Editorial

Embryoid-Modelle = Embryonen? - Synthetische Embryo-Modelle

Karin Hollricher


(15.02.2024) Schlag auf Schlag tauchten 2023 Verfahren auf, mit denen Forschende in vitro humane Embryoide erzeugten. Welche Embryoid-Modelle am ehesten den natürlichen Embryo widerspiegeln, ist Gegenstand einer Diskussion.

Wie wird aus einer befruchteten Eizelle ein Lebewesen? Welche Moleküle und Signale steuern, wann und wie sich Zellen differenzieren, wohin sie wandern, wie sie miteinander kommunizieren, ob und wann sie absterben müssen, damit die Achsen oben-unten sowie vorne-hinten entstehen, und wie Organe angelegt werden? Das sind die zentralen Fragen der Entwicklungsbiologie.

Entwicklungsbiologinnen und -biologen interessieren sich besonders für die ganz frühen Stadien der Embryonalentwicklung, in denen etwa sechzig Prozent aller Schwangerschaften mit einem Abort enden. Niemand weiß, warum das so ist. Über die Stadien von der Befruchtung bis zum Beginn der Gastrulation an Tag 14 ist bisher wenig bekannt, weil die Forschung an menschlichen Embryonen aus ethischen Gründen nur sehr stark eingeschränkt möglich ist. Immerhin, an den durchsichtigen Zebrafischlarven kann man diesen Zeitraum sowohl auf molekularer Ebene als auch mikroskopisch ziemlich gut verfolgen. Bei Mäusen ist das schon sehr viel schwieriger. Um den Beginn menschlichen Lebens besser zu verstehen, versuchen Forschende in der Kulturschale Embryoid-Modelle zu erzeugen, die echten Embryonen möglichst ähnlich sind.

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Ganz gelungen sieht der Mausembryoid (l.) im Vergleich zum Original noch nicht aus. Aber immerhin sitzen Herz (magenta) und Hirn (grasgrün) schon mal an den richtigen Stellen. Foto: Amadei und Handford

Wie nah am Original?

Natürlich stellt sich die Frage, inwieweit die Eigenschaften des Modells mit denen eines tatsächlichen Embryos übereinstimmen. Das ist wichtig zu wissen. Schließlich wollen die Forschenden mit den Embryoiden die Embryonalentwicklung nachbilden und dokumentieren, Fehlentwicklungen auf die Spur kommen sowie Wirkungen und vielleicht sogar Nebenwirkungen pharmazeutischer Substanzen an den Embryoiden testen. Aber welches der verschiedenen Embryoid-Modelle kommt der Natur am nächsten, und welche Eigenschaften sind dafür unabdingbar? Darüber wird in der Szene intensiv debattiert.

Die Arbeitsgruppe um Jacob Hanna vom Weizmann-Institut (Rehovot, Israel), die ein humanes Embryoid-Modell vorstellte, schlug drei Kriterien für die Beurteilung eines aus Stammzellen entwickelten Modells vor:

  1. Es muss Vorläufer oder Vertreter der ersten embryonalen und extra-embryonalen Zell- und Gewebetypen enthalten.
  2. Die embryonalen Kompartimente müssen sich in Selbstorganisation aus dem Zellengemisch heraus bilden.
  3. Der in Kultur erzeugte Embryoid muss Eigenschaften aufweisen, die darauf hindeuten, dass er sich weiterentwickeln könnte.

2021 beschrieben mehrere Arbeitsgruppen verschiedene Techniken, mit denen sie ex utero Blastozysten-ähnliche Modelle aus menschlichen naiven embryonalen oder induzierten Stammzellen erzeugten. Die Arbeitsgruppe von Nicolas Rivron vom Institut für Molekulare Biotechnologie in Wien generierte Blastoide, indem sie die Zellen in einem PXGL-Medium mit Inhibitoren der Signalwege Hippo, TGFß und ERK inkubierte (Nature 601: 600-05, Nat. Protocols 18: 1584-20). Diese Signalwege determinieren bei der Bildung der Blastozyste die Differenzierung der Zellen in Trophoblast (wird zu extra-embryonalem Gewebe, zum Beispiel Plazenta) und innere Zellmasse. Aus Letzterer entstehen Epiblast (wird zum Körper) und Hypoblast (wird zum Dottersack). Die Blastoide hatten morphologisch und transkriptionell große Ähnlichkeit mit natürlich entstandenen Blastozysten an Tag 7 nach der Befruchtung. An diesem Tag endet die Wanderung der Blastozyste aus dem Eileiter in den Uterus und sie beginnt, sich in der Uterus-Schleimhaut einzunisten.

Mit Mausembryoiden konnten Forschende die Entwicklungsphasen noch länger verfolgen. Auf X (ehemals Twitter) postete die Entwicklungsbiologin Magdalena Zernicka-Goetz (Universität Cambridge, UK, und CalTech, USA) am 2. August 2022: „Nachdem wir zehn Jahre lang Embryoide hergestellt hatten, gelang es uns, Strukturen mit Gehirnen, Herzen, Neuralrohren, Somiten und einem Dottersack zu erzeugen.” In einer Publikation beschreibt ihre Gruppe das etwas ausführlicher: „Unser Embryo-Modell zeigt eine Kopffalte mit definierten Vorder- und Mittelhirnregionen. Es entwickelt eine herzförmige Struktur, einen Rumpf mit Neuralrohr und Somiten, eine Schwanzknospe mit neuromesodermalen Vorläufern sowie ein Darmrohr und primordiale Keimzellen.” (Nature 610: 143-53). Damit erreicht es also das Stadium der Neurulation.

Zellmischungen

Für ihr Modell setzten die Forschenden drei Zelltypen ein: naive embryonale Stammzellen, Trophoblasten-Vorläuferzellen sowie transduzierte Stammzellen, die transient GATA4 bilden. Dieser Transkriptionsfaktor ist nötig, damit Zellen den Weg zur Bildung eines primitiven Endoderms einschlagen.

Quasi zeitgleich publizierte Hannas Team seine Maus-Embryoide (Cell 185: 3290-06). Die Forschenden mischten naive embryonale Maus-Stammzellen mit zwei Linien embryonaler Stammzellen, die entweder GATA4 oder Cdx2 transient exprimierten. Cdx2 bringt die Stammzellen dazu, sich zu Zellen des Trophoektoderms zu differenzieren. Es entstanden Gebilde, die einem Mausembryo sehr ähnlich sahen, den Beginn der Organogenese erreichten und auch die typischen extraembryonalen Gewebe bildeten. Die Embryoide lebten bis zu achteinhalb Tage nach der Befruchtung. Dies entspricht etwa dem Beginn der dritten Schwangerschaftswoche bei Menschen.

2023 wurde letztlich zum Jahr der menschlichen Embryoide. Gleich mehrere Arbeitsgruppen präsentierten unabhängig voneinander Verfahren, mit denen sie in Kultur Embryonen-ähnliche Strukturen erzeugten. Die Editoren von Nature Methods kürten Embryoid-Modelle schließlich zur „Method of the Year 2023”. Alle Teams brachen die Entwicklung am Tag 14 nach der Befruchtung ab. Auf diesen Zeitpunkt hatten sich viele Forschende und Forschungsorganisationen weltweit geeinigt, weil der in den Uterus eingenistete Embryo in diesem Stadium mit der Gastrulation beginnt, was die Anlage der Organe einläutet.

Durchgesteckte Ergebnisse

Die Embryoid-Modelle aus den Laboren von Hanna und Zernicka-Goetz bilden die natürlichen Vorgänge wohl am ehesten ab – soweit man das anhand der Morphologie sowie von Transkriptionsanalysen beurteilen kann. Noch bevor die Publikation von Zernicka-Goetz erschienen war, hatte bereits der britische Guardian über die Experimente der Gruppe berichtet. Das schlug nicht nur in den Medien hohe Wellen, sondern auch in der Forschungsgemeinde, denn konkrete Daten waren bis dahin nicht veröffentlicht worden. Ein Phänomen, das man durchaus auf die scharfe Konkurrenz zwischen den Entwicklungsbiologinnen und -biologen zurückführen kann.

Um die Modelle und ihre Unterschiede wirklich verstehen zu können, muss man sich (leider) mit den zahllosen experimentellen Details beschäftigen. Hier sollen drei Verfahren, Embryoid-Modelle herzustellen, beispielhaft beschrieben werden.

Das Team von Zernicka-Goetz mischte dazu kultivierte, aber genetisch unveränderte menschliche embryonale Stammzellen mit zwei transgenen Stammzelllinien (Nature 622: 584-93). Eine der Zelllinien exprimierte die Transkriptionsfaktoren GATA3 und Ap2-gamma, weshalb sich diese Zellen in Richtung Trophoblast entwickelten. Die andere bildete die Transkriptionsfaktoren GATA6 und SOX6. Diese Zellen differenzierten zum Hypoblasten. Als Kulturmedium wählte die Arbeitsgruppe RSeT. Ohne Zusatz weiterer Induktoren oder Inhibitoren entstand aus diesen Zellen ein Embryoid, der sich bis zu einem der Gastrulation ähnlichen Prozess entwickeln durfte. In einem weiteren Ansatz nutzten die Forschenden statt der transgenen Linien nicht-modifizierte Zellen und induzierten die Differenzierung chemisch (Nature 622: 574-83).

Spiel mit Induktionsmedien

Die Arbeitsgruppe von Hanna verwendete ausschließlich nicht-modifizierte embryonale Stammzellen (Nature 622: 562-73). Eine Linie inkubierte sie in einem sogenannten RCL-Induktionsmedium, das die Zellen veranlasste, sich zu Hypoblast-Zellen zu differenzieren. Eine zweite Linie behandelten die Forschenden mit Inhibitoren, um die Entwicklung von Trophoblasten-Vorläufern zu induzieren. Die Zelllinie, die Epiblasten bilden sollte, kultivierte das Team in einem sogenannten HENS-Medium (Human Enhanced Naive Stem Cell). Nach dreitägiger getrennter Inkubation mischten die Forschenden die Zellen. Bis Tag 14 entwickelten sich daraus Strukturen mit Dottersack, Mesoderm-Vorläuferzellen sowie extra-embryonalem Mesoderm, umgeben von Zellen, die Teilen des Trophoblasten ähnlich waren. Dieser Embryoid hatte also Eigenschaften, die einem tatsächlichen Embryo nach der Einnistung, aber vor der Gastrulation entsprachen.

Joshua Hislops Gruppe an der Universität in Pittsburgh gelang es, ohne embryonale Stammzellen Embryoide zu kultivieren. Aus dem Ansatz mit induzierbaren pluripotenten Stammzellen entstanden Embryo-ähnliche Gebilde, die eine Polarisierung durchliefen, also eine Achse ausbildeten. Sie enthielten einen Dottersack und sogar Zellen mit hämatopoetischen Eigenschaften (Nature doi.org/gs8vn4). Allerdings entstand kein vollständiger Trophoblast – wie übrigens bei allen anderen Modellen auch.

All diese Modelle zeigen eine hohe Kapazität zur Selbstorganisation – trotz ihrer individuellen Mängel. In den ersten 14 Tagen ist offensichtlich kein Kontakt zu einem Uterusgewebe nötig, um Strukturen auszubilden, die für eine Einnistung nötig sind.

Ziel dieser Arbeiten ist es, die frühe Embryoentwicklung besser untersuchen zu können, um Fehlentwicklungen zu verstehen und ihnen gegebenenfalls vorbeugen zu können. Hanna kann sich sogar vorstellen, aus pluripotenten Zellen von Patienten autologe Embryoide zu kultivieren. Diese könnte man zu gewünschten Zelltypen differenzieren, die als Therapeutika für die Spender geeignet wären.

Nur Ähnlichkeit mit Embryonen

Klar ist, dass es sich bei diesen Embryo-ähnlichen Gebilden nicht um „künstliche Embryonen” handelt, wie vielfach in den Medien gemeldet. „Diese aus Stammzellen gewonnenen embryonalen Modelle beantworten Fragen zu den frühen Stadien von Embryonen, sie sehen Embryonen sehr ähnlich, sind aber keine menschlichen Embryonen”, konstatiert die Entwicklungsbiologin Gemma Marfany von der Universität Barcelona (Spanien) in einer vom spanischen Science Media Centre (Barcelona) veröffentlichten Stellungnahme. „Das Problem ist“, führt sie darin weiter aus, „dass sie sich in vielen Ländern in einem rechtlichen Schwebezustand befinden, und es nicht bekannt ist, welche Vorschriften für sie gelten.”

Natürlich diskutieren die Forschenden nicht nur die experimentellen Methoden, sondern auch die Frage, wie weit man mit dieser Forschung gehen soll beziehungsweise ab welchem Entwicklungsstadium ein in Kultur entstandenes Embryo-ähnliches Gebilde einen besonderen Schutzstatus genießen soll.

Noch einige offene Fragen

Marfany weist in der Stellungnahme auf verschiedene offene Punkte im Zusammenhang mit Embryoid-Modellen hin: „Wir müssen bedenken, dass diese Modelle ein Potenzial [sich zu einem bestimmten Entwicklungsstadium weiterzuentwickeln; d. R.] und eine Lebensfähigkeit erlangen könnten, sobald zelluläre und genetische Manipulationstechniken dies eines Tages ermöglichen. Daher wird es notwendig sein, sowohl aus bioethisch-rechtlicher als auch aus wissenschaftlicher Sicht zu definieren, was sie sind. Zudem muss man festlegen, welche Regeln für sie gelten, wie ihre Erzeugung kontrolliert wird, und bis zu welchem Punkt der Entwicklung sie untersucht werden können.”

Und natürlich darf man bei diesen Überlegungen nicht vergessen, die Öffentlichkeit mit einzubeziehen. Hier ist Eile geboten, damit der technische Fortschritt die ethische Kontrolle nicht abhängt.





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Das grobe Schema der frühen Embryonalentwicklung, von der befruchteten Eizelle bis zur Bildung der Blastocyste und deren Einnistung in den Uterus nach 14 Tagen, kennen Entwicklungsbiologinnen und -biologen. Embryoid-Modelle sollen ihnen dabei helfen, auch die Details zu verstehen. Illustr.: Stem Cells Reports

Die frühen Embryonalstadien in aller Kürze

Am Anfang steht die Befruchtung der Eizelle, die im Eileiter stattfindet. Etwa 24 Stunden nach der Verschmelzung von Eizelle und Spermium teilt sich die Zygote zum ersten Mal. Schon jetzt wird über das zukünftige Schicksal dieser beiden Zellen entschieden. Aus einer entwickelt sich das Trophoektoderm (TE), aus dem im Laufe der weiteren Entwicklung extra-embryonale Gewebe entstehen. Aus der zweiten Zelle bildet sich die innere Zellmasse (ICM).

An Tag 5 besteht der nun Blastozyste genannte, länglich geformte Embryo aus einer äußeren Schicht von TE-Zellen um einen Hohlraum (Blastocoel), in dem an einem Pol die ICM liegt. An Tag 7 wandert der Embryo vom Eileiter in den Uterus und beginnt, sich einzunisten.

An der zur Uteruswand zugewandten Seite verbleibt der Epiblast, aus dem sich der Embryo entwickelt. Der Hohlraum wird zum Dottersack. Durch eine Zellschicht namens primitives Endoderm sind beide voneinander getrennt. Ab Tag 14 – der Embryo ist nun vollständig in die Gebärmutterschleimhaut eingenistet – beginnt die Gastrulation. Es entstehen die drei Keimblätter Ektoderm, Endoderm und Mesoderm. In der vierten Woche nach der Befruchtung startet die Organogenese. Aus dem TE entsteht die Plazenta.

Bei Mäusen verläuft der Prozess ähnlich, nur schneller. Allerdings ist die Morphologie unterschiedlich, beispielsweise sind Maus-Blastozysten rund.