Editorial

Passive Hoffnungsträger - Therapeutische Antikörper

Henrik Müller


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Therapeutische Antikörper sind die neuen Hoffnungsträger der Wirkstoffentwickler und könnten auch gegen SARS-CoV-2 erfolgreich sein. Illustration: Stefan Dübel/TU Braunschweig

(08.06.2020) Eine aktive Impfung gegen SARS-CoV-2 lässt noch auf sich warten. Verschiedene Gruppen setzen deshalb auf therapeutische Antikörper, die schneller einsetzbar sind und unmittelbaren Schutz bieten. Bei ihrer Entwicklung gehen Forscher ganz unterschiedliche Wege.

Die biopharmazeutische Entwicklung von Vakzinen und Therapeutika erstreckt sich meist über Dekaden. Um die Akutversorgung mit einem Wirkstoff gegen SARS-CoV-2 zu gewährleisten, bündeln deshalb die Erlanger Arbeitsgruppen des Immunologen Hans-Martin Jäck, des Genetikers Thomas Winkler und des Virologen Klaus Überla ihre Expertise. Letzterer gibt zu bedenken: „Ein aktiver Impfstoff ist der beste Ansatz. Aber wie schützen wir Risikogruppen in der nächsten SARS-CoV-2-Saison, bevor dieser zur Stelle ist? Als Gesellschaft müssen wir gegenwärtig mehrgleisig fahren. Ein Sofortschutz durch einmalige Passivimmunisierung klingt da sehr attraktiv.“

Nahezu alle lizenzierten Vakzine vermitteln ihren Schutz über eine humorale Immunantwort. Eine Passivimmunisierung mit anti-SARS-CoV-2-Antikörpern könnte sich als entscheidende Brückentechnologie erweisen. Zwar bieten Antikörper in vivo nur Halbwertszeiten von wenigen Monaten, sie sind dafür aber relativ schnell in hohen Mengen produzierbar.

Hohe Wachstumsraten

Tatsächlich gehören therapeutische Antikörper, deren globaler Umsatz 2019 bei 140 Milliarden Euro lag, zu den Biopharmaka mit den höchsten Wachstumsraten. In den 34 Jahren, seit der erste therapeutische Antikörper Muromonab auf den Markt kam, wurden 79 mAK-basierte Medikamente zugelassen, achtzehn davon in den letzten zwei Jahren. Der subkutan verabreichte Antikörper Adalimumab zur Behandlung TNFα-vermittelter chronischer Erkrankungen, wie etwa rheumatischer Arthritis war 2018 das meistverkaufte Medikament weltweit. 570 der in klinischen Studien getesteten Biopharmazeutika sind mAKs – das entspricht etwa einem Drittel.

Gegen SARS-CoV oder seinen Cousin MERS-CoV sind bisher aber noch keine mAks verfügbar. Die einfachste Möglichkeit einer SARS-CoV-2-Immuntherapie bietet Spenderplasma rekonvaleszenter COVID-19-Patienten. Bereits Anfang Februar 2020 kurierte die China National Biotec Group (CNBG) klinische Notfälle mit Rekonvaleszenten-Plasma. Die gemeinnützige „Initiative Immunspender“ macht Plasmapräparate geheilter Patienten auch in Deutschland verfügbar (immunspender.com). Überla weiß: „Mit Rekonvaleszenten-Plasma können wir Patienten extrem schnell behandeln. Jedes Plasmapräparat hat jedoch eine andere Antikörper-Zusammensetzung. Therapieerfolge sind schwer vorhersagbar.“

Firmen wie Biotest (biotest.com) in Frankfurt/Main und Octapharma (octapharma.com) im schweizerischen Lachen gehen deshalb einen Schritt weiter. Sie vereinen Plasmaspenden genesener Patienten und isolieren daraus polyklonale anti-SARS-CoV-2-Hyperimmunglobuline. Überla erläutert, worauf auch sie sich verlassen: „Alle enthaltenen Antikörper sind von menschlichen Immunsystemen hergestellt worden. Selbstreaktive Antikörper, die systemische Entzündungsreaktionen hervorrufen können, wurden durch klonale Depletion eliminiert. Eine Autoimmunität sollte in neuen Patienten also selten auftreten.“

Die Immunogenität eines therapeutischen Antikörpers hängt neben dem Immunsystem seines Empfängers auch von der Dosierung, Verabreichungs-Route und Aggregat-Neigung ab. Die Bindung weniger oder minderaffiner Antikörper kann sogar eine virale Zellinfektion und Replikation induzieren, Phagozyten und Komplementsystem aktivieren sowie Entzündungsreaktionen über inflammatorische Zytokine auslösen.

Diese Immunpathogenese durch infektionsverstärkende Antikörper ist beispielsweise für Flaviviren, die Dengue- und Gelbfieber auslösen, wohlbekannt.

Überla warnt: „Tatsächlich gibt es auch bei Coronaviren Hinweise auf schwerere Krankheitsverläufe in geimpften Patienten.“ Noch ist aber ungeklärt, wie frühere Coronavirus-Infektionen zur COVID-19-Symptomatik beitragen. Bekannt ist nur, dass IgG-Antikörper gegen das SARS-CoV-Spike-Protein durch Ausschüttung der Zytokine IL8- und MCP-1 sowie Aktivierung von Makrophagen zu akuter Lungeninsuffizienz führen können (JCI Insight. 4(4): e123158).

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Entwickeln an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) gemeinsam therapeutische Antikörper gegen SARS-CoV-2: (v.l.n.r.) Klaus Überla (Virologisches Institut), Thomas Winkler (Lehrstuhl für Genetik) und Hans-Martin Jäck (Immunologie).Foto: FAU

Die zwei Forschungsansätze von Überla und seinen Kooperationspartnern sollen die Risiken polyklonaler Hyperimmunglobuline verringern. Überla fasst den ersten zusammen: „Thomas Winklers Gruppe isoliert aus dem Blut rekonvaleszenter COVID-19-Patienten eine bestimmte Population unreifer Plasmazellen, sogenannte Plasmablasten, und analysiert sie durch Einzelzell-Sequenzierung. Dadurch erhalten wir die Nukleotidsequenzen Tausender anti-SARS-CoV-2-Antikörper.“

Spezifische B-Zellen können aus Lymphgewebe, Knochenmark oder den mononukleären Zellen des peripheren Blutes (PBMC) mittels Dichtegradientenzentrifugation, Durchflusszytometrie oder Laser-Mikrodissektion isoliert werden. In einem nachgeschalteten Antigen Baiting können sie mithilfe Fluoreszenz-konjugierter Antigene oder Antigen-konjugierter Magnetpartikel weiter angereichert werden.

Den Kniff in Winklers Verfahren beschreibt Überla: „In der Population von B-Gedächtniszellen ist nur einer von zehntausend Antikörpern spezifisch für einen bestimmten Erreger. Dagegen richten sich bei Plasmablasten zehn bis dreißig Prozent der Population gegen diesen Erreger, zumindest wenn wir das Blut zwei bis drei Wochen nach einer Atemwegsinfektion entnehmen.“

Spannende Neuentwicklungen

Bei Infektionskrankheiten gibt es laut Überla nur eine zugelassene Antikörper­therapie: „Palivizumab zur präventiven Behandlung des Respiratorischen Synzytial-Virus in neugeborenen Risikopatienten. Bei Erkrankungen ohne gute antivirale Medikamente stehen uns aber spannende Neuentwicklungen bevor.“

Dazu zählen beispielsweise aus den B-Gedächtniszellen seropositiver Blutspender isolierte mAKs gegen das Dengue-Virus (mAbs, 8:1, 129-40) und der ebenfalls aus B-Gedächtniszellen eines Ebola-Überlebenden gewonnene mAK114, der sich in klinischer Prüfung der Phase 3 befindet (Cell Reports 27: 172-86).

Auch gegen SARS-CoV-2 isolierte ein chinesischer Forschungsverbund im Mai 2020 bereits Antigen-bindende Fragmente (Fab) aus B-Gedächtniszellen von COVID-19-Patienten. Vier davon zeigten nanomolare CoV-Dissoziationskonstanten. Nach molekularbiologischer Fusion mit dem konstanten Fragment (Fc) menschlicher IgG1-Antikörper schwächten zwei dieser mAKs die Lungenentzündung von ACE2-transgenen Mäusen ab (Science 10.1126/science.abc2241).

Der zweite Ansatz des Jäck-Winkler-Überla-Triumvirats startet mit Immunisierungsstudien an transgenen Mäusen. Überla einmal mehr: „Wir inokulieren transgene Mäuse mit dem rekombinanten und in seiner Prä-Fusions-Konformation stabilisierten Spike-Protein von SARS-CoV-2 und fusionieren ihre Splenozyten mit Myelomzellen zu Hybridomas. Die transgenen Mäuse wurden von Hans-Martin Jäcks Arbeitsgruppe hergestellt und tragen das komplette humane Immunglobulin-Repertoire, also alle menschlichen V-, J- und D-Segmente auf Ebene der Leicht- und Schwerketten. Somit erhalten wir auch auf diesem Weg hochaffine, humane Volllängen-mAKs.“

Der erste therapeutische mAK aus transgenen Tieren, Panitumumab, erhielt seine klinische Zulassung zum Einsatz gegen das EGFR-exprimierende kolorektale Karzinom im Jahr 2006. Seitdem kamen achtzehn weitere mAKs hinzu. Alle transgenen Plattformen erlauben es, die Fab-Fragmente eines Antikörpers durch VDJ-Rekombination zu variieren und klonal zu selektieren. Aber nur die neuesten Plattformen OmniRat, KyMouse, VelocImmune, H2L2 Mouse und Trianni-Maus ermöglichen auch die Reifung der mAKs durch somatische Hypermutation. Hierdurch sind Antikörper mit pikomolarer Affinität zugänglich.

Überla fasst den Stand ihrer Forschung zusammen: „Aus den Trianni-Mäusen erhalten wir Antikörper gegen das Spike-Protein, aus den Plasmablasten auch welche gegen weitere virale Proteine. Wir bestimmen jetzt Bindungskonstanten für alle rekombinanten Antikörper. Für die besten Treffer ermitteln wir die mittleren inhibitorischen Konzentrationen gegen eine SARS-CoV-2-Infektion der ACE2-exprimierenden Nierenepithel- beziehungsweise Darmkarzinom-Zellen Vero-B4, Vero-E6 und CaCo2. Den Fc-Teil der besten murinen Antikörper ersetzen wir dann molekularbiologisch durch ihr humanes Pendant.“

Etwaige Unterschiede zwischen beiden Immunglobulin-Quellen können die Erlanger Virologen noch nicht benennen. Ohne präzise In-vitro- oder In-silico-Assays kann deren Immunogenität nur in vivo ermittelt werden, bestätigt Überla: „Die präklinische Wirksamkeit der besten mAKs untersuchen wir in Kooperation mit dem Deutschen Primatenzentrum in Göttingen und dem Fraunhofer-Institut in Leipzig. Diese Nachfolgestudien wurden Anfang Mai bewilligt. Für eine anschließende GMP-Produktion und Phase-1-Studie benötigen wir acht bis zehn Millionen Euro. Sobald die Finanzierung steht, sollten erste klinische Studien nach einem halben Jahr beginnen. Die Verfügbarkeit von Drittmitteln und unsere eigene Arbeitszeit sind momentan die größten Hindernisse.“

Zwei auf einen Schlag

Im Gegensatz zu den Erlangern haben die Arbeitsgruppen des Utrechter Virologen Berend-Jan Bosch und des Rotterdamer Zellbiologen Frank Grosveld die erste Hürde auf dem Weg in die Klinik bereits genommen. Sie immunisierten H2L2-Mäuse mit den Spike-Ektodomänen verschiedener CoV-Stämme. In einem von 51 Splenozyten- und Lymphozyten-Hybridomas fanden sie in ELISA-Assays eine Kreuzreaktivität für SARS-CoV und SARS-CoV-2.

Die zugehörigen Fab-Fragmente klonierten sie in einen humanen Immunglobulin-Hintergrund und exprimierten den mAK in HEK-293T-Zellen. Das Forscherglück war auf ihrer Seite. Ihr humanisierter mAK 47D11 zeigt Dissoziationskonstanten für die Spike-Ektodomänen von SARS-CoV und SARS-CoV-2 im nanomolaren Bereich und neutralisiert beide Coronaviren in Vero-E6-Assays über einen noch unbekannten Mechanismus (Nat. Commun. 11(1): 2251). Im Rahmen des Horizon-2020-Projekts „Monoclonal Antibodies against 2019-New Coronavirus“ soll 47D11 in die klinische Phase 1 überführt werden.

Nicht nur transgene Kleintiere dienen der Herstellung therapeutischer Antikörper. Ein Forschungskonsortium, zu dem auch das Deutsche Primatenzentrum Göttingen und das Flemish Institute for Biotechnology gehören, immunisierte ein Lama mit den Prä-Fusions-Konformationen der MERS-CoV- und SARS-CoV-Spike-Proteine und isolierte zwei Fab-Fragmente aus seinem Blut. Das Besondere an den Lama-Fabs: Anstelle der konventionellen zwei variablen Domänen von Leichtkette und Schwerkette eines Antikörpers bestehen sie nur aus einzelnen variablen Domänen. Die Einzeldomänen neutralisierten in Vero-E6-Zellen zwar MERS-CoV und SARS-CoV, aber nicht SARS-CoV-2. Erst ein bivalentes Fusions-Immunoglobulin aus zwei Einzeldomänen schaffte auch das (Cell, doi: 10.1016/j.cell.2020.04.031).

Die Affinität der Einzeldomänen erhöhte das Forschungskonsortium mit dem Phagen-Display. Neben Rekonvaleszenten-Plasma und transgenen Tieren können therapeutische mAKs auch mit dieser reinen In-vitro-Technik entwickelt werden. Gegen MERS-CoVs Spike-Proteine ist das bereits mehrfach mit bis zu nanomolarer Affinität gelungen (PNAS 111(19): E2018-26; Sci Rep 9: 6088). Insgesamt sind bisher neun therapeutische Phagen-Antikörper zum klinischen Einsatz zugelassen.

Beim Phagen-Display werden die Genprodukte einer DNA-Bibliothek als Fusionspeptide auf der Oberfläche filamentöser Bakteriophagen präsentiert. Von einem immobilisierten Zielantigen gebundene Fusionspeptide werden mitsamt ihrem Bakteriophagen herausgefiltert und binnen weniger iterativer Selektionsrunden je nach ihrer Affinität amplifiziert. Im Fall therapeutischer Antikörper enthält die Phagen-Bibliothek die cDNA aller V-, J- und D-Segmente der schweren und leichten Antikörper-Ketten. Durch reverse Transkription können diese beispielsweise aus der Gesamt-mRNA der mononukleären Zellen des peripheren Blutes (PBMC) gewonnen werden. Stammen Bibliotheken aus immunisierten Spendern, bieten sie den Vorteil, bereits die natürliche Affinitätsreifung gegenüber einem Zielantigen durchlaufen zu haben. Das Resultat sind oft hochaffine Antikörper. Alternative synthetische Bibliotheken bestehen nur aus den randomisierten Epitop-Bindestellen, den sogenannten Complementarity Determining Regions (CDR), der variablen Antikörper-Domänen. Die Bibliotheksvielfalt kann zudem durch eine fehleranfällige (Error-prone)-PCR weiter erhöht werden.

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Der Phagen-Display ist neben dem Plasma von COVID-19-Rekonvaleszenten sowie transgenen Mäusen die dritte Strategie, mit der Forscher therapeutische Antikörper gegen SARS-CoV-2 finden wollen. Illustration: TU Delft

Wenige Wochen statt Monate

Im Unterschied zu mehrmonatigen Immunisierungsstudien in transgenen Tieren erlaubt es der Phagen-Display, mAKs binnen ein bis zwei Wochen zu generieren. Die In-vitro-Affinitätsselektion findet außerdem selbst Bindungspartner für ganze Zellen sowie schwach immunogene oder toxische Antigene. Dank der hochlöslichen und kleinen Phagenpartikel präsentieren einzelne Bibliotheken bis zu 1011 unabhängige Varianten und somit die gesamte Vielfalt des menschlichen Immunsystems.

Warum der Braunschweiger Biotechnologe und deutsche Phagen-Display-Vorreiter Stefan Dübel therapeutische Antikörper für die zukünftigen Superstars der Lebenswissenschaften hält, beschrieb er bereits in Laborjournal 07/2016 auf Seite 56. Weit über Coronaviridae-Epidemien hinaus kommen sie als Immunzytokine und -Liposome, als Wirkstoff- und Radionuklid-Konjugate, als chimäre Antigenrezeptoren sowie als bispezifische Antikörper vor allem in der Tumorbehandlung zum Einsatz.

Antikörper-Therapeutika der nächsten Generation enthalten gar keine Antikörper mehr. Die mRNA-Vakzine von Firmen wie BioNTech, CureVac und Ethris liefern nur noch die genetische Information aus Rekonvaleszenten-Plasma, transgenen Tieren oder per Phagen-Display entwickelten Antikörpern. Sie verwandeln das menschliche Immunsystem in die eigentliche Medikamentenfabrik. Laborjournal berichtete in der Ausgabe 05/2020 auf Seite 60.

Bezüglich der Entwicklung von SARS-CoV-2-Vakzinen liegt Klaus Überla noch eines am Herzen: „Überrascht hat mich die Geschwindigkeit, mit der die deutschen Behörden und Aufsichtsgremien momentan alle Verwaltungs- und regulatorischen Aufgaben unbürokratisch bewältigen. Dafür sollten wir ihnen auch mal ganz herzlich danken!“



Letzte Änderungen: 08.06.2020