Editorial

Der Nervensystemumwandler

Jörg Klug


Grob gerastertes Porträt des zu erratenden Wissenschaftlers

(24.04.2024) Eine neue „Doktrin“ setzt sich oft erst nach dem Tod namhafter Opponenten durch, die anderer Meinung sind. Auch dem Hauptdarsteller dieses Rätsels blieb dies nicht erspart.

Bis zu „seiner“ neuen Doktrin musste unser Gesuchter einen weiten Weg gehen, der allerdings zu einem erheblichen Teil durch seinen Vater vorgezeichnet wurde. Letzterer entstammte einer Bauernfamilie im Südosten Europas, die er im Alter von 16 oder 17 Jahren verließ, um bei einem Arzt in der Nachbarstadt zu lernen. Von da an sollte die Medizin Zeit seines Lebens seine Profession bleiben. Als Mensch mit ausgeprägtem Willen hatte er sich selbst das Lesen beigebracht und wurde letztlich Arzt und Professor für Anatomie.

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Von seinen beiden Söhnen, unserem Gesuchten und seinem jüngeren Bruder, verlangte er, dass sie ebenfalls Ärzte werden sollten. Allerdings war der Ältere zunächst kein guter Student. Sein Bruder lief sogar von zuhause weg, weil er in einem Schulfach durchgefallen war und die Reaktion seines Vaters fürchtete. Erst sieben Jahre später, nachdem er in Uruguay fast exekutiert worden wäre, kehrte er von dort zurück und wurde tatsächlich noch ein bekannter Mediziner und Forscher.

Währenddessen studierte unser Gesuchter vier Jahre Medizin an einer Fakultät, die unter widrigen politischen Bedingungen arbeitete. Nach seinem Abschluss wurde er zunächst als Militärarzt in Kuba stationiert, wo er beinahe der Malaria zum Opfer fiel. Anschließend erwarb er in der Hauptstadt seines Heimatlandes mit einer Arbeit zur „Pathogenese der Entzündung“ den „Dr. med.“. Hierbei machte er auch erstmals Bekanntschaft mit einer faszinierenden neuen Welt, die sich ihm im Labor des führenden Histologen des Landes durch die Betrachtung gefärbter Gewebeschnitte unter dem Mikroskop erschloss.

Mit diesen Erfahrungen ging er zurück in die Stadt, in der er sein Medizinstudium begonnen hatte. Dort bestellte er ein Verick-Mikroskop aus Paris und etablierte ein histologisches Labor – auf eigene Kosten. Als er Direktor des lokalen Anatomischen Museums wurde, verdiente er endlich genug, um heiraten und eine Familie gründen zu können. Im Laufe der Zeit kamen vier Töchter und drei Söhne hinzu.

In dieser Zeit bewarb er sich auch um einen der großen Lehrstühle für Anatomie. Zwei dieser Kämpfe, so waren die Auswahlgespräche damals angelegt, verlor er, bevor er im dritten Anlauf erfolgreich war. Zwar blieb er an dieser Universität im Westen seines Heimatlandes nur vier Jahre, in wissenschaftlicher, aber auch in persönlicher Hinsicht waren sie jedoch entscheidend für ihn. Kaum angekommen zeigte er sich als begnadeter Netzwerker, begann die Studien, die ihn schließlich berühmt machen sollten, und bildete Mitarbeiter aus, die ihm viele Jahre treu blieben. Kurzum begann hier seine meteoritenhafte Karriere. Der frischgebackene Professor erwies sich als begnadeter Experimentator und äußerst talentierter Zeichner – Gold wert in Zeiten ohne Adobe Illustrator und digitale Kameras. Überdies spielte er begeistert Schach, schrieb Kurzgeschichten über die Natur sowie über die Verlockungen und Gefahren wissenschaftlicher Neugierde – und verfasste ein Büchlein mit „Ratschläge(n) für den jungen Wissenschaftler.“

Bei seinen dienstlichen Besuchen in der Landeshauptstadt traf er schließlich einen Neurohistologen, der ihm seine eigene Version einer wichtigen histologischen Färbetechnik zur selektiven Darstellung von Neuronen beibrachte. Der italienische Begründer dieser Färbetechnik hatte aufgrund seiner Beobachtungen damals die Doktrin aufgestellt, dass Neurone ein retikuläres Netzwerk darstellen, deren Fortsätze cytoplasmatische Verbindungen zwischen den Nervenzellen herstellen – sodass ein riesiges undurchdringliches Synzytium entsteht. Diese Theorie erinnerte noch sehr an die Vorstellung des griechischen Arztes Galen, der im zweiten Jahrhundert vorschlug, dass die Nervenleitungen eine vom Zentralnervensystem sezernierte Flüssigkeit in die Peripherie transportieren.

Unser Gesuchter zog aus seinen Färbe-Ergebnissen jedoch andere Schlüsse. Er war schließlich überzeugt, dass Neurone über ihre Fortsätze zwar enge Kontakte ausbilden, aber unabhängige Zellen darstellen, die von einer durchgehenden Zellmembran umhüllt sind. Folgerichtig entstanden aus dieser Sichtweise vor mehr als hundert Jahren Begriffe wie Axon, Dendrit, Neuron und Synapse, die heute jedem geläufig sind.

Neben anderen wurde zu dieser Zeit auch ein bekannter Würzburger Anatom mit über siebzig Jahren noch zum Anhänger dieser Neuronentheorie – sodass er die Sprache des Gesuchten lernte, um seine Arbeiten lesen zu können und ihm bei der Übertragung ins Deutsche zu helfen. Insgesamt sollte damit endgültig eine neue Phase der Neurobiologie beginnen, die sich vor allem den chemischen Vorgängen rund um die Synapse zuwandte.

Unser Gesuchter traf seinen italienischen Hauptopponenten zum ersten Mal während der Verleihung eines bekannten Preises, bei der beide Wissenschaftler ihre Theorien – die Neuronen- und die Retikulartheorie – gegeneinander vertraten und sich in ihren Reden gepflegt beharkten. Der Italiener starb zwanzig Jahre später, als kaum noch jemand an seine Retikulartheorie glaubte; wenige Jahre später starb auch der Gesuchte.

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