Editorial

Mit NARRativen läuft das Leben besser

Ulrich Dirnagl


Ulrich Dirnagl alias Der Wissenschaftsnarr

(18.04.2023) Das klassische Format des akademischen Curriculum vitae schwindet. Und durch die Alternativen weht tatsächlich ein Hauch von wissenschaftlich-inhaltlicher Bewertung.

Kaum ein Schritt im beruflichen Werdegang von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, der nicht durch die Linse eines schriftlichen Lebenslaufes betrachtet wird: Stipendien, Anträge, Anstellungen, Verstetigungen, Berufungen, Preise – alle erfordern die Abgabe eines „Curriculum vitae“ (CV). Darin finden sich zunächst mal der Familienstand, die Anzahl der Kinder – manchmal auch deren Geburtsjahre – sowie das Alter und das Geschlecht der Antragstellerin oder des Antragstellers. Dazu kommt natürlich noch ein Porträtfoto – am besten nicht aus dem Fotofix-Automaten, sondern eines von einem professionellen Studio.

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Gelistet werden dann:

  • die einzelnen Stadien der Ausbildung vom Abitur weg;
  • alle Publikationen – manchmal getrennt in Erst-, Letzt- und Co-Autorschaft, aber so gut wie immer garniert mit den jeweiligen Journal-Impact-Faktoren (JIF) inklusive drei Nachkommastellen Genauigkeit;
  • eine Liste aller gehaltenen – oder wenigstens der eingeladenen – Vorträge, Preise und Patente (sofern vorhanden);
  • die eingeworbenen Förderanträge, mit Fördersumme in Euro;
  • eine Erwähnung der Aktivitäten in wissenschaftlichen und akademischen Gremien, meist komplementiert durch Nennung der Journale, für die man schon mal begutachtet hat.

Auch kumulative Metriken machen sich gut im CV – etwa der h-Index, die Anzahl der Zitate, der durchschnittliche JIF (oder die Anzahl der Artikel mit JIF größer als X). Gleiches gilt natürlich für die Gesamtsumme der eingeworbenen Drittmittel. Und in den fortgeschritteneren Stadien des Berufslebens kommt dann noch die Zahl der betreuten Promotionen dazu – oft auch mit Titel der jeweiligen Arbeit und Prädikat.

Es gibt sogar welche, die Auskunft über die Religionszugehörigkeit erteilen, den Berufsstand der Eltern oder die Anzahl der Geschwister.

Je nach Karrierestadium füllt ein akademischer CV damit locker zehn Seiten und mehr. Die Aktualisierung und Pflege dieses Dokuments ermöglichen dem Akademiker unzählige Stunden der Selbstreflexion und Selbstdarstellung. Dabei geht allein schon deshalb sehr viel Zeit drauf, weil je nach Art der Bewerbung unterschiedliche Formatierungen erwartet werden – auch wenn der Informationsgehalt der gleiche ist.

Kaum zu glauben, aber die Zeiten dieses über Jahrzehnte entwickelten und mittlerweile lieb gewonnenen tabellarischen CV-Formats könnten gezählt sein! In gewohnt behutsamer – man könnte auch sagen: bedächtiger – Weise hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Ersten dieses Monats ein neues Format für Lebensläufe verbindlich gemacht. Dieses nimmt einige Elemente auf, die bei den größten Fördergebern anderer Länder schon wesentlich weitgehender umgesetzt worden sind – beispielsweise bei den National Institutes of Health in den USA, UK Research and Innovation in England oder der Swiss National Science Foundation in der Schweiz. Aber, wie vom Narren in einer der letzten Laborjournal-Ausgaben ausgeführt: Hier gilt es nicht zu nörgeln, sondern zu applaudieren – denn für die DFG gilt: „Spät kommt Ihr, doch Ihr kommt, der weite Weg entschuldigt Euer Säumen“ (LJ 12/22: 26-28 - Link)!

Ein prototypisches Beispiel für das, was sich derzeit weltweit diesbezüglich tut, kommt aus einem Land, das erst 1971 das Frauenwahlrecht eingeführt hat und auch sonst nicht für radikale Reformen bekannt ist: Das CV-Format des Schweizer Nationalfonds (SNF), dem eidgenössischen Äquivalent der DFG. Darin gibt man nach der derzeitigen beruflichen Position nur das akademische Alter an, nicht etwa das Geburtsdatum. Das akademische Alter ist die Zeit, die man tatsächlich der Forschung widmen konnte, nach Abzug von Unterbrechungen und nicht-wissenschaftlicher Arbeit. Auch die Open Researcher and Contributor ID (ORCID) wird abgefragt. Schließlich ermöglicht diese die eindeutige elektronische Zuordnung von Publikationen sowie anderen Forschungsaktivitäten und -erzeugnissen – auch von solchen, die im CV nicht gelistet wurden. Danach folgen ganz konventionell tabellarisch die Stationen der akademischen Ausbildung und Beschäftigungsverhältnisse.

Dann erst wird es richtig interessant. Denn nun werden nur noch die maximal drei bedeutendsten Leistungen der akademischen Laufbahn abgefragt. Die Gesamtlänge dieses Narrativs ist somit auf eine (!) A4-Seite beschränkt.

Die Beschreibungen können zum Beispiel Folgendes enthalten: Den eigenen Beitrag zur Forschung, die gewonnenen Erkenntnisse, deren Einfluss auf Wissenschaft und/oder Gesellschaft – oder auch den historischen Kontext des wissenschaftlichen Problems. Dafür kann man maximal zehn eigene Arbeiten als Referenzen angeben, die man frei auf die drei Leistungen verteilen kann. Verwendet werden dürfen alle Arten von wissenschaftlichem Output – also nicht nur Artikel in wissenschaftlichen Zeitschriften, sondern auch Buchkapitel, Konferenzbeiträge, Preprints, Daten-Sets et cetera.

Ein Lebenslauf so klar wie Schweizer Gebirgswasser! Das CV-Template wurde vom SNF partizipativ – also unter Beteiligung von potenziellen Antragstellern und Gutachtern sowie Wissenschaftsadministratoren des SNF – entwickelt. Dazu wird seine Verwendungspraxis wissenschaftlich begleitet, erste Ergebnisse sind bereits publiziert.

Die DFG pirscht sich an solch revolutionäre Umtriebe erst einmal langsam heran: In ihrem neuen CV-Template findet sich nun ein optionales Freitextfeld für ergänzende Angaben zum Werdegang. Da kann man dann zusätzliche Informationen eingeben oder Angaben zu einer besonderen persönlichen Situation machen, die für eine angemessene Begutachtung und Bewertung der wissenschaftlichen Leistung relevant sein könnten. Dazu zählen auch Kinderbetreuungsaufgaben, Mutterschutz-, Eltern- oder Erziehungszeiten, chronische oder langfristige Erkrankungen und so weiter. Auch ein optionales Freitextfeld für Engagement im Wissenschaftssystem – wie etwa Gremientätigkeiten, Engagement in der Selbstverwaltung der Wissenschaft, Organisation wissenschaftlicher Veranstaltungen, Aktivitäten in der Lehre oder Tätigkeiten als Mentorin beziehungsweise Mentor – ist nun vorhanden.

Der Abschnitt „Wissenschaftliche Ergebnisse“ im DFG-Vordruck ist von der Struktur her erstmal wie gehabt, man hangelt sich also entlang an maximal zehn ausgewählten Peer-Review-Publikationen. Aber nun hören wir Kuhglocken von fernen Almwiesen läuten: „Wo möglich“ (!), soll man den eigenen Anteil an den öffentlich gemachten Ergebnissen darlegen und ausführen, warum man die jeweilige Publikation an dieser Stelle genannt hat. Das steht zwar irgendwie auf dem Kopf – zuerst das Abstraktum „Autoren, Titel, Journal“, und dann erst wird es durch deren Inhalt und den eigenen Beitrag daran gerechtfertigt („wo möglich“). Aber sei’s drum – immerhin wird hier nicht exklusiv auf die Reputation des Journals geschielt, sondern es weht erstmals ein zarter Hauch von tatsächlichem Inhalt der Forschung sowie deren wissenschaftlichem oder gesellschaftlichem Impact.

Doch dann steht da noch der Satz: „Angaben zu quantitativen Metriken wie Impact-Faktoren und h-Indizes sind nicht erforderlich und werden bei der Begutachtung nicht berücksichtigt.“ Auch das ist wieder typisch DFG: zwei Schritte vorwärts, einer zurück. Zwar werden diese Metriken angeblich nicht berücksichtigt, aber man kann sie trotzdem angeben. Vielleicht ist ja doch der eine oder andere Gutachter unter Zeitdruck und will sich nicht um lästige Forschungsinhalte kümmern.

Schließlich hat man in dem DFG-CV via weiterem optionalem Freitextfeld die Möglichkeit, zehn jenseits des Peer-Reviews öffentlich gemachte Forschungsergebnisse anzuführen. Wie zum Beispiel Preprints, Datensätze, Protokolle, Software-Pakete, Patente und – man höre und staune! – sogar Blog-Beiträge. All dies wird allerdings als „Kategorie B“ leicht stigmatisiert und unter Quarantäne gestellt, sodass die Liste der Peer-Review-Artikel in der „Kategorie A“ um Himmels willen nicht kontaminiert wird. Tu felix Helvetia!

Solche „alternativen“ CV-Formate, wie sie nun langsam Eingang ins akademische Begutachtungswesen finden, zeichnen sich dadurch aus, dass sie über die Integration des akademischen Alters den Vergleich verschiedener Karrierestadien erlauben, den Blick auf den wissenschaftlichen Beitrag fokussieren und neue Disseminations-Formate einschließen. Sie überwinden damit Schwächen des etablierten klassischen Formats, welches Innovation, gesellschaftliche Auswirkungen, verantwortungsbewusste Forschungspraktiken, Vielfalt von Forschung und Forschungskarrieren sowie die Qualität der Forschung als Ganzes ausblendet beziehungsweise eindimensional auf wenige ungeeignete Metriken reduziert. Nebenbei könnte das neue Format dazu beitragen, Salami-Taktiken beim Veröffentlichen entgegenzuwirken sowie ganz allgemein die Diversität des agierenden Personals zu erhöhen.

Klingt das alles vielleicht zu gut, um wahr zu sein? Oder ist es vielmehr so, dass hier der Teufel mit dem Beelzebub ausgetrieben wird? Fördern die Narrative nicht gar ein „Self-Marketing“ der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler? Dieser momentan laut werdende Einwand entlarvt sich schon alleine deshalb, weil es ja auch jetzt schon ein wesentliches Merkmal unseres Wissenschaftsbetriebes ist, dass jene, die sich gut verkaufen können, stark im Vorteil sind. Im schlimmsten Fall würde also die Kosmetik am klassischen CV durch ausgefeilte Narrative ersetzt werden. Noch wichtiger aber: Ist es nicht eine intellektuelle Bankrotterklärung der Gutachter, wenn sie zu Protokoll geben, in 500 Zeichen langen Texten nicht die Blender erkennen zu können? Würde da nicht schon ein Blick auf den Inhalt der Schlüsselreferenzen genügen, die das Narrativ begleiten?

Und noch ein häufig gehörter Einwand: Die Narrative würden alle gleich klingen, man könne die Antragsteller beziehungsweise die Bewerber gar nicht mehr unterscheiden. Auch dies ist eine eigentümliche Befürchtung. Sollte das tatsächlich der Fall sein, dann hätte die bisher praktizierte Fokussierung auf die Reputation der Journale als wesentliches Exzellenzkriterium den Bewerbern und den Gutachtern gleichermaßen die Fähigkeit geraubt, Inhalte zu transportieren oder diese zu würdigen. Das wäre dann aber ein weiteres gewichtiges Argument, sich mit den neuen CV-Formaten wieder auf eine wissenschaftlich-inhaltliche Bewertung zu verpflichten und diese dann damit einzuüben.

Und noch ein Totschlag-Argument sei hier erwähnt: Die alternativen Lebensläufe öffneten der Subjektivität Tür und Tor. Auch dieser Vorbehalt zielt ins Leere: Die Narrative, der Hinweis auf das akademische Alter, auch die Angabe von besonderen persönlichen Situationen werden ja immer begleitet von Referenzen, die das Behauptete objektiv belegen sollen. Zudem ist Subjektivität kein Fehler im System, sondern ebenfalls ein Merkmal der bereits gängigen Auswahlpraxis. Wie die Inhalte der Tabellen und langen Publikationslisten der konventionellen Lebensläufe von den Gutachtern in ihrem Gesamturteil berücksichtigt werden, wird doch auch jetzt stark von deren persönlichen Vorlieben und Anschauungen beeinflusst.

Fantastisch wäre es allerdings, wenn die Fördergeber und Institutionen sich eines gemeinsamen alternativen CV-Formates bedienen würden – und dazu ein Tool zur Verfügung stellten, mit dem man einmal seinen Lebenslauf einpflegt, und danach nur noch editiert, wenn sich was ändert. Das würde den Aufwand für alle Beteiligten massiv vermindern. Wieder einmal schauen wir diesbezüglich neidisch in andere Länder, wie zum Beispiel in die USA, wo das schon länger der Fall ist (siehe SciENcv: Science Experts Network Curriculum Vitae). Stellen Sie sich vor, die Europäische Kommission, die DFG, das BMBF hätten so etwas – und auch die Unis würden sich dessen bedienen. Die Zeit, die wir als Antragsteller, aber auch als Gutachter einsparen würden, wäre substantiell. Ganz zu schweigen von dem Quantensprung in der guten Evaluationspraxis, der damit verbunden wäre.


Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj