Editorial

Nucleophagie

von Henrik Müller (Laborjournal-Ausgabe 4, 2023)


(18.04.2023) Obwohl der Zellkern das genetische Material schützt und die Genexpression steuert, kann er abgebaut werden. Die Rede ist dann von Nucleophagie als einer Form selektiver Autophagie. Doch welchen Sinn ergibt es, die eigene Kontrollzentrale loszuwerden?

Autophagie ist ein hochselektiver und streng kontrollierter Abbauprozess im Inneren eukaryotischer Zellen. Drei Hauptarten sind bekannt: Makroautophagie, Mikroautophagie und Chaperon-vermittelte Autophagie. Bei Ersterer umschließen Membranen des endoplasmatischen Reticulums die zum Abbau markierten Strukturen und bilden ein Autophagosom, das mit einem Lysosom fusioniert. Dessen Hydrolasen bauen alle Inhaltsstoffe ab. Die Mikroautophagie kommt dagegen ohne Autophagosomen aus. Eine lytische Organelle nimmt das zu degradierende Material über Membran-Einstülpungen auf. Bei der Chaperon-vermittelten Autophagie hingegen erkennen cytosolische Chaperone die abzubauenden Proteine und geleiten sie zu Rezeptoren auf der Lysosomen-Membran.

Schlüsselrollen in den meisten Abbauwegen spielen der ULK1 (Unc-51-ähnliche Autophagie-aktivierende Kinase 1)-Komplex, der PI3K (Phosphatidylinositol-3-Kinase)-Komplex sowie mehrere Proteine aus der Familie der Autophagy-Related Proteins (Atg) Vor allem Stressfaktoren wie Nährstoffmangel, DNA-Schäden und reaktive Sauerstoffverbindungen aktivieren sie. Selbst komplette Organellen wie etwa beschädigte Mitochondrien, die ihr Membranpotenzial verlieren, werden von Isolationsmembranen des Autophagosoms versiegelt und Lysosomen zugeführt. Neben Mitochondrien können auch Peroxisomen, also die Entgiftungsapparate der Zelle, recycelt werden.

Hausputz bei Pilzen

Zurück zur Ausgangsfrage: Warum sollten nicht-apoptotische Zellen über einzelne Organellen hinaus ihren Zellkern abbauen? Wenig ist darüber in Säugerzellen bekannt. Ganz anders in Hefen, in denen die Nucleophagie geschädigter Teile des Zellkerns – von Nucleoli und Chromatin über Histone und Kernporenkomplexe bis hin zum Nucleoplasma – und sogar ganzer Zellkerne untersucht ist. So baut beispielsweise Saccharomyces cerevisiae bereits nach wenigen Stunden Stickstoffmangel, bei Nährstoffentzug oder bei Rapamycin-Behandlung Kernbestandteile über einen als „piecemeal microautophagy of the nucleus (PMN)“ bezeichneten Prozess ab. Dafür bildet die Kernmembran der Hefe Ausstülpungen, die nach und nach von Einstülpungen der Vakuolenmembran umschlossen werden. Letztendlich fusionieren die Membranstrukturen, und vakuoläre Hydrolasen gelangen ans zu degradierende Kernmaterial. Auch kann eine gescheiterte DNA-Reparatur in S. cerevisiae eine Autophagie des Chromatins von Mikrokernen auslösen. Hefen vermeiden dadurch die nachteiligen Auswirkungen aneuploider Zellen mit von der Norm abweichender Anzahl an Chromosomen und bewahren ihre Genomstabilität. Details beschreibt ein Review in Cell Death & Differentiation (doi.org/jzwg).

Eine Makroautophagie ganzer Zellkerne ist darüber hinaus vom Fadenpilz Aspergillus oryzae bekannt, dem – aufgrund seiner Bedeutung für die Herstellung von Sake, Miso und Sojasauce – nationalen Mikroorganismus Japans (Biosci Biotechnol Biochem. doi.org/gfwbf6). Seine Hyphen enthalten Zellen mit mehreren Kernen, deren Abbau die Pilzzellen jedoch nicht abtötet. Ganz im Gegenteil, die Abbauprodukte tragen durch Nährstoffrecycling zur Zellproliferation an den Hyphen-Enden bei. Nucleophagie agiert also als eine Art Nährstofflieferdienst für kontinuierliches Gewebewachstum.

Säuger machen Ausnahmen

Im Gegensatz zu Pilzen geben Säugetier-Zellen besser auf ihren Zellkern Acht. Meist behalten sie ihn ein Leben lang. Nur drei Ausnahmen sind bekannt, bei denen Nucleophagie sogar unerlässlich ist. Zum einen degradieren die Epithelzellen der Augenlinse neben allen anderen Organellen auch ihren Zellkern, um eine transparente Linsenstruktur zu erzeugen. Reife Linsenfaserzellen sind nur noch mit dicht gepackten Strukturproteinen, sogenannten Crystallinen, gefüllt. Auch Erythroblasten stoßen noch im Knochenmark ihren Zellkern ab, um zu deformierbaren Erythrocyten zu reifen, die sich selbst durch engste Kapillaren zwängen können. Makrophagen fressen die als Pyrenocyten bezeichneten Kernüberbleibsel auf. Pro Sekunde stoßen im menschlichen Körper 2,5 Millionen Erythrocyten ihre Zellkerne auf diese Weise ab. Schließlich verdauen Keratinocyten in der Basalschicht der Oberhaut binnen weniger Stunden alle Organellen inklusive dem Zellkern, um als ausgetrocknete Corneocyten zu einer zähen Hornschicht zu erstarren und eine epidermale Wasserbarriere zu bilden. (Nucleus. doi.org/jzwh). An keinem dieser drei Prozesse ist übrigens die Apoptose-Maschinerie beteiligt.

Im Allgemeinen ist in höheren Lebewesen jedoch noch wenig über Nucleophagie auslösende Mechanismen und ihre Signalkaskaden bekannt. Fest steht: Nucleophagie ist nicht selten. Sie ist in Pilzen bis Säugetieren konserviert. Makronucleophagische Vorgänge scheinen sogar bei Krebs und neurodegenerativen Erkrankungen von Bedeutung zu sein (Cell Death Differ. doi.org/jzwg).

Unsterblichkeit?

Darüber hinaus verdeutlichen Experimente an Caenorhabditis elegans, dass Nucleophagie die Größe von Nucleoli beschränkt, die ihrerseits als Biomarker für das Alter eines Organismus dienen: Je größer die Kernkörperchen, umso älter die Zelle. Ein Recycling von Kernbestandteilen bewahrt scheinbar die Kernarchitektur, erhöht die Stressresistenz und verhindert Alterungsprozesse (Nat Aging. doi.org/grj5nd). Würde die Wiederverwertung von Zellkernbestandteilen hochreguliert, erlangten Körperzellen dann Keimbahn-ähnliche Eigenschaften inklusive verlängerter Lebensspanne? Falls ja, würden die Nucleophagie fördernde Substanzen auch die Zellalterung in Säugerzellen verzögern?