Editorial

Der Körperchen-Nominierte

Ralf Neumann


Rätsel

(07.10.2022) Als die Fachwelt endlich nicht mehr an seiner Entdeckung zweifelte, reichte die Restlebenszeit unseres Gesuchten gerade noch für eine Nobelpreis-Nominierung. Mehr aber nicht.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreichten das Nobelpreis-Komitee allein für den Medizin-Preis insgesamt etwa 6.000 Nominierungen. „Rekordhalter“ war der französische Mikrobiologe und Veterinärmediziner Gaston Ramon, der in den 1920er-Jahren einen Impfstoff gegen Diphtherie entwickelt hatte: Danach wurde er 150-mal vorgeschlagen, den Preis bekam er jedoch nie. Womit er noch deutlich vor dem deutschen Chirurgen Ferdinand Sauerbruch liegt: Der Erfinder einer Unterdruckkammer für Operationen am offenen Brustkorb wurde zwar sechzigmal nominiert, ging am Ende aber ebenfalls preislos aus.

Deutlich weniger dramatisch nimmt sich demgegenüber das „Scheitern“ unseres Gesuchten aus. Lediglich im Jahr 1934 wurde er von zwei Hamburger Tropenmedizinern für den Preis vorgeschlagen. Die Jury entschied sich jedoch gegen ihn, und vergab den Preis stattdessen an drei US-Amerikaner für deren Entwicklung einer Lebertherapie gegen Anämie.

Als unser Gesuchter 74 Jahre zuvor das Licht der Welt erblickte, war Abraham Lincoln gerade US-Präsident geworden. Seine Eltern Anna Amalie und Conrad lebten zu dieser Zeit aufgrund der Tätigkeit des Vaters als kaufmännischer Konsul in Mexiko – was letztlich auch die drei spanischen Vornamen ihres Sprösslings erklärt.

Nach der Rückkehr der Familie nach Deutschland besuchte dieser zunächst das heutzutage älteste Gymnasium der Heimatstadt seiner Eltern. Danach begann er ein Medizinstudium in Heidelberg und schloss es als Fünfundzwanzigjähriger in Leipzig mit der Promotion ab. Nach Zwischenstationen an einem Allgemeinen Krankenhaus sowie einer Universitäts-Frauenklinik ließ er sich drei Jahre später als praktischer Arzt in der Heimatstadt der Familie nieder.

Sogleich war er von der ärztlichen Praxis ziemlich in Anspruch genommen – weshalb zunächst wenig darauf hindeutete, dass unser Gesuchter „nebenbei“ auch noch ausgesprochene Forschungsleistungen erbringen könnte. Das änderte sich jedoch, als er bald darauf zusätzlich als Assistenz­arzt an die Staatliche Impfanstalt der Stadt berufen wurde. Denn hier blieb es natürlich nicht aus, dass er intensive Bekanntschaft mit einer Infektionskrankheit machte, gegen die ein knappes Jahrhundert zuvor ein bis dahin gut bewährtes Impfverfahren gefunden wurde – deren Erreger man aber immer noch nicht kannte.

Offenbar wurmte ihn das, und so schaute er sich die Beschaffenheit der typischen Symptomstrukturen der Krankheit immer genauer an. Schnell sollte er dabei eine derartige Meisterschaft in Mikroskopie und Färbetechnik entwickeln, dass er schließlich Dinge erspähte, die in diesem Zusammenhang bislang niemand korrekt beschrieben hatte.

Den entscheidenden „Durchbruch“ schaffte er, als er Proben einer im Verlauf der Krankheit gebildeten Flüssigkeit untersuchte, die er infizierten Kindern entnommen hatte. Nachdem er feine Ausstriche davon zuerst mit Löfflers Geißelbeize vorbehandelt und dann mit Carbolfuchsin nachgefärbt hatte, offenbarten sich ihm unter dem Mikroskop große Mengen sehr kleiner und gleichmäßig gefärbter Körperchen. Da er diese Körperchen mit der optimierten Färbeprozedur nachfolgend auch in Proben aus weiteren krankheitsspezifischen Strukturen aufspürte, stand für ihn fest, dass sie direkte Erscheinungsformen des Erregers darstellen.

Auch wenn diese Körperchen daraufhin bald den Namen ihres Entdeckers trugen, war es dennoch ein weiter Weg, bis die Fachwelt anerkannte, dass es sich bei ihnen tatsächlich um den Erreger handelte. Die ersten Zweifler wurden überzeugt, als unser Gesuchter zeigen konnte, dass die Körperchen mit dem Immunserum Infizierter spezifisch zum Agglutinieren gebracht werden konnten. Die zweifellos entscheidende Versuchsreihe gelang ihm allerdings erst im Alter von über siebzig – übrigens zusammen mit einem der beiden, die ihn danach für den Nobelpreis vorschlagen sollten: Zunächst konnten die beiden die Körperchen in Gewebekulturen eines sehr nahe verwandten Virus nachweisen, das in gewissen Tieren eine ganz ähnliche, aber vergleichsweise harmlos verlaufende Krankheit auslöst – und das daher schon lange als Basis der etablierten Impfung gegen die weitaus schlimmere Humankrankheit diente. Und weiterhin konnten sie zeigen, dass die Zahl der Körperchen in der Kultur klar mit der jeweiligen Virulenz im Tierversuch korrelierte.

Fast zeitgleich erbrachten noch andere Gruppen mit ihren Experimenten weitere klare Hinweise darauf, dass es sich bei den Körperchen tatsächlich um das infektiöse Agens handelte. Die Zweifel an der Entdeckung des Erregers waren damit also endlich ausgeräumt – weswegen die Nominierung für den Medizin-Nobelpreis auch folgerichtig erschien. Und wer weiß, wie die Geschichte ausgegangen wäre, hätte unseren Gesuchten nicht eineinhalb Jahre nach dieser Nominierung ein längeres anginöses Leiden dahingerafft. Zumindest wäre er ziemlich sicher noch öfter nominiert worden.

Wie heißt er?






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Der „Körperchen-Nominierte“ ist Enrique Paschen, der unter dem Mikroskop in den nach ihm benannten Paschen-Körperchen als Erster Manifestationen des Pocken-Erregers (Variola-Virus) erkannte.