Editorial

Zelle aus Nullen und Einsen

Karin Hollricher, Laborjournal 04/2024


(24.04.2024) Der Begriff „digitaler Zwilling“ stammt aus der Industrie, die NASA verwendete ihn erstmals 2010 in einer Roadmap. Inzwischen konstruieren Forschende auch digitale Zwillinge von biologischen Systemen – ohne maschinelle Lernprogramme hätten sie kaum eine Chance, die komplexen Prozesse in Zellen virtuell darzustellen.

Digitale Zwillinge sind mathematische Modelle beziehungsweise virtuelle Repräsentanten physischer Gegenstände oder Systeme. Per definitionem sind realer und virtueller Zwilling miteinander verbunden und können sich gegenseitig beeinflussen. Erst die massive Steigerung der Rechenleistung von Computern sowie maschinelle Lernprogramme ermöglichten es, sie zu entwickeln. Digitale Zwillinge biologischer Entitäten sind demzufolge mathematische Beschreibungen von Zellen, Geweben, Organen und Systemen, die vom Immunsystem bis zu einem vollständigen Organismus reichen können. Sie simulieren das Verhalten ihrer lebendigen Partner, kommunizieren allerdings nicht direkt mit ihnen.

Forschende arbeiten gegenwärtig insbesondere an digitalen Zwillingen für die Wirkstoffforschung oder individualisierte Therapie, die größten Fortschritte erzielten sie bisher mit digitalen Zwillingen von Herzen. Axel Loewe vom Institut für biomedizinische Technik am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) berichtet: „Man kann heute neben der Morphologie und Mechanik des Herzens auch die molekularen und elektrophysiologischen Vorgänge bei der Erzeugung des Herzschlags digital nachbilden.” Die Form des Herzens lässt sich mit Kernspintomographie-Verfahren, die Erregungsleitung mit Elektrokardiogrammen (EKG) darstellen. Die elektrophysiologischen Gegebenheiten, etwa Ionenkanäle, Membranpotenziale et cetera, sind grundsätzlich bekannt.

Schema digitale Zwillinge
Illustr.: SDTC

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Komplizierte Reizleitung übers Herz

Allerdings gilt auch: „Das Herz jedes Menschen ist einzigartig, Größe und Form variieren, pathologische Herzen sind mitunter anatomisch stark verändert”, erklärt Thomas Pock vom Institut für Maschinelles Sehen und Darstellen der TU Graz, der ebenfalls digitale Herz-Zwillinge entwickelt. Daher müssen viele Herzen tomographisch exakt vermessen, die anatomisch verschiedenen Areale klar definiert und die Simulationssoftware mit diesen Daten gefüttert werden. Forschende müssen aber auch die Art der Reizleitung berücksichtigen. Eine elektrische Welle, die über das Herz läuft, löst den Herzschlag aus. „Über große Herzen läuft die Welle anders als über kleine. Quer zu den Muskelfasern läuft sie langsamer als längs dazu”, so Pock. „Und beschädigte Fasern können keinen elektrischen Reiz leiten, die Welle muss also außen herum laufen. Die Ausbreitung einer Erregungswelle lässt sich mathematisch ausdrücken und somit können wir das Pumpen eines Herzens simulieren.”

Um den Algorithmus zu verbessern, vergleicht man real erhobene Werte mit simulierten und korrigiert die Abweichungen. Auf diese Weise lernt die Software und wird genauer.„Mit solchen wirklichkeitsnahen Computermodellen, die auch wir am KIT entwickeln, lassen sich Störungen der elektrischen Erregung an den Herzen individueller Patienten simulieren und der Ort lokalisieren, an dem die Erregung gestört ist. Sie bieten eine perfekt kontrollierbare Umgebung für Experimente, mit denen man die Effekte einzelner Änderungen, etwa der Gabe von Medikamenten, simulieren und ihre Folgen für das Gesamtsystem berechnen kann“, berichtet Loewe.

Mit den personalisierten Computermodellen will man den Weg zu einer maßgeschneiderten Therapie bereiten. Denn bei bis zu fünfzig Prozent aller Patienten mit Herzrhythmusstörungen führt die Standardtherapie – das Inaktivieren geschädigter oder abgestorbener Muskelfasern – nicht zur Beseitigung der potenziell lebensgefährlichen Herzrhythmusstörung, weil man die Position des betroffenen Gewebes nicht exakt lokalisieren kann.

Wie gut der digitale Herz-Zwilling die Wirklichkeit abbildet, lässt sich aus dem Vergleich des Verhaltens von menschlichem Herzen und digitalem Zwilling erkennen. Bisher erfolgte der Test meist in retrospektiven Studien. Bei diesen vergleicht man die Daten und den Zustand behandelter Patienten mit jenen, die das Modell errechnet. Es existieren aber auch erste prospektive Arbeiten, etwa von Natalia Trayanovas Gruppe an der Johns Hopkins University School of Medicine in Baltimore (USA). Trayanovas Computermodell schlug bei Patienten mit ventrikulärer Tachykardie, einer Rhythmusstörung die von den Herzkammern ausgeht, eine Therapie vor, die auch ausgeführt wurde (Nat. Biomed. Eng. 2: 732-40). Auch bei Patienten mit Vorhofflimmern konnte der digitale Zwilling der Gruppe die Problemregion identifizieren (Nat. Biomed. Eng. 3: 870-79). Hervorzuheben ist, dass man sich damit in der Klinik umfassende Reizleitungsmessungen am Herzen ersparen kann. Klinische Studien stehen in den Startlöchern.

Digitales Herzkammerflimmern

Das Team hat auch Genotyp-spezifische digitale Herz-Zwillinge programmiert. Für jeden Patienten luden die Forschenden die Kernspindaten zur Herzgeometrie sowie die Genomdaten (pathogene und nicht-pathogene Varianten) für das Protein Plakophilin 2 (PKP2) in das Modell. PKP2 ist ein wichtiger Bestandteil von Desmosomen, die die mechanische Integrität des Gewebes sichern. Mutationen im PKP2-Protein führen zum Verlust von Herzmuskelzellen. Anschließend berechneten sie die Lokalisation beschädigter Herzmuskeln sowie die elektrophysiologischen Vorgänge, die das Herzkammerflimmern auslösten. Die Modelle verglich das Team mit den tatsächlichen Untersuchungsergebnissen der Patienten-Herzen und fand eine sehr gute Übereinstimmung (eLife, doi.org/mqg9).

Doch nicht nur an elektrisch erregbaren Zellen kann man Schwankungen des Membranpotenzials messen, sondern auch an nicht erregbaren. Christian Baumgartner, Leiter des Instituts für Health Care Engineering an der TU Graz, berichtet: „Man kann bei Krebszellen beobachten, dass sich das Membranpotenzial mit dem Status des Zellzyklus ändert. Während sich bei Neuronen oder Herzmuskelzellen das Membranpotenzial innerhalb von Millisekunden ändert, passiert das bei sich teilenden Krebszellen im Rahmen von Stunden oder Tagen. Das können wir messen und auch in ein Computermodell überführen.”

Warum ist das interessant? Man könnte testen, ob es möglich ist, die Teilung einer Krebszelle zu unterbinden oder sie sogar in die Apoptose zu treiben, indem man die Funktion bestimmter spannungsgesteuerter Ionenkanäle moduliert. Diese Hypothese könnte man mit digitalen Zwillingen überprüfen – und das Ergebnis mit dem des Laborversuchs vergleichen.

Baumgartner und sein Team entwickelten den weltweit ersten digitalen Zwilling zur Elektrophysiologie einer Krebszelle (PLoS Comp. Biol. 17(6): e1009091). Allerdings bildet er nur das elektrophysiologische System der Krebszelle ab. Andere Signalwege sind nicht implementiert. „Wir arbeiten also mit einem stark vereinfachten System, das nur das Subsystem einer Zelle repräsentiert. Und diese Zelle ist wiederum ein Subsystem eines Tumors und seiner Struktur. Wir fügen unserem Modell nach und nach mehr Informationen hinzu, aktuell beispielsweise solche zum Calzium­-Mechanismus”, erläutert Baumgartner.

Eine andere Spielwiese für digitale Zwillinge ist die pharmazeutische Forschung. Viele neue Wirkstoffe floppen in späten Entwicklungsstadien – selbst wenn sie in den präklinischen Analysen erfolgreich waren. Das kostet Unsummen. Wirkstoffforscher und -forscherinnen wären glücklich, wenn sie schon früh erkennen könnten, ob ein Wirkstoff hält, was sie sich von ihm versprechen.

Start-ups wie DeepLife aus Paris oder Turbine Simulated Cell Technologies mit Sitz in London bieten digitale Modelle für viele Zelltypen sowie Zellen von Patienten an. In Zusammenarbeit mit Olivier Devuysts Gruppe „Mechanisms of Inherited Kidney Disorders“ (MIKADO) an der Universität Zürich sucht DeepLife beispielsweise nach der Ursache der seltenen Cystein-Speicherkrankheit Cystinose und benutzt dafür digitale Zwillinge von Patienten-Zellen. „Wir verwenden Einzelzell-Omics-Daten, um das Innenleben der menschlichen Zelle zu beleuchten und Erkenntnisse zu gewinnen, mit denen Forschende die Geschwindigkeit und Qualität der Target-Entwicklung entscheidend verbessern können”, erklärt der DeepLife-CEO und Mitgründer Jonathan Baptista in einer Firmenpublikation.

Turbine ist auf digitale Zwillinge von Krebszellen spezialisiert. Mit ihnen will das Start-up den Einfluss von Inhibitoren testen, neue therapeutische Zielmoleküle suchen und die Mechanismen von Wirkstoffresistenzen analysieren.

Neben Firmen arbeiten auch akademische Gruppen an digitalen Zwillingen für die Wirkstoffforschung. Beispielsweise diejenige von Fabian Theis am Helmholtz Zentrum München. Sein Team entwickelte einen sogenannten Compositional Perturbation Autoencoder (CPA). Der CPA soll vorhersagen, wie eine Zelle auf kombinierte Veränderungen, etwa die Gabe von Wirkstoffen, zu verschiedenen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Dosierungen reagieren wird (Mol. Syst. Biol. 12, e11517). „Der CPA kann in Einzelzellen in unterschiedlichen biologischen Szenarien vorhersagen, wie sich Störungen auf die mRNA-Level auswirken. Er ist das erste Modell, das Vorhersagen für kombinatorische Störungen generieren kann”, heißt es in einer Pressemitteilung des Helmholtz Zentrums München. Das Programm ist eine Open-Source-Software.

Virtueller Proband

Digitale Zwillinge könnten auch klinische Studien unterstützen, etwa wenn es für diese schwierig ist, ausreichend viele Patienten zu akquirieren. Mit Simulationen ließe sich ein Teil der Probanden ersetzen, insbesondere im Placebo-Kontrollarm, was den gesamten Prozess beschleunigen würde. Solche Programme bietet die Firma Unlearn.ai aus San Francisco bereits an.

In der Zeitschrift Expert Opinion on Drug Discovery schreiben die Autoren eines Reviews: „Wir sind der festen Überzeugung, dass generative digitale Zwillinge die Erforschung und Entwicklung von Arzneimitteln erheblich verändern werden, von einzelnen Zellen und Zellkulturmodellen über alternative Tierversuchslösungen bis hin zu Patienten und klinischen Studien“ (19: 33-42). Sogar vom „Potenzial, klinische Studien zu revolutionieren”, ist die Rede. Bis dahin ist es aber ein weiter Weg, auf dem noch einige Hürden zu überwinden sind. Nicht nur was die Technik betrifft, sondern auch hinsichtlich der Regulierung und Kontrolle digitaler Zwillinge durch die zuständigen Behörden. Bisher haben diese keinerlei Bestimmungen zur Verwendung digitaler Zwillinge im Gesundheitswesen erlassen.

Die Zwillinge der Zukunft seien multi-modal, meinen die Autoren des oben genannten Reviews. Aktuell bilden digitale Zwillinge von Zellen jeweils nur eine zelluläre Eigenschaft ab, etwa das Transkriptom oder die Morphologie. Multi-modale Programme sollen in Zukunft jedoch mehrere Charakteristika einer Zelle gleichzeitig analysieren, simulieren und deren Reaktionen vorhersagen.