Editorial

Einfangen statt einfädeln - Proteinsequenzierung mit Poren

Mario Rembold


(15.02.2024) Proteinforscher und -forscherinnen sehnen sich schon lange danach, Proteine ohne viel Aufwand sequenzieren zu können. Vielleicht geht ihr Wunsch mithilfe von Nanoporen in Erfüllung, die Peptide fangen.

Nukleinsäuren im Hochdurchsatz zu sequenzieren, ist inzwischen kein Hexenwerk mehr. Sogar bislang unbekannte Sequenzen lassen sich mit den einschlägigen Sequenzier-Plattformen mit vergleichsweise geringem Aufwand lesen und analysieren. Die eigentliche Herausforderung ist vor allem die Datenauswertung – etwa bei der Rekonstruktion vollständiger Genome oder dem Verknüpfen bestimmter Allele mit Krankheitsrisiken. Die Genomik profitiert hier vom Prinzip der komplementären Basenpaarung, auf dem auch die gängigen Sequencing-by-Synthesis-Methoden beruhen. Mehr noch: Vor dem Sequenzieren kann man die einzelnen DNA-Moleküle mit einer PCR vervielfältigen, um auch extrem kleine DNA-Mengen sequenzieren zu können.

Die Identifizierung anderer Biomoleküle gestaltet sich ungleich komplizierter. Für Proteine existieren keine vergleichbaren Sequenzierverfahren, und Aminosäure-Ketten lassen sich auch nicht so einfach amplifizieren wie DNA-Sequenzen. Proteomikerinnen und Proteomiker sind daher vor allem auf die Massenspektrometrie angewiesen, wenn sie etwas über den Aufbau eines Proteins erfahren wollen. Dazu trennen sie die aufkonzentrierten Proteine per Hochleistungs-Flüssigkeitschromatografie (HPLC) nach Kriterien wie Größe, Ladung, Hydrophobizität oder anderen molekularen Eigenschaften. Anschließend zerlegen sie die Proteine in Peptide und analysieren diese in ausgefeilten Massenspektrometern.

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Bei einer neuen Technik zur Proteinsequenzierung in stromdurchflossenen Nanoporen werden die Peptide nicht wie üblich Aminosäure für Aminosäure in die Pore eingefädelt, sondern komplett von der Pore eingefangen. Der hierdurch blockierte Stromfluss lässt Rückschlüssse auf die Zusammensetzung des analysierten Peptids zu. Illustr.: Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung e.V.

Basen mit Stromsignatur

Seit rund einem Jahrzehnt elektrisiert die Sequenzier-Nerds jedoch eine alternative Herangehensweise, bei der Membrankanäle beziehungsweise Nanoporen eine zentrale Rolle spielen. Forschende setzen Nanoporen schon seit einiger Zeit ein, um DNA zu sequenzieren. Dazu wird die negativ geladene DNA elektrophoretisch durch eine stromdurchflossene Nanopore gezogen. Während die DNA durch den Kanal kriecht, verringert sich der in der Pore gemessene Stromfluss. Die Signatur der Stromflussänderung hängt von den Basen ab, die gerade in der Pore stecken. Mit dieser Technik ist also eine echte Einzelmolekül-Sequenzierung möglich.

Ganz so simpel wie hier skizziert ist das Verfahren im echten Leben leider nicht. Man muss mit Enzymen wie Polymerasen oder Helicasen nachhelfen, damit sich die DNA langsam genug durch die Pore schlängelt. Die Enzyme fädeln den Doppelstrang auf und halten ihn an einem Ende fest und straff, während das andere Ende elektrisch durch die Membran gezogen wird.

Dieses Grundprinzip lässt sich auch auf andere Polymere übertragen – warum sollte es also nicht auch mit Proteinen funktionieren? Nanoporen-Sequenzierer, die einzelne Peptide Aminosäure für Aminosäure „abtasten“, werden bereits entwickelt. Das Prinzip und die technischen Herausforderungen beleuchtete das Methoden-Special „Next Generation Protein Sequencing“ in Laborjournal 5/2022 ab Seite 64 (Link).

Ein Peptid entwirren und linear durch eine Pore zu befördern, ist aber alles andere als trivial. Im Gegensatz zur DNA tragen Proteine keine einheitliche Ladung über ihre gesamte Länge, und sie sind deutlich heterogener. Der Elektrophysiologe Jan Behrends forscht daher an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg derzeit intensiv neben der oben erwähnten Einfädel- oder Threading-Technik an einer anderen Nanoporen-basierten Sequenziermethode für Proteine: dem Trapping.

Bei diesem Ansatz ist es nicht notwendig, das Peptid in eine lineare Konformation zu zwingen – die Pore fängt für einen Moment das gesamte Molekül ein. „Das geht natürlich nur, solange die Polymere so kurz sind, dass sie insgesamt in die Pore hineinpassen“, schränkt Behrends ein. Man kann also keine kompletten, in der Tertiärstruktur vorliegenden Proteine auf die Nanopore geben, sondern muss sie entsprechend vorbereiten. Aber, so ergänzt Behrends: „In den meisten Fällen können wir die Protokolle, die für die Massenspektrometrie entwickelt wurden und werden, relativ zwanglos auf die Nanoporen-Technologie übertragen.“

Die separierten und zu kürzeren Stücken verdauten Peptide schleust sein Team nicht ins Massenspektrometer, sondern analysiert sie mittels Nanopore. „Wir benutzen die Nanopore als Sensor, um das Massenspektrometer zu ersetzen“, fasst Behrends zusammen. Er stellt aber auch klar: „Natürlich machen wir mit der Nanopore nicht wirklich eine Massenspektrometrie. Man könnte es aber eine Größenspektroskopie nennen.“

Strom runter, Widerstand rauf

Durch die freie Nanopore fließt ein kontinuierlicher Strom. Diffundiert ein Molekül in die Pore, unterbricht es den Stromfluss. „Die Größe des Reststroms während der Blockade hängt von der Größe des Moleküls ab“, so Behrends. „Je größer das Molekül, desto tiefer ist der Block.“ Die ersten Versuche hierzu führte Behrends' Gruppe aber nicht mit Proteinen durch, sondern mit dem Polymer Polyethylenglycol (PEG), das aus mehreren gleichen Monomeren aufgebaut ist. Dabei hätten sie, so Behrends, Experimente wiederholt, die ursprünglich John Kasianowicz durchgeführt hat. Kasianowicz forschte von 2021 bis 2022 im Rahmen einer Marie Skłodowska-Curie Senior Fellowship am Freiburg Institute for Advanced Studies und arbeitet inzwischen an der Universität Südflorida.

„Bei dem Blockier-Ereignis nimmt der Widerstand der Pore zu“, erläutert Behrends. „Wir messen dann einen sogenannten resistiven Puls. Wenn wir aus den Daten ein Histogramm anfertigen, sehen wir eine Verteilung verschiedener Maxima – und jedes Maximum entspricht einer Polymer-Spezies.“

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Jan Behrends optimiert mit seinem Team an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg die Nanoporen-Sequenzierung von Proteinen mit der Trapping-Technik. Sein Ziel ist die De-novo-Detektion von Proteinen ohne Abgleich mit bereits bekannten Sequenzen. Foto: Universität Freiburg

Für ihre Versuche hatten Behrends und Co. einen eigenen Chip entwickelt, das sogenannte Micro-Electrode Cavity Array oder MECA. Die 2014 als Spin-off der Universität Freiburg gestartete Firma Ionera bietet die MECA-Chips inzwischen auch kommerziell an. Mithilfe des MECA konnten die Freiburger Forschenden schon 2011 (wie Jahre zuvor bereits John Kasianowicz) messen, aus wie vielen Einheiten die PEG-Moleküle jeweils aufgebaut waren (ACS Nano 5(10): 8080-8). Bei den Experimenten änderte sich aber nicht nur der Widerstand der Pore um einen gewissen Betrag. Je nach Biomolekül entstanden beim Rückgang des Stromflusses charakteristische Signaturen. Behrends' Team entwickelte die Methode daher weiter, um damit auch Peptide identifizieren zu können.

Kleine Probenhöhlen

In der aktuellen Ausführung enthält der MECA-Chip 16 Mulden oder Kavitäten. Im Gegensatz zur restlichen Oberfläche des Chips sind diese nicht mit einem hydrophoben Lack beschichtet. In den Vertiefungen können sich daher die Pufferlösungen sammeln, in denen die Messungen stattfinden. „Die Kavitäten fassen ein Volumen von etwa 100 Pikoliter, also etwas weniger als eine normale Zelle“, erklärt Behrends.

Das MECA ist im Prinzip eine winzige 16-Multiwell-Platte, die mit elektrotechnischen Messeinrichtungen versehen ist. Eine Silber/Silberchlorid-Elektrode an jedem Pikowell sorgt bei den Messungen für den Ionenfluss durch die Pore. Der Experimentator oder die Experimentatorin muss die MECAs aber zunächst vorbereiten. „Die Elektrode selbst ist hydrophil, sie lässt sich also sehr gut benetzen“, erklärt der Elektrophysiologe. Über die 16 Kavitäten wird eine Membran gelegt. Das sei recht einfach, versichert Behrends: „Man gibt einen Tropfen Lipid in einem organischen Lösungsmittel auf die Oberfläche und legt einen Rührfisch drüber. Der schiebt das Lipid über alle 16 Kavitäten, und es entsteht spontan eine Bilipidschicht.“

Eine Pore pro Membran

Jetzt fehlt aber noch die Nanopore. „Dazu stellen wir eine Lösung mit porenbildenden Proteinen bereit. Die Konzentration wählen wir so, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit genau eine Pore pro Membran eingebaut wird“, beschreibt Behrends den Versuchsaufbau. Die eine oder andere der 16 Membranen bleibt hierbei leer, während in einigen anderen vielleicht zwei oder drei Poren stecken. „Das Schöne ist aber“, so Behrends, „dass man am Widerstand sofort sieht, wie viele Poren in der Membran sitzen.“ Man muss also nicht auf gut Glück messen, sondern weiß von vorneherein, welche Elektroden man sinnvoll nutzen kann. Im Mittel seien das 8 der 16 Wells auf dem Chip.

Die einzelnen MECA-Chips kann man reinigen und wiederverwenden. „Die Lebensdauer des Chips hängt von der Lebensdauer der Silber/Silberchlorid-Elektrode ab, die sich mit der Zeit verbraucht“, sagt Behrends. Je mehr Strom durch die Elektrode geflossen ist, desto weiter fortgeschritten ist der Verschleiß.

Detektion isomerer Proteine

Als Pore kommen verschiedene Proteine infrage. Behrends’ Gruppe verwendet häufig das Kanalprotein Aerolysin, ein bakterielles Toxin aus Aeromonas hydrophila. Die Freiburger Forschenden haben die Nanopore über die Jahre weiterentwickelt und genetisch modifiziert. „Mittlerweile nutzen wir die Pore nicht nur, um auf die Größe der Peptide zu schließen. Wir erhalten auch Informationen über die Form und chemische Struktur“, freut sich Behrends. „Wir haben jetzt gezeigt, dass wir sogar isomere Peptide, also Moleküle mit gleicher Größe und derselben chemischen Zusammensetzung, aber unterschiedlichen Positionen posttranslationaler Modifikationen, voneinander unterscheiden können. Wir sehen nicht nur, dass eine Methylierung vorhanden ist, sondern erfahren auch, ob sie zum Beispiel an Lysin 8 oder Lysin 12 sitzt.“ Behrends verweist in diesem Zusammenhang auf eine Publikation vom Herbst 2022, in der das Team Messungen von Peptiden aus dem menschlichen Histonprotein H4 beschreibt (J. Am. Chem. Soc. 144(35): 16060-8).

In den von der Stromflussblockade ausgelösten Ausschlägen stecken aber noch weit mehr Informationen als nur die Peptidgröße. „Wir werten mittlerweile Bandbreiten bis hin zu 500 Kilohertz aus, um auch sehr kurze resistive Pulse messen zu können“, geht Behrends auf methodische Details ein. „Dabei interessieren wir uns nicht nur für die Amplitude, sondern auch für das zusätzliche Stromrauschen während der Blockade, denn es zeigt die Dynamik des in der Pore gefangen Peptids.“ Wichtig zu wissen: Die zu messenden Peptide diffundieren zunächst zwar frei in die Pore, bleiben in ihr jedoch eine gewisse Zeit gefangen. „Das sind im Mittel 0,1 bis maximal einige hundert Millisekunden“, ergänzt Behrends. Während dieser Zeit interagiert das Peptid sowohl mit der wässrigen Lösung als auch mit der Tunnelwand der Nanopore. „Die Peptide fühlen sich hier unterschiedlich wohl“, veranschaulicht Behrends. Einige Moleküle liegen offensichtlich relativ ruhig im Kanal, während andere unruhig darin „herumzappeln“. „Letzteres passiert wohl vor allem bei den hydrophoben Peptiden, denn die stecken ungern in der wässrigen Pore“, vermutet der Elektrophysiologe und zitiert den Polymerphysiker Murugappan Muthukumar, der diese Moleküle als „konformationell frustriert“ bezeichnete. „Den Frust erkennt man daran“, so Behrends, „dass der Strom wahnsinnig rauscht.“

Am Ende sind es also viele subtile Signale in den Ausschlägen der Strommessungen, die zusammengenommen den Aufbau eines Peptids verraten. Behrends erklärt, dass man aus den Daten inzwischen sogar unterscheiden könne, ob in einem Peptid D-Phenylalanin oder die spiegelbildliche Version L-Phenylalanin verbaut ist.

Fluoreszenz ergänzt Strom

Die Freiburger konnten sich eine Reihe von Förderungen sichern. Behrends nennt als Beispiel das Nanoporen-Zukunftscluster nanodiag BW des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), an dem seine Gruppe federführend beteiligt ist. „Das neueste Förderprojekt, an dem vier weitere Arbeitsgruppen der Universität Freiburg sowie das Freiburger Hahn-Schickard-Institut teilnehmen, ist von der Carl Zeiss Stiftung“, sagt Behrends, und kommt damit auf das Projekt nEOdiag zu sprechen. Das Kürzel steht für Nanoporen-basierte elektrisch-optische Proteindiagnostik. Die Idee: Zusätzlich zum Stromfluss ergänzen Fluoreszenzsignale die Auswertung. Hierzu modifizieren Behrends und Co. derzeit die Wandung der Nanopore mit Fluorophoren. „Wenn wir den Analyten bis zu hundert Millisekunden festhalten, wird das Fluorophor sterisch eingeklemmt und in eine bestimmte Konformation gezwungen. Dadurch verstärkt sich die Fluoreszenz. Diesen Effekt kennt man aus der Biophysik unter der Bezeichnung Protein-induzierte Fluoreszenzverstärkung, oder kurz PIFE, für Protein Induced Fluorescent Enhancement“, erklärt Behrends.

Hinzu kämen weitere Effekte auf die Fluoreszenz, wie die Dielektrizitätskonstante, die sich verändert, weil das Peptid in der Pore Wasser verdrängt. „Wir wollen die Fluoreszenz simultan mit der elektrischen Messung erfassen und Machine-Learning-Modelle einsetzen, um beide miteinander zu korrelieren. Wir erwarten, dass wir durch diese Erweiterung des Datenraums noch feinere Unterschiede entdecken und nutzen können!“

Die hier beschriebenen Trapping-Ansätze zur Proteinsequenzierung setzen voraus, dass Maschinenlernmodelle mit Signaturen bereits bekannter Peptide trainiert worden sind. „Wir arbeiten allerdings auch daran, eine De-novo-Detektion zu ermöglichen“, gibt Behrends einen Ausblick in die Zukunft und nennt die echte Peptidsequenzerkennung via Trapping als Ziel. „Das haben mein Doktorand Tobias Ensslen und ich mit der Universität Freiburg auch schon zum Patent angemeldet.“ Je eine Peptidspezies kommt dann auf den MECA – „allerdings zusammen mit einer Exopeptidase, die ausgehend vom N- oder C-Terminus Aminosäure für Aminosäure abschneidet“, ergänzt Behrends.

Verschobener Reststrom

So entstehen Mischungen mit mehr oder weniger stark gekürzten Versionen des Peptids – Behrends spricht von einer Peptid-Leiter. „Wir sehen dann Maxima der Stromabbrüche im Histogramm, die sich mit zunehmender Wirkung des Enzyms verschieben, während immer kürzere Peptide entstehen“, so Behrends. „Die Schritte zwischen diesen Maxima hängen davon ab, welche Aminosäure gerade abgeschnitten wurde: Wenn man ein großes Arginin entfernt, sieht man eine riesige Verschiebung zu höheren Reststromwerten.“ Je nachdem, welche Aminosäure auf die abgeschnittene folgt, ergeben sich weitere Unterschiede in den Signaturen. „Wir müssen unsere KI erst noch mit diesen Informationen füttern, aber prinzipiell kann man mit der Methode tatsächlich neue Sequenzen ermitteln.“

Derzeit hat die Freiburger Gruppe vor allem die Diagnostik oder Anwendungen zur Medikamentenentwicklung im Blick. So könnte man zum Beispiel Zellkulturüberstände oder sogar Patientenproben auf bestimmte posttranslationale Modifikationen eines krankheitsrelevanten Proteins untersuchen.

Der MECA-Chip mit dem zugehörigen Lesegerät ist deutlich handlicher als ein Massenspektrometer. Zudem kommt man auch mit sehr geringen Mengen des Analyten aus. Für Einzelzellproteomik mit geringsten Proteinmengen sei die Methode aber derzeit nicht optimiert, stellt Behrends klar. „Im Prinzip machen wir zwar eine Einzelmolekül-Analytik, aber das heißt natürlich keineswegs, dass wir mit einem einzelnen Molekül etwas anfangen können. Wir brauchen einige hundert Moleküle mehr für die Statistik.“

Behrends betont, dass die Nanoporen-Technologien zur Proteinsequenzierung noch am Anfang stünden. Er will das Array auf dem Chip erweitern und statt 16 Wells 100 Mulden mit Elektroden aufbringen. Dann könnte sein Team mehr Daten in kürzerer Zeit erfassen.

Die Proteinsequenzierung bleibt also eine Herausforderung. Den Nanoporen-Tüftlern aus Freiburg mangelt es aber offenbar nicht an kreativen und originellen Ideen.