Editorial

Erst zusammenkleben, dann zerstückeln - Gezielter Proteinabbau mit molekularen Klebern

Karin Hollricher


(11.10.2023) Unerwünschte Proteine mithilfe von molekularen Klebstoffen abzubauen, statt sie zu inhibieren – für diese Idee begeistern sich Forschende, Start-ups und die Pharmaindustrie gleichermaßen.

Um die Funktion eines Proteins zu untersuchen oder diese gezielt zu unterbinden, verwendet man in der Regel einen Inhibitor oder setzt genetische Methoden ein. Eine weitere Option ist der induzierte Abbau des Proteins. Erfreulicherweise bringt jede tierische und pflanzliche Zelle das dafür nötige Werkzeug schon mit: nämlich das Ubiquitin-Proteasom-System (UPS). Um ein Zielprotein beziehungsweise das Protein of Interest (POI) aus der Zelle zu entfernen, muss man allerdings den E3-Ligase-Komplex überlisten – im normalen zellulären Kontext lässt er das POI links liegen. Das Interesse des E3-Ligase-Kompexes an dem POI lässt sich aber durch zwei Arten von Molekülen wecken: mit bifunktionalen Molekülen oder mit molekularen Klebern.

E3-Ligase, Mülltonnenaufkleber
Molekulare Klebstoffe pappen Proteine, die aus der Zelle verschwinden sollen, an die E3-Ligase an. Die E3-Ligase versieht sie mit einem „Mülltonnenaufkleber“ für die zelluläre Müllabfuhr, die das Protein schließlich entsorgt. Foto: Screenshot FMI / Montage: U. Sillmann

Bifunktionale Moleküle funktionieren wie Adapter. Sie bestehen aus zwei Liganden, die durch einen kurzen Linker verbunden sind. Ein Ligand dockt an ein Substrat an, der andere an eine E3-Ligase. Die Ligase nutzt die induzierte Nachbarschaft, um das Substrat zu ubiquitinieren und dadurch für die Zerstörung durch das Proteasom zu markieren. Die Prototypen für bifunktionelle Moleküle sind PROTACs (PROteolysis TArgeting Chimeras). Inzwischen gibt es weitere Strukturen mit anderen Spezifitäten (siehe für mehr Details den Infokasten "Die Familie der bifunktionalen Modulatoren wird immer größer" am Ende des Artikels).

Einfach zu entwerfen

Die Idee kam vor gut zwanzig Jahren aus dem Labor von Craig Crews und Raymond Deshaies am Mattel Children‘s Hospital at University of California, Los Angeles (PNAS 98: 8554-59). Crews ist inzwischen Professor an der Yale University, Deshaies Senior Vice President, Global Research des Biotechriesen Amgen. Für ihre Forschung zu PROTACs erhielten die beiden im Juli den Jacob and Louise Gabbay Award. Das Schöne an diesen Molekülen ist, dass sie sich rational, in silico entwerfen und modular zusammensetzen lassen. Andererseits sind sie im Vergleich zu molekularen Klebern große Moleküle – sie für die Zellmembran durchgängig zu gestalten, ist eine Herausforderung für Wirkstoff-Designer.

Molekulare Kleber heften sich dagegen an eine E3-Ligase, ohne dafür eine Bindungstasche zu benötigen. Allein der Kontakt reicht aus, um die Oberfläche der Ligase so zu verändern, dass sie sich auf neue Substrate (Neo-Substrate) einlässt und sie ubiquitiniert. Der molekulare Klebstoff kann aber auch an das POI binden, um die Anhaftung der E3-Ligase an die Proteinoberfläche zu ermöglichen. Der Effekt bleibt aber gleich: das POI wird ubiquitiniert und anschließend abgebaut.

Den ersten natürlichen molekularen Klebstoff entdeckte man – Überraschung! – in Pflanzen mit dem Phytohormon Auxin (Nature 446: 640-45). Auxin bindet an die E3-Ligase TIR1, die daraufhin endogene, als Repressoren wirkende Aux/IAA-Transkriptionsfaktoren abbaut. Sobald das Proteasom die Aux/IAA-Transkriptionsfaktoren zerstört hat, kann die Expression der Auxin-responsiven Gene starten. Nach diesem Prinzip funktionieren auch andere Phytohormone. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen entwickelten Forschende durch Auxin transient induzierbare Protein abbauende Systeme, um in tierischen Zellen, die kein endogenes Auxin enthalten, Proteinfunktionen untersuchen zu können (siehe hierzu auch den LJ-Online-Artikel vom 10.10.2019 „Mit Pflanze ins Tier“ - Link).

In tierischen Zellen fand man bisher keine molekularen Kleber, die den Phytohormonen entsprechen. Das ist erstaunlich, denn im menschlichen Genom stecken etwa 600 E3-Ligase-Gene. „Bis vor kurzem haben wir ja noch gar nicht so genau hingeschaut, ob und welche zellulären Proteine unter bestimmten Bedingungen gezielt degradiert werden. Diese Funktionalität hatten wir nicht auf dem Radar”, erklärt der Experte für die Targeted Protein Degradation (TPD) Nicolas Thomä vom Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research (FMI) in Basel.

Neue Hoffnungsträger

„Trotzdem sind Pharmaforscher schon fast in euphorischer Stimmung: TPD revolutioniert gerade die Entwicklung neuer Pharmaka”, sagt Thomä. Nun ist Revolution ein großes Wort. Doch tatsächlich lässt sich mit dieser Methode prinzipiell jedes Protein, vielleicht sogar jedes zelluläre Molekül, aus dem Verkehr ziehen. Davon träumen insbesondere Wirkstoffentwickler, die bisher höchstens zwanzig Prozent der zellulären Proteine medizinisch wirksam beeinflussen können. Die Übrigen sind derzeit „undruggable”, weil sie zum Beispiel keinerlei Bindungstaschen haben, an die Inhibitoren oder andere Therapeutika andocken könnten.

Die ersten molekularen Kleber, die als Arzneimittel schon lange verwendet werden, entdeckte man eher zufällig. Dazu zählen die Immunsuppressoren Cyclosporin A und Rapamycin. Lange dachte man, es seien typische Inhibitoren. Doch beide induzieren eine neue Protein-Protein-Assoziation. Auch wenn diese nicht mit der Ubiquitinierung verbunden ist, war diese Erkenntnis überraschend. Für die Fachwelt womöglich noch verblüffender war die Beobachtung, dass das Molekül Thalidomid ein molekularer Kleber ist. Es war unter dem Namen Contergan Ende der Fünfzigerjahre in Europa als Schlafmittel zugelassen worden – mit den bekannten verheerenden Folgen.

Nicolas Thomä
Nicolas Thomäs Gruppe am Friedrich Miescher Institut für Biomedizinische Forschung (FMI) in Basel entschlüsselte den Mechanismus des molekularen Klebstoffs Thalidomid, der in den Fünfziger- und Sechzigerjahren unter dem Markennamen Contergan traurige Berühmtheit erlangte. Thomä erhielt dafür im letzten Jahr den Otto-Naegeli-Preis. Mit dem Preisgeld will er Molecular-Glue-Therapeutika entwickeln. Videoausschnitt: Friedrich Miescher Institut

Fünfzig Jahre lang hatte man keine Ahnung, warum Thalidomid in heranwachsenden Kindern das Wachstum der Gliedmaßen bremst, wenn die Mutter es während einer bestimmten Phase der Schwangerschaft einnimmt. Erst 2010 entdeckte man, dass der Wirkstoff an das Molekül Cerebron (CRBN) bindet (Science 327: 1345-50). CRBN ist eine E3-Ligase, die zur großen Familie der Cullin-RING-E3-Ligasen (CRL) gehört. Als Folge des Kontakts ubiquitiniert CRBN Substrate, die für die Entwicklung der Gliedmaßen offensichtlich essentiell sind. Aber nicht nur das: Thalidomid und seine Derivate beeinflussen auch die Immunantwort über den Abbau von Transkriptionsfaktoren wie IKZF1 und IKZF3 –deshalb werden sie als Immunomodulatory Imide Drugs (IMiDs) bezeichnet. Dieser Effekt ist heute von sehr großem therapeutischen Nutzen: Seit 1998 verwendet man Thalidomid und ähnliche Moleküle erfolgreich zur Bekämpfung des Multiplen Myeloms.

Die natürlichen Substrate von CRBN waren bis letztes Jahr unbekannt. Dann entdeckten quasi zeitgleich Forschende der Harvard University und des Max-Planck-Instituts für Biologie sowie der Universität in Tübingen, dass CRBN C-terminale ringförmige Imide bindet (Nature 610: 775-82; Biochem. Biophys. Res. Commun. 637: 66-72). Die Strukturen entstehen durch intramolekulare Zyklisierung von Glutamin oder Asparagin – man findet sie häufig an defekten, zerbrochenen Proteinen. Womöglich hat CRBN also nicht nur ein natürliches Substrat, sondern viele.

Suche nach Signal für Abbau

Um schneller neue Wirkstoffe entwickeln zu können, sucht man nach Leitstrukturen oder Degrons in den E3-Ligasen. Sie sollen vorhersagen, wie ein molekularer Klebstoff oder ein PROTAC dieses Enzym dazu veranlassen könnte, ein Neo-Substrat zu erkennen. Bioinformatiker entwickelten hierfür verschiedene Werkzeuge, ihre Vorhersagegenauigkeit müssen diese aber erst noch in vitro und in vivo unter Beweis stellen (Ann. Rev. Pharm. Tox. 64: 12.1-12.22).

Es wäre wünschenswert, wenigstens eine oder zwei der Dreiecksbeziehungen genau zu verstehen. Die Interaktion zwischen CRBN-Ligase, Thalidomid-Derivaten und den Neo-Substraten Ikaros (IKZF1) sowie Aiolos (IKZF3) schauten sich Thomä und sein Strukturbiologen-Team genauer an. IKZF1/3 sind Transkriptionsfaktoren mit den dafür typischen Zinkfinger-Domänen vom Typ Cys2-His2 (C2H2). Auf einer vergleichsweise kleinen Grenzfläche von 350 bis 700 Angström entsteht zwischen diesen und CRBN ein durch IMiD vermittelter Kontakt (Nature 532: 127-30).

Ein Screen von über 6.500 Zinkfinger-Strukturen enttäuschte allerdings die Hoffnung der Forschenden: Sie fanden keine Konsensus-Sequenz in der Primärstruktur der Zinkfinger, mit der sich die Bindung vorhersagen lässt. Jedoch identifizierten sie einige Zinkfinger-Degron-Motive in der dreidimensionalen Struktur (Science 362: eaat0572). Womöglich tut sich hier eine Tür für die rationale Entwicklung neuer therapeutischer Wirkstoffe gegen Transkriptionsfaktoren auf, die bisher als undruggable galten.

Einen anderen Weg beschreitet Georg Winters Team am Center for Molecular Medicine (CeMM) der österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Die Forschenden suchten gezielt nach disruptiven Mutationen in E3-Ligasen, die die Bindung von PROTACs an CRBN- und VHL-Ligasen vereiteln (Nat. Chem. Biol. 19: 323-33). Sie fanden entsprechende Mutationen in Regionen, die die Wiener als funktionelle E3-Hotspots bezeichneten. In Patienten mit Rezidiven des Multiplen Myeloms, die nicht mehr auf die IMiD-Therapie reagieren, sitzen die Mutationen in genau diesen Hotspots. Von solchen Kartierungen erhoffen sich die Forschenden ein besseres Verständnis der Bindung therapeutischer Neo-Substrate.

Bleibt das klassische Screening von Wirkstoffbibliotheken. Verschiedene Firmen bieten dieses an, etwa SAMDI ASMS (Chicago), Proxygen (Wien), Monterosa (Bosten und Basel) sowie Captor Therapeutics (Basel und Wroclaw in Polen).

Das Start-up Neosphere Biotechnologies aus Planegg bei München setzt bei ihrem Screening auf die Unterstützung durch Massenspektrometrie (MS). Damit lässt sich im Hochdurchsatzverfahren analysieren, welche Substanz der Bibliothek das POI aus dem zellulären Proteom verschwinden lässt. „Einen wirkstoffinduzierten Proteinabbau kann man sehr sensitiv auch über die Zeit messen”, erklärt Uli Ohmayer, der MS-Experte der Firma. „Jeder Hit wird mechanistisch zum Beispiel mit Ubiquitinomics validiert.” Will heißen: Es wird überprüft, ob besagtes POI auch tatsächlich durch eine E3-Ligase ubiquitiniert wird. Am Beispiel der Deubiquitinase USP7, einem Regulator des Tumorwachstums, stellten Ohmayer und Kollegen ihr Konzept vom Ubiquitinom-Profiling exemplarisch vor (Nat. Comm. 12: 5399).

Während die einen also noch nach vielversprechenden Leitstrukturen und Neo-Substraten suchen, sind andere schon weiter in der Entwicklung. In der klinischen Prüfung sind beispielsweise Kleber, die den Abbau von GSPT1 und dessen Homolog GSPT2 initiieren. GSPT1 und 2 sind nötig, um die Translation eines Proteins zu beenden. Auf hohe Translationsraten sind MYC-getriebene Tumore angewiesen. Und bisher gibt es keinen therapeutischen MYC-Inhibitor. Durch den Abbau von GSPT1/2 kann man MYC-abhängige Tumorzellen in vitro und in vivo töten. Ein molekularer Klebstoff namens MRT-2359 gegen GSPT1 von Monte Rosa Therapeutics wird derzeit in einer Phase-1/2-Studie geprüft.

Schon 2020 kamen mit ARV-100 und ARV-471 die ersten PROTACs in die klinische Prüfung. Sie wurden von der Firma Arvinas (New Haven, USA) entwickelt. AVR-110 induziert den Abbau des Androgenrezeptors, ARV-471 den Abbau des Östrogenrezeptors. Beide werden in Phase-3-Studien für die Therapie von Prostata- beziehungsweise Brustkrebs geprüft. Arvinas hat weitere zehn PROTACs in der Pipeline: Die meisten sind zur Behandlung von Krebs gedacht, einige zur Therapie von neurodegenerativen Erkrankungen.

Dies sind nur einige Beispiele der neuen Strategie, Wirkstoffe gegen Krankheiten zu finden, die von Molekülen ausgelöst oder angetrieben werden, die bisher als undruggable galten. Natürlich kann man nicht vorhersagen, welche therapeutisch nutzbaren Ergebnisse die Suche nach mokularen Degradern und deren weitere Entwicklung liefern werden. Doch so ziemlich jeder Übersichtsartikel zum Thema endet mit sehr optimistischen Prognosen – ob sich diese bewahrheiten werden, wird man sehen.





Die Familie der bifunktionalen Modulatoren wird immer größer

Karin Hollricher

PhoRC: Phosphatase Recruiting Chimera

Dies sind bifunktionale Moleküle, die die Phosphatase PP1 sowie ein phosphoryliertes Protein miteinander verbinden. Die ubiquitäre PP1 entfernt das Phosphat auf dem zweiten Protein – was sie ohne die Verbindung nicht tun würde. Wie bei PROTACs verhindert auch hier das peptidartige Verbindungsmolekül, dass der PhoRC in die Zelle gelangt.

PhosTAC: Phosphorylation Targeting Chimera

Die Phosphatase PP2A wird mit einem FKBP12-Tag ausgestattet. Das Molekül, das dephosphoryliert werden soll, erhält einen HaloTag. Die Proteine nähern sich durch die beiden Liganden FKBP12 beziehungsweise das Chloroalkan einander an. In HeLa-Zellen konnten auf diese Weise sowohl das Programmed Cell Death Protein 4 (PDCD4) wie auch der Transkriptionsfaktor Forkhead Box O-3 (FOX03a) dephosphoryliert werden.

PHIC: Phosphorylation-Inducing Chimeric Small Molecule

Damit kann ein Protein phosphoryliert werden. Das Konstrukt besteht aus dem Liganden S-JQ1, der eine hohe Affinität für das Chromatin-Leseprotein BRD4 hat, das die Transkription reguliert. Verbindet man S-JQ1 mit einer Kinase, wird BRD4 zum Neo-Substrat. Die Kinase phosphoryliert BRD4 und moduliert dadurch dessen Aktivität.

DubTAC: Deubiquitinase-Targeting Chimera

Nach einem ähnlichen Prinzip lassen sich auch gezielt Proteine de-ubiquitinieren und vor dem Abbau schützen. Dafür muss man eine Deubiquitinase über den bifunktionalen Linker an ein ubiquitiniertes Substrat andocken.

AceTAG: Acetylation Tagging System

Hier nutzt man die Lysin-Acetyltransferase p300/CBP, um einem Protein of Interest (POI) einen Acetylrest anzuhängen. Die dazu erforderliche Nähe stellt man mit einem bifunktionalen Linker her.

AUTAC: Autophagy-targeting Chimera

Dieser Degrader aktiviert nicht das Proteasom, sondern den Autophagie-Mechanismus. Durch einen Linker verbunden sind der POI-bindende Ligand sowie ein Guanin-Derivat, das als Autophagie-Tag und in Mitochondrien als Mitophagie-Tag fungiert.

ATTEC: Autophagosome-Tethering Compound

Ein ATTEC manövriert das POI in die Nähe des Proteins LC3, das bei der Entstehung eines Autophagosoms benötigt wird.

LYTAC: Lysosome-Targeting Chimera

Dieses Molekül verbindet das POI mit dem Cation-Independent Mannose-6-phosphate-receptor (CI-M6PR), der sich auf der Oberfläche von Lysosomen befindet. Der Kontakt ermöglicht die Aufnahme des POI in das Organell, in dem es danach abgebaut wird.

RIBOTAC: Ribonuclease Targeting Chimera

Die Moleküle dieser Klasse sind RNA-Killer. Sie bestehen aus einem RNA-Binder, der an ein kleines Molekül konjugiert ist, das wiederum eine RNase L rekrutiert. Die RNase L gehört zum Arsenal der angeborenen Immunität. Das Enzym zerstört virale RNA, aber auch zelluläre RNA, wenn die Zelle nicht in der Lage ist, die Verbreitung des Virus aufzuhalten. Das Erkennungsmerkmal für die RNase L ist ein ungepaartes Uracil in der dsRNA. Forschende haben 55 miRNAs mit einer RNase-L-Erkennungsstelle identifiziert, die potenziell von einem RIBOTAC zerstört werden könnten.