Editorial

Candide oder der Überoptimismus in der Nutzen-Schaden-Rechnung klinischer Studien!

Ulrich Dirnagl


Narr

(09.11.2022) Was herauskommt, wenn Experten vor dem Start klinischer Studien den zu erwartenden Nutzen gegen die Risiken abwägen, erweist sich oft als mangelhaft. Doch nicht nur das.

Haben Sie schon mal an einer klinischen Studie teilgenommen? Vielleicht sogar in der Königsklasse, einer randomisiert kontrollierten klinischen Studie (RCT)? Wenn ja, warum haben Sie da eigentlich mitgemacht? Wie haben Sie den Einschluss in die Studie erlebt? Hat man Ihnen nach Abschluss mitgeteilt, ob Sie im Placebo- oder Verum-Arm waren? Haben Sie erfahren, was am Ende herausgekommen ist? Welcher Erkenntnisgewinn unter Ihrer Mithilfe entstanden ist? Und wer eigentlich davon profitiert hat: eine zukünftige Generation von Patienten mit gleicher Diagnose – oder doch nur die Pharmaindustrie?

Seit ihrer Entwicklung in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts bilden RCTs das Fundament des Wirksamkeitsnachweises von neuen Therapien in der modernen Medizin. Weil die Geschichte gelehrt hat, dass Patienten vor unethischen medizinischen Versuchen und Studien geschützt werden müssen, soll durch die Befolgung von forschungsethischen Prinzipien – wie etwa der Erklärung von Helsinki und des Belmont-Reports – sichergestellt werden, dass sich bei klinischen Prüfungen möglicher Nutzen und Schaden für die Studienteilnehmer die Waage halten. Dies schließt, besonders in der Frühphase klinischer Prüfung, die sogenannte „Equipoise“ ein – also die Unsicherheit der informierten medizinischen Fachwelt darüber, welche von zwei oder mehr möglichen Therapien die bessere ist. Wenn Experten vermuten, dass der Schaden überwiegt, sollte man die Finger von einer Überprüfung lassen – wenn sie hingegen überwiegend einen Nutzen vermuten und diesen begründen können, wäre es unethisch, den Patienten diese Therapie im Rahmen der Randomisierung vorzuenthalten. So weit, so gut.

Die medizinischen Experten, die eine Studie planen, müssen also in der Lage sein, eine Equipoise festzustellen – also den möglichen Nutzen wie auch den Schaden der zu prüfenden Therapie mit einer gewissen Treffsicherheit vorhersagen zu können.

Aber wie gut sind die Experten – also mit der Materie vertraute Mediziner – wirklich darin? Egal, ob sie an einer Studie selbst beteiligt sind oder nur deren Erfolg vorhersagen sollen? Beunruhigenderweise haben alle Studien, die dies untersucht haben, gezeigt, dass Experten solche Vorhersagen entweder nicht oder nur unwesentlich besser treffen als ein Zufallsgenerator!

Hierfür kann es viele Gründe geben. Einer davon könnte sein, dass Kliniker in der frühen klinischen Prüfung (Phase I/II) die Aussagekraft von tierexperimentellen Studien überschätzen, die diesen Studien zugrunde liegen. Oder auch die Qualität und Robustheit der präklinischen Ergebnisse überbewerten. Dazu kommt aber auch der eigene „Bias“: Ein gewisses Wunschdenken, genährt von der Begeisterung für eine neue Therapie, die man vielleicht sogar selbst mitentwickelt hat, gepaart mit dem tief empfundenen Wunsch, dass die Ergebnisse künftig eine bessere Behandlung ihrer Patienten ermöglichen.

Dass die Experten die Nutzen-Risiko-Profile zu prüfender Medikamente derart schlecht und überoptimistisch einschätzen, sollte uns zumindest nachdenklich machen. Schließlich werden die Ethikkommissionen, die die ethische Unbedenklichkeit von Forschungsvorhaben am Menschen prüfen, ja gerade von diesen potenziell „überoptimistischen“ und schlecht schätzenden Individuen informiert. Zudem muss man sich fragen, ob „Equipoise“ nicht grundsätzlich auf der Strecke bleibt, wenn die Studiendurchführenden so großen Optimismus an den Tag legen.

Nun wird die Sache aber insbesondere dort nochmals verzwickter, wo über viele Jahre zwar Hunderte von klinischen Studien durchgeführt wurden, aber nur wenige oder gar keine davon erfolgreich waren. Das ist zum Beispiel bei der Suche nach neuen Schlaganfall-Therapien der Fall, aber auch bei der Alzheimer’schen Erkrankung. Die bisherige Erfolglosigkeit der klinischen Prüfungen in diesen Feldern erniedrigt ja massiv die (Vortest-)Wahrscheinlichkeit, mit den nächsten Studien Erfolg zu haben.

Zudem dürfen wir auch nicht vergessen, dass viele der zu prüfenden Therapien Nebenwirkungen haben, die sehr schwer sein können. Daher muss man durchaus befürchten – und das sagt nicht nur der Narr (Literatur wie immer unter http://dirnagl.com/lj) –, dass Studienpatienten bei solch „schwierigen“ Diagnosen womöglich sogar besser dran sind, wenn sie in den Placebo-Arm randomisiert werden. Dort bleiben sie wenigstens von den Nebenwirkungen verschont.

Wenn aber schon erfahrene Kliniker Schwierigkeiten bei der Risiko-Nutzen-Abschätzung von Prüftherapien haben, wie sieht das dann bei den Patienten aus? Sie werden beim Studieneinschluss im Aufklärungsgespräch ja von Ärzten informiert, die bei der Einschätzung von Nutzen und Risiko der Studienmedikation womöglich selbst schlecht abschneiden. Wer schon mal an einer Studie teilgenommen hat und Patienteninformation sowie Einwilligungserklärung inklusive Datenschutzerklärung unterzeichnet hat, die locker mal über zwanzig Seiten lang sein kann, wird sich überdies eines weiteren Problems bewusst sein. Selbst bei bestem Wissen, Willen und didaktischer Fähigkeit des einschließenden Arztes dürfte es den wenigsten Studienteilnehmern wirklich klar geworden sein, worauf sie sich da einlassen. Warum sie es trotzdem machen? Weil sie der Einschätzung und dem Urteil des Arztes vertrauen! Und damit zeigt es sich wieder, wie sehr doch alles darauf beruht, dass der Studienarzt Nutzen und Risiken zuverlässig abschätzen kann.

Umso dramatischer ist es deshalb auch, dass von einem nicht unerheblichen Teil der klinischen Studien nach deren Abschluss nie Ergebnisse publiziert werden – der Narr hat das auf diesen Seiten schon mehrfach angeprangert (zuletzt LJ 04/22: 24-26 - Link). Erst kürzlich offenbarte etwa eine Studie, dass rund ein Drittel der abgeschlossenen klinischen Studien in Deutschland nicht veröffentlicht wird. Oder nehmen wir ein aktuelles Beispiel aus der COVID-19-Behandlung: Die Ergebnisse der meisten klinischen Prüfungen des COVID-19-Medikaments Molnupiravir (Lagrevio) wurden nicht publiziert und sind auch nicht anders zugänglich. Trotzdem sind mit dem Medikament bisher 3,2 Milliarden US-Dollar umgesetzt worden. Die Patienten werden also schlimmstenfalls „doppelt“ betrogen: Ihr Altruismus zugunsten anderer Patienten wird durch Nichtpublikation zunichte gemacht.

Wenn es dann noch um eine schwerwiegende Erkrankung und eine akut zu fällende Entscheidung des Patienten geht, ob er an einer Studie teilnehmen soll, wird es noch viel problematischer. In einer noch unveröffentlichten Studie haben Kollegen von mir untersucht, ob Patienten mit akutem Schlaganfall, die vor dem Erhalt einer Standardtherapie (intravenöse Thrombolyse) nach allen Regeln der Kunst aufgeklärt wurden, sich nach 60 bis 90 Minuten noch an wichtige Details wie zum Beispiel mögliche schwerwiegende Nebenwirkungen der Therapie erinnern können. Das Ergebnis war wenig überraschend: Nur eine Minderheit konnte das. Wer in einer dramatischen Lebensphase medizinischen Vorträgen zuhören und diese auch noch verstehen muss, wird zwangsweise Konzentrationsprobleme sowie Verständnis- und Erinnerungslücken entwickeln.

Vermutlich ist den meisten Studienpatienten klar, dass sie alleine schon wegen der Randomisierung keine Garantie haben, von der Studie persönlich zu profitieren. Denn es wird immer betont, dass die Wahrscheinlichkeit, das Studienmedikament zu erhalten, nur fünfzig Prozent ist. Die meisten Patienten machen dennoch mit, sie handeln damit bewusst altruistisch. Sie setzen auf einen möglichen Nutzen, den möglicherweise erst nachfolgende Patienten mit derselben Erkrankung genießen werden. Es stellt sich aber die Frage, ob Patienten wirklich die Risiken einer Studie einschätzen können – wie auch insbesondere die Last, die bei Studienteilnahme möglicherweise auf sie zukommt. Beispielsweise wird mittlerweile vor allem für Studien mit Krebspatienten in fortgeschrittenen Stadien die „time toxicity“ der Studienteilnahme problematisiert: Patienten verbringen unter Umständen relevante Lebenszeit mit Klinikaufenthalten – und das im Rahmen von Studien, die man ihnen eigentlich in häuslicher Umgebung wünscht.

In der Aufklärung über ihren persönlichen Nutzen von der Studienteilnahme erfahren Patienten stets: „Es ist möglich, dass Sie einen Nutzen aus der Behandlung ziehen – oder auch nicht.“ Sollte man ihnen aber nicht auch das mitteilen, was die Kliniker bei der Fallzahl-Berechnung veranschlagt haben? Von persönlichem Nutzen für den Patienten steht da nämlich gar nichts. Sondern vielmehr, worum es eigentlich in der Studie geht, und zwar in Form des primären Endpunktes sowie den Unsicherheiten seiner Bestimmung. Damit werden sowohl das wissenschaftliche Prinzip hinter solchen Studien wie auch der mögliche gesellschaftliche Nutzen, der ja die Basis für den Altruismus der Patienten bildet, klarer benannt. Damit wären die Patienten letztlich auch für ihre persönliche Abwägung besser informiert.

Wie man sieht, geht es immer wieder um das Verhältnis von Nutzen und Risiko – und wie gut Ärzte und Patienten diese Abwägung treffen.

Und noch etwas muss bei all dem mitbedacht werden. Wie „unabhängig“, wie „frei von Konflikten“ ist die Rekrutierung von Patienten in klinische Studien wirklich? Pharmafirmen erstatten den Studien-durchführenden Kliniken die Kosten – das ist nur fair. Schließlich werden Infrastruktur, Personal, Expertise et cetera von den Kliniken dafür vorgehalten. Allerdings kämpfen in vielen Feldern die Pharmafirmen um die knappe Ressource Patient. Ein Beispiel aus der Medikamentenentwicklung für Patienten mit akuter Querschnittslähmung: Eine Pharmafirma bezahlte den an der Studie beteiligten Kliniken 18.000 Euro pro eingeschlossenem Patient. Eine aufwendige Studie, klar – aber ist das nicht doch ein bisschen viel für die Verabreichung eines Medikamentes und einiger zusätzlicher Untersuchungen? Das tolle Angebot der Firma führte letztlich dazu, dass Studien zur Prüfung anderer, vielleicht ebenso vielversprechender Therapien bei Querschnittslähmung entweder nicht weiter rekrutieren oder gar nicht erst starten konnten. Um es unverblümt zu sagen: Diese Pharmafirma hatte alle verfügbaren Patienten aufgekauft!

Dieser „Handel“ mit Patienten hat aber auch noch einen weiteren Haken: Auch fernab der guten Bezahlung von Pharmafirmen lohnt es sich für die Kliniken, Studien einzuwerben. Das bringt nicht nur Prestige durch die schiere Beteiligung an wichtigen Studien, es fällt auch oft noch eine Co-Autorschaft für den Chef und ein paar Mitarbeiter ab. Zudem wird oft ein Überschuss erwirtschaftet. Von dem kaufen sich die Chefärzte – in der Regel! – jedoch keinen neuen S-Klasse-Mercedes oder Tesla, sondern finanzieren damit die eigene Forschung in ihren Kliniken, da diese meist unterversorgt ist. Dabei kann sehr viel sehr Gutes herauskommen, aber es sollte einem schon ein wenig mulmig werden bei diesen Finanzierungsströmen. Denn das heißt ja auch, dass sich zu dem Primärinteresse, mit einer klinischen Studie neue und wirksame Therapien zu etablieren, ein Sekundärinteresse gesellt: Nämlich durch den Studieneinschluss wiederum andere Forschung zu ermöglichen. Für mich ein klassischer Interessenkonflikt!

Wer hier allerdings den Stöpsel ziehen wollte, würde die akademische Forschung an Deutschlands Unikliniken in arge Bedrängnis bringen. Und klinische Studien der Pharmaindustrie gäbe es dann wohl auch keine mehr. Zumindest nicht im gegenwärtigen Modell der Forschungsfinanzierung im Gesundheitswesen.

Sollten wir also auf klinische Prüfungen vollständig verzichten? Weil Experten überoptimistisch sind? Weil ihnen nicht bewusst ist, wie häufig lückenhaft und wenig robust die präklinische Evidenz für ihre Studien ist? Weil deshalb so mancher Studie keine Equipoise zugrunde liegt? Weil Patienten in Studien möglicherweise Vorteile haben, wenn sie in die Placebo-Gruppe randomisiert werden? Weil sie die Aufklärung nur partiell verstehen und sich wenig davon merken können? Weil durch Interessenkonflikte bei den Studien-Ärzten und Kliniken Patienten „auf Teufel komm raus“ rekrutiert werden könnten?

Natürlich brauchen wir randomisierte kontrollierte Studien! Sie alleine garantieren die Evidenzqualität, die für die Zulassung von Medikamenten nötig ist. Aber es muss sich einiges ändern. Bei der Entscheidung zu einer klinischen Entwicklung muss die – häufig mangelhafte – Qualität und Validität der präklinischen Befunde stärker berücksichtigt werden. Planer von klinischen Studien und Studienärzte müssen sich ihres jeweiligen ­Bias bewusster werden. Beides wird ihre Fähigkeit hin zu einer realistischeren Nutzen-Risiko-Analyse für die Patienten verbessern. Die Aufklärung von Patienten, insbesondere unter Akutbedingungen und bei schwerwiegenden Diagnosen, wird problematisch bleiben, aber wir dürfen den Altruismus der Patienten nicht hintergehen.

Weiterhin müssen wir dafür Sorge tragen, dass alle Studienergebnisse zeitnah veröffentlicht werden. Auch wenn das Prüfmedikament nicht besser war als die Standardtherapie, muss sichergestellt sein, dass Studien so angelegt werden, dass sie zum medizinischen Erkenntnisgewinn beigetragen können. Die Studienteilnehmer haben hierfür schließlich Belastungen und Risiken auf sich genommen. Auch wurden für die Studie Ressourcen eingesetzt, die wir letztlich alle gemeinsam schultern müssen, sei es über Steuern, Krankenversicherung oder Arzneimittelpreise. Nicht zuletzt deshalb sind wir den Patienten Rechenschaft schuldig über die Resultate der Studie – und welcher Erkenntnisgewinn sich daraus ergeben hat.

Auch müssen die potenziellen und durchaus nicht trivialen Interessenkonflikte bei der Patientenrekrutierung offengelegt werden – beziehungsweise dort, wo nicht mehr vertretbar, aufgelöst werden. Noch besser wäre es natürlich, die Finanzierung der klinischen Forschung insgesamt zu verbessern, damit auf verdeckte Finanzierungen ganz verzichtet werden kann. Alternativen, wie zum Beispiel einen Teil der Mittel, die die Industrie für Studien aufwendet, in einen Pool der Universitäten oder der Länder zur Förderung klinischer Forschung fließen zu lassen, könnte man ja durchaus mal in Erwägung ziehen.

Wenn all dies gegeben wäre, würde sich auch der Wissenschaftsnarr bedingungslos in jede klinische Studie rekrutieren lassen.

Der Wissenschaftsnarr dankt Jonathan Kimmelman und Daniel Strech für anregende Diskussionen zu den ethischen Aspekten klinischer Studien.


Weiterführende Literatur und Links finden sich wie immer unter: http://dirnagl.com/lj