorial

Topologisch assoziierte Domänen (TAD)

von Henrik Müller (Laborjournal-Ausgabe 6, 2023)


(14.06.2023) Gene sind die alleinigen Bausteine der Evolution? Nicht ausschließlich. Eine Anpassung an Umweltbedingungen findet nicht nur statt, wenn codierende DNA-Sequenzen mutieren und damit die Häufigkeiten bestimmter Allele in einer Population verändern. Auch die Regulation von Genen ist Spielball evolutionärer Kräfte. Regulatorische Elemente liegen im Genom oft auf demselben Chromosom wie das von ihnen kontrollierte Gen – meist nur wenige Kilobasen stromabwärts oder stromaufwärts. Silencer und Enhancer können aber auch Hunderte Kilobasen von „ihren“ Promotoren entfernt vorkommen und benötigen dann eine präzise Chromatinfaltung, um zu interagieren. Entsprechend sind Genome im Nucleus nicht per Zufall gepackt. Ihre 3D-Struktur ist ebenfalls evolutionären Prozessen unterworfen.

Ordnung ist das halbe Leben, …

Die meisten Chromosomen von Metazoen enthalten selbst-interagierende Regionen, sogenannte topologisch assoziierte Domänen (TAD), deren DNA-Sequenzen physikalisch häufiger miteinander wechselwirken als mit Sequenzen außerhalb der TAD. Sie können Tausende bis Millionen Nucleotide lange Sequenzen umfassen. Vermutlich sind sie die Basis für Replikationsdomänen, also jenen Regionen des Genoms, die während der S-Phase der Zellteilung gleichzeitig repliziert werden (Nature. doi.org/f6rh48).

TADs entstehen durch einen scheinbar in allen Eukaryoten konservierten Mechanismus der Schleifen-Extrusion. Eine zentrale Rolle spielen dafür Kohäsine, also jene Proteinkomplexe, die die Schwesterchromatiden während der Replikation der DNA in der Mitose als auch die homologen Chromosomen bei der Tetradenbildung der Meiose aneinanderbinden. Jedes Kohäsin besteht – ähnlich wie Handschellen – aus zwei verbundenen Ringen. Wird eine Chromatinfaser durch beide Ringe gefädelt und bewegen sich die Ringe dann in entgegengesetzter Richtung auf der DNA entlang, wächst zwischen ihnen eine DNA-Schleife. Immer weiter entfernte Loci der linearen DNA gelangen so nacheinander in räumliche Nähe. Die Schleifenbildung stoppt, sobald beide Untereinheiten des Kohäsins auf CCCTC-bindende Faktoren (CTCF) treffen. Entsprechend interagieren DNA-Loci, die durch CTCF-Bindungsstellen voneinander getrennt sind, weniger häufig miteinander. Oder anders ausgedrückt: CTCF-Bindungsstellen stellen TAD-Grenzen dar.

Doch ganz so einfach ist es nicht: Zum einen interagieren auch aufeinanderfolgende CTCF-Stellen untereinander und können an TAD-Grenzen charakteristische „Eckschleifen“ bilden, die die stromaufwärts und stromabwärts einer TAD gelegenen Sequenzbereiche verbinden. Zum anderen liegen TADs in einer superspiralisierten Topologie vor, was die intra-TAD-Kontakte weiter erhöht. Vermutlich ist es auch ein Supercoiling, das den Schleifenbildungsmechanismus steuert. Außerdem sind allein für das Zink-Finger-Protein CTCF knapp 80.000 unterschiedliche CTCF-Bindungsstellen in 19 humanen Zelllinien bekannt (Genome Res. doi.org/f37scm). Und neben CTCF tragen weitere multifunktionale Transkriptionsfaktoren wie etwa Ying Yang 1 (YY1) zur Schleifenbildung bei. Einen aktuellen Überblick erlaubt ein 2023 erschienenes Review von Rafael Acemel und Darío Lupiáñez vom Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (Curr Opin Genet Dev. doi.org/gr4sgp).

… doch Unordnung macht kreativ

Wahrscheinlich existieren TADs oder TAD-ähnliche Organisationsstrukturen im gesamten Baum des Lebens von Prokaryonten bis hin zu Pflanzen und Tieren. In manchen Stämmen und Unterstämmen des Tierreichs wie etwa den Ringelwürmern, den Plattwürmern, den Tausendfüßern und den Spinnentieren fehlen sie aber auch. Zumindest existieren keinerlei Studien, die ihr Vorhandensein dort belegen. Dennoch setzt sich der Großteil heutiger Genome vermutlich aus TADs unterschiedlichen Alters zusammen. In Wirbeltieren sind etwa 40 Prozent aller TADs konserviert; etwa 60 Prozent haben sich im Laufe der Evolution verändert. Nur ein Prozent aller humanen TADs sind nicht in mindestens einem anderen Säugetier vorhanden (BMC Biol. doi.org/j877).

Ein solcher Konservierungsgrad lässt es schon ahnen: Genomische Umstrukturierungen der TAD-Organisation können tiefgreifenden Einfluss auf Organismen haben. Werden TADs verlagert, entwickeln weibliche Maulwürfe beispielsweise Ovotestes, also Keimdrüsen, deren ovarieller Teil funktionstüchtige Eizellen produziert, während der Hodenteil den Testosteronspiegel erhöht (Science. doi.org/grprk6). In Rochen dagegen erklärt eine evolutionäre Umorganisation von TADs die Morphologie ihrer umhangartigen Brustflossen (Nature. doi.org/j5w3). In Mäusen und Menschen wiederum sind Immunitätsgene für Transkriptionsfaktoren, Cytokine und Immunrezeptoren häufig von genomischen Umstrukturierungen betroffen, die bisherige TAD-Grenzen durcheinanderbringen und fremden Enhancer-Elementen Einfluss auf weit entfernte Genompositionen gestatten (Cell Rep. doi.org/j88s). Trägt eine Neuorganisation von TADs vielleicht dazu bei, dass sich Immunitätsgene schneller entwickeln als die meisten anderen Gene?

Wenn TAD-Grenzen verloren gehen, können aber auch Negativfolgen resultieren. So kann ihre Neuorganisation Entwicklungsstörungen verursachen wie etwa Polydaktylie, also die Missbildung von Gliedmaßen (Trends Genet. doi.org/f8h9n4). Auf eine Neuordnung von TAD-Grenzen können außerdem Wachstumsvorteile für Krebsarten wie Gliome (Nature. doi.org/gd2x6q), Darmkrebs (Nature. doi.org/f9gw69) und T-Zell-akuter lymphatischer Leukämie (Science. doi.org/f3s2s5) folgen.

Wie häufig TAD-Umlagerungen indes Phänotypen evolvieren lassen, ist unbekannt. Sicher ist: Veränderungen der 3D-Chromatinfaltung tragen weniger zu einem sprunghaften Entstehen neuer Eigenschaften bei als zur Feinabstimmung von mRNA-Spiegeln und Transkriptionszeitpunkten. Für das Feld der Evolutionsgenomik eröffnen sie vielleicht dennoch eine neue Ära von Entdeckungen.