Editorial

Gravitaxis

von Henrik Müller (Laborjournal-Ausgabe 5, 2023)


(15.05.2023) Während Leben über die letzten vier Milliarden Jahre entstand und sich entwickelte, blieb nur ein Umweltparameter allzeit konstant: die Schwerkraft. Sie prägte maßgeblich, welche Formen lebende Systeme annahmen. Erst als Antwort auf die Schwerkraft entwickelten sie rigide Strukturen, um Flüssigkeitsströme zu regulieren (MDPI. doi.org/j498) und Bewegung zu gewährleisten (Front Pediatr. doi.org/j499). Entsprechend nutzen auch alle derzeit lebenden Organismen die Graviperzeption, um sich einen evolutionären Vorteil zu verschaffen. Ihren Wahrnehmungssystemen ist eines gemein: Sie verwenden eine Masse – entweder ihren gesamten Zellinhalt oder einen sedimentierenden Statolithen – um auf Gravirezeptoren einzuwirken, die ihrerseits eine physiologische Anpassung etwa in Form einer Orientierungsbewegung vermitteln.

Nicht einfach ist es indes, die Gravitaxis – also die Reaktion eines frei beweglichen Organismus auf die Schwerkraft – auch zu untersuchen. Schließlich lässt sich die Gravitation unseres Planeten nicht abschalten. Feldversuche müssen daher in Höhenforschungsraketen und Satelliten sowie auf Parabelflügen und Raumfahrtmissionen an Bord von Space Shuttles oder der Internationalen Raumstation durchgeführt werden.

Gravirezeptoren

Zur Untersuchung der Gravitaxis bieten sich aufgrund ihrer relativen Einfachheit mobile Einzeller an. So zeigten beispielsweise Experimente in langsam rotierenden Zentrifugen an Bord von Höhenforschungsraketen, dass der photosynthetische Flagellat Euglena gracilis bereits auf Schwerkraftänderungen von 0,12 x g reagiert (Adv Space Res. doi.org/fsbzbs). Als Schwerkraftrezeptoren dienen dem Augentierchen mechanosensitive Transient Receptor Potential (TRP)-Kanäle an seiner Flagellenbasis. Werden sie durch den Schwerkraftdruck des gesamten Zellinhalts aktiviert, strömen Calcium-Ionen entlang eines zuvor errichteten Ionengradienten ein. Der sekundäre Botenstoff Calmodulin bindet die Kationen und veranlasst eine Adenylyl-Cyclase, über cAMP die Proteinkinase A zu aktivieren, die ihrerseits Proteine im Inneren der Geißel phosphoryliert. Das Flagellum verbiegt sich, was sein Schlagmuster beeinflusst. Als Folge korrigiert Euglena seine Schwimmbahn und richtet sich relativ zum Schwerkraftvektor neu aus.

Auf Schwerkraftreize reagieren übrigens nicht nur mobile Mikroorganismen, die ihren Standort über Wimpern oder Geißeln ändern können. Auch Saccharomyces cerevisiae beispielsweise spürt die Gravitation. So verklumpen einzelne Hefezellen in simulierter Mikrogravitation schneller mit ihren Artgenossen und bilden außerdem Knospen an mehr als zwei Polen (Appl Environ Microbiol. doi.org/d5ttw6). Das Wie und Warum ist indes unklar.

Gravitropismus

Mehrzellige Eukaryoten nutzen zur Graviperzeption nicht länger nur das Gewicht von Zellinhalten. Pflanzen, deren Wachstumsrichtung ja maßgeblich von der Schwerkraft reguliert wird, verfügen in ihren Wurzel- und Sprossenspitzen über spezialisierte Endodermiszellen – sogenannte Statozyten. In ihnen agieren Stärke speichernde Amyloplasten als Statolithen, die entlang des Schwerkraftvektors sedimentieren (Semin Cell Dev Biol. doi.org/gf4xbh). Indem sie Druck auf Aktinfilamente des Cytoskeletts ausüben, werden erneut Calcium-Kanäle aktiviert, die ihrerseits die cytosolische Calcium-Konzentration erhöhen. Die darauffolgenden Schritte der Signalkaskade sind zwar schlecht verstanden. Bekannt ist aber: Die Kaskade endet damit, dass sich der intrazelluläre Fluss von Auxinen, also Phytohormonen wie zum Beispiel Indol-3-Essigsäure, ändert. Wurzelspitzen wachsen daraufhin in Richtung der Schwerkraft, Sprosse orientieren sich hingegen negativ gravitrop (NPJ Microgravity. doi.org/j4pf).

In vielzelligen Tieren übernehmen schließlich Statolithen-Organe die Graviperzeption. Statolithen heißen dann Otolithen und bestehen häufig aus Calciumcarbonat-Körperchen, die in die gallertartige Matrix von Statolithenmembranen eingebettet sind. Durch ihre Masseträgheit bewegen sie sowohl bei Schwerkraftreizen als auch bei Translationsbeschleunigungen die Gallertmembran und ziehen die Stereocilien von Haarzellen mit sich. Das öffnet einmal mehr Kationen-Kanäle, die das Membranpotential der Haarzellen ändern und schlussendlich Neurotransmitter freisetzen. Auf diese Weise können beispielsweise Menschen bereits Beschleunigungen von nur 0,2 Meter pro Sekundenquadrat wahrnehmen, also 0,02 x g. Zum Vergleich: Damit ein Fahrzeug binnen zehn Sekunden 100 Kilometer pro Stunde schnell fahren kann, muss es mit 2,8 Meter pro Sekundenquadrat beschleunigen.

Doch nicht nur Gleichgewichtsorgane nehmen Gravitation wahr. Die Schwerkraft beeinflusst vielerlei: die Selbstorganisation von Mikrotubuli und damit des zellulären Cytoskeletts (Biophys Chem. doi.org/fv69vp), die Differenzierung mesenchymaler Stammzellen in Osteoblasten oder Adipozyten (Bone. doi.org/d7v9hz) sowie die Expression von Genen, die die circadiane Rhythmik regulieren und die Methylierung und Struktur von Chromatin modifizieren (Physiol. Genomics. doi.org/f67nvr). Wie lebende Zellen außerhalb von Vestibularsystemen mechanische Reize wahrnehmen und in biochemische Reaktionen umwandeln, ist meist noch nicht gut verstanden.

Gravitation jenseits der Erde

Deren Erforschung verfolgt mitunter praktische Zwecke. Als Ziele zukünftiger Raumfahrer gelten beispielsweise Mond und Mars, deren Kolonisierung allerdings davon abhängen wird, ob Nahrungsmittel vor Ort angebaut werden können. Bei einer Gravitation von 0,17 x g auf der Oberfläche des Mondes und 0,38 x g auf der Oberfläche des Mars haben Pflanzen aber Schwierigkeiten, ihre Wachstumsrichtung zu regulieren. Sie werden stärker von Lichtreizen als einziger verfügbarer Orientierungshilfe geleitet. Zum ersten Mal in der Entwicklung des uns bekannten Lebens verlöre die Gravitation also ihre Bedeutung.