Editorial

Virovorie

von Henrik Müller (Laborjournal-Ausgabe 3, 2023)


(09.03.2023) Was sind die zahlenmäßig erfolgreichsten Mitbewohner unserer Erde? Tatsächlich belegen die 1030 bis 1031 Bakterien und Archaeen unseres Planeten nur Platz zwei. Um das Zehn- bis Hundertfache häufiger noch sind Viren und Bakteriophagen.

Sie besiedeln nahezu alle terrestrischen und marinen Ökosysteme – von den hydrothermalen Schloten der Tiefsee über die subglazialen Seen der Antarktis bis hin zu Gesteinsschichten über und unter dem Meeresgrund. Allein jeder Tropfen Meerwasser enthält beispielsweise mehrere Millionen Viren (Nature. doi.org/fprxct). Mit der Meeresgischt und dem Wüstenstaub werden sie sogar bis in die Atmosphäre geschleudert und global verteilt. Ihr Wirtsspektrum umfasst jegliche Organismen – von marinen Bakterien bis hin zu Menschen. Kurzum: Die Virosphäre ist gewaltig. Viren sind die Top-Prädatoren an der Spitze der Nahrungskette. Ihre einzige Bedrohung besteht darin, sich an wandelnde Umgebungen und antivirale Abwehrmechanismen nicht rechtzeitig anpassen zu können. Oder doch nicht?

Symbolbild Stichwort des Monats
Viren befallen alles. Illustr: Univ. of Sydney
Viren-Gourmets

Tatsächlich droht auch Viren die gleiche Gefahr wie allen anderen Organismen: Fressfeinde. Die Arbeitsgruppe um John DeLong von der University of Nebraska-Lincoln kultivierte die Wimperntierchen Halteria sp. und Paramecium bursaria in Wasser, das einzig Grünalgen befallende Chloroviren enthielt. Während die Paramecium-Population unbeeindruckt blieb, vermehrte sich Halteria sp. um das 15-fache. Gleichzeitig sank die Zahl der DNA-Viren in Gegenwart von Halteria sp. binnen zwei Tagen auf ein Hundertstel. Fraßen die Ciliaten die Chloroviren? DeLongs Forschungsgruppe markierte einige der doppelsträngigen (ds) DNA-Viren mit dem Cyanin-Farbstoff SYBR Green, der bei Bindung an dsDNA grün fluoresziert, und wartete. Nach einigen Stunden begannen die Vakuolen der Ciliaten grün zu leuchten (PNAS. doi.org/jwks). Offensichtlich existieren also Einzeller, die auch mit rein viraler Kost gedeihen. Allein ist Halteria sp. mit seinen kulinarischen Vorlieben übrigens nicht. Auch die Ciliaten Euplotes sp. und Paramecium caudatum nehmen Viren über ihre Vakuolen auf (PNAS. doi.org/jwks).

Hinweise darauf, dass Viren als Kohlenstoff-, Stickstoff- und Phosphorquellen dienen können, sind dabei beileibe nicht neu. Bereits vor dreißig Jahren wiesen US-Meeresbiologen darauf hin, dass phagotrophe Nanoflagellaten eine Vielfalt mariner Viren konsumieren, zumindest sobald eine 50-fach geringere Konzentration an Bakterien als Nahrungsquelle zur Verfügung steht. Mit Viren decken Flagellaten laut damaliger Überschlagsrechnungen bis zu 9, 14 beziehungsweise 28 Prozent ihres Bedarfs an Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor, die sie ansonsten aus dem Verdau von Bakterien beziehen (Mar Ecol Prog Ser. doi.org/b9923q).

Seitdem tauchten immer wieder vereinzelte Studien mit ähnlichen Aussagen auf: So fressen Wimperntierchen wie Tetrahymena thermophila beispielsweise die Bakteriophagen T4, T5 und λ, und zwar umso ausgiebiger, je ausgehungerter sie sind (J. Eukaryot. Microbiol. doi.org/ffqsqz). Die marinen Choanoflagellaten Thaumatomonas coloniensis und Salpingoeca sp. hingegen tun sich am Phagen MS2 gütlich (Environ Microbiol Rep. doi.org/f592nk). Im Jahr 2020 sequenzierten Forschungstreibende des Bigelow Laboratory for Ocean Sciences in Maine um Ramunas Stepanauskas schließlich das Erbgut von 1.700 marinen Einzellern aus dem Plankton der spanischen Mittelmeerküste und des Nordwest-Atlantik. Auch ihnen fielen erneut Choanoflagellaten auf, die neben eigenen Nukleinsäuren auch Sequenzen von dsDNA-Bakteriophagen und ssDNA-Viren enthielten. Das überraschte Stepanauskas‘ Arbeitsgruppe insofern, als dass Choanoflagellaten heterotrophe Eukaryoten sind, dsDNA-Bakteriophagen aber gar keine Eukaryoten infizieren. Auch ein Großteil der Viren-DNA stammte von Bakterien-befallenden Viren (Front Microbiol. doi.org/gpmd6x).

Viren-Recycling

Was ist also das Besondere an der letztjährigen Publikation aus dem Labor von John DeLong (PNAS. doi.org/jwks)? Bisher erachtete die Ökosystemforschung Viren meist nur als Pathogene, die Mikroorganismen lysieren und deren Nährstoffe wieder freisetzen. Steven W. Wilhelm und Curtis A. Suttle prägten 1999 dafür den Begriff „viral shunt“ (Bioscience. doi.org/c23dhn). Als Recycling-Mechanismus verhindert es in Modellen aquatischer Nahrungsnetze, dass mikrobielle organische Stoffe aus dem Meer in höhere Ebenen der Nahrungskette gelangen. Durch Virovorie trügen energiereiche Inhaltsstoffe von Viren aber sehr wohl zum Aufbau von Biomasse im globalen Kohlenstoffkreislauf bei. Laut Publikation der Arbeitsgruppe DeLong vertilgte jedes Halteria sp. pro Tag bis zu eine Million Chloroviren – in einem Teich entspricht das einhundert Billionen bis zehn Billiarden verspeisten Virionen pro Tag – und wandelte 17 Prozent der konsumierten Virenmasse an Proteinen, Nukleinsäuren und Fetten in eigene Körpermasse um (PNAS. doi.org/jwks). Damit wäre in aquatischen Lebensräumen ein Wachstum mit Viren als Nahrungsquelle ebenso ertragreich wie der Verdau von Algen oder Bakterien.

In Anbetracht des Reichtums an Viren in Ozeanen, der Häufigkeit an Mikroorganismen im Zooplankton und der planetaren Wassermenge im Allgemeinen stellen Viren also vielleicht eine bisher übersehene Basis globaler Nahrungsketten dar – und sind mehr als ungewollte Pathogene und Prädatoren.