Editorial

Auf den Spuren der „Lustseuche“

Larissa Tetsch


(24.04.2024) BASEL: Syphilis begleitet den Menschen seit Jahrhunderten. Doch woher sie stammt, bleibt rätselhaft. Um den Weg ihres Erregers nachzuzeichnen, sucht die Basler Paläogenetikerin Verena Schünemann mit ihrem Team auf der ganzen Welt nach möglichst alten Erbgutspuren des Bakteriums in menschlichen Knochen.

Heute lässt sie sich mit Antibiotika behandeln, aber in der frühen Neuzeit war die von Bakterien verursachte Syphilis eine Geißel der Menschheit. Im späten 15. Jahrhundert nahm die Geschlechtskrankheit in Europa epidemieartige Ausmaße an und war – im Unterschied zu vielen anderen Infektionskrankheiten – auch in wohlhabenden Schichten verbreitet. Für eine Ausbreitung ist die Krankheit geradezu prädestiniert: Da sie lange Zeit ohne Symptome persistiert, haben Infizierte viel Gelegenheit, die „Lustseuche“ durch sexuelle Kontakte weiterzugeben. Erst im letzten Krankheitsstadium resultiert sie in starken Einschränkungen mit Knochenbefall, Herzproblemen und Demenz.

Verena Schünemann
Seit 1. April 2023 Professorin für Naturwissenschaftliche Archäologie an der Universität Basel: Verena Schünemann. Foto: AG Schünemann

Um die Herkunft der Seuche ranken sich viele Mythen, die teilweise auch im Namen zum Ausdruck kommen. Im Volksmund von Mitteleuropa hieß sie die „Franzosenkrankheit“, da französische Soldaten bei der Belagerung von Neapel im Jahr 1495 massenhaft an ihr erkrankten. Die Franzosen wiederum schrieben die Krankheit den Italienern zu. Die Wissenschaft vermutete hingegen lange Zeit, dass der Erreger, das Bakterium Treponema pallidum pallidum, im Gepäck spanischer Eroberer aus der Neuen Welt nach Europa gelangte – sozusagen im Austausch gegen Influenza- und Pockenviren, vor denen das Immunsystem der amerikanischen Ureinwohner kapitulieren musste. Einer der Gründe für diese Vermutung ist der sprunghafte Anstieg der Syphilis-Infektionszahlen nach der (Neu-)Entdeckung Amerikas 1492.

Nur DNA ist eindeutig

Diese Kolumbus-Theorie ist inzwischen umstritten, da es auch aus der Zeit vor Kolumbus Hinweise auf Syphilis-Fälle in Europa gibt. Ein sicherer Nachweis ist jedoch schwierig, wie Verena Schünemann, Professorin für Naturwissenschaftliche Archäologie an der Universität Basel, erklärt: „Die meisten Hypothesen zur Ausbreitung der Erkrankung fokussieren auf den Erreger der klassischen Syphilis, die als Geschlechtskrankheit heute weltweit verbreitet ist. Es gibt aber enge Verwandte, sogenannte Unterarten, die eine bakterielle Familie bilden und beim Menschen ebenfalls Krankheiten verursachen können, die teilweise ähnliche Symptome und Knochenveränderungen verursachen wie die klassische Syphilis. Wenn man diese Treponematosen voneinander unterscheiden möchte, muss man einen molekularen Nachweis erbringen.“

Editorial

Schünemann interessiert sich an der Universität Basel vor allem für die Langzeitevolution von Krankheitserregern und das Auftreten von Pandemien in der Vergangenheit. Ihr Team ist interdisziplinär zusammengesetzt aus Archäologen, Historikern, Anthropologen und Naturwissenschaftlern – eine Interdisziplinarität, die sie selbst mit ihren zwei Doktortiteln in Biochemie und Naturwissenschaftlicher Archäologie verkörpert. Noch als Leiterin der Paläogenetik-Gruppe an der Universität Zürich wies Schünemann mit ihrem Team das Erbgut des Syphilis-Erregers erstmals in menschlichen Überresten aus dem frühmodernen Europa nach (Curr Biol. doi.org/gpffws). „Unsere damaligen Proben müssen wir allerdings in die Kontaktzeit mit der Neuen Welt einordnen“, schränkt die Paläogenetikerin ein. „Bei der Frage nach der Herkunft der Syphilis helfen sie uns nicht weiter.“

Frühe Opfer in Brasilien

Frühere Hinweise auf Syphilis in Europa bestehen lediglich in Form paläopathologischer Befunde, also krankhafter Veränderungen an menschlichen und tierischen Knochen, die denen heutiger Syphilis-Patienten ähneln. Da diese Spuren jedoch auch von anderen T.-pallidum-Subspezies herrühren können, sind sie kein Beweis für die klassische Syphilis. „Das macht Genomdaten unerlässlich“, so Schünemann.

Position von archäologischer Stätte Jabuticabeira II
Die archäologische Stätte Jabuticabeira II befindet sich an der Südküste des brasilianischen Bundesstaates Santa Catarina. Aus vier Knochenproben konnte das 2.000 Jahre alte Genom von T.pallidum rekonstruiert werden. Illustr.: Nach Abb. 1 in doi.org/mk7p

Ein bereits vor Schünemanns Umzug nach Basel vom Schweizerischen Nationalfonds finanziertes Forschungsprojekt mit dem Titel „Towards the origins of syphilis“ gab ihrer Postdoktorandin Kerttu Majander die Chance, nach Syphilis-Spuren im präkolumbianischen Amerika zu suchen. Bis dahin existierten vom amerikanischen Kontinent lediglich Erreger-Genome aus einer Zeit, in der der Kontakt zwischen Alter Welt und Neuer Welt schon bestand (PLoS Negl Trop Dis. doi.org/gdv27j). „Um zweifelsfrei zu klären, ob Kolumbus die Syphilis nach Europa brachte, brauchten wir deutlich ältere Proben“, erinnert sich Schünemann. Diese konnte ihr das Museum für Archäologie und Ethnologie der Universität São Paulo in Brasilien liefern. Bereits vor zwanzig Jahren hatten brasilianische Forscher die Grabstätte Jabuticabeira II an der Südküste des Bundesstaats Santa Catarina untersucht. Die dort beerdigten Toten gehörten der Sambaqui-Kultur an, die 8.000 Jahre lang im präkolumbianischen Amerika Bestand hatte. Die Sambaqui beerdigten ihre Toten in charakteristischen Muschelhügeln, die namensgebend für ihre Kultur sind. „Unsere Kooperationspartner haben die 2.000 Jahre alten Knochen anthropologisch untersucht und uns dann für eine genetische Analyse zur Verfügung gestellt“, erklärt Schünemann.

Bei 37 von insgesamt 99 untersuchten Individuen – einige unter ihnen mit syphilisartigen Knochenveränderungen – fand das internationale Forschungsteam Hinweise auf DNA von T. pallidum. Bei vier Individuen war deren Qualität ausreichend für eine Erbgut-Rekonstruktion, was die älteste Rekonstruktion eines T.-pallidum-Stamms somit um 1.000 Jahre vorverlegt (Nature. doi.org/mk7p). Dass es sich bei der Bakterien-DNA tatsächlich um alte DNA und nicht um Verunreinigungen aus heutiger Zeit handelte, erkannten die Paläogenetiker unter anderem am Grad ihrer Deaminierung. Schünemann erklärt: „DNA altert im Boden. Chemische Reaktionen führen über die Zeit zu einem charakteristischen Schadensmuster, das wir zur Authentifizierung von alter DNA nutzen können.“

Eine der Erwachsenenbestattungen im Sambaqui Jabuticabeira II
Überreste einer Erwachsenenbestattung im Sambaqui Jabuticabeira II. Foto: J. Filippini

Andere Unterart

Ein Abgleich mit Referenzgenomen von T.-pallidum-Unterarten brachte dann eine Überraschung: Die Toten in den Muschelhügelgräbern waren nicht an der klassischen Syphilis erkrankt; vielmehr fand sich bei ihnen Erbgut der Subspezies T. pallidum endemicum, dem Erreger der endemischen Syphilis. Diese auch als Bejel bekannte Hautinfektion ist heute nur noch in den trockenen Regionen Afrikas, der Arabischen Halbinsel und des Nahen Ostens verbreitet. Im Gegensatz zur klassischen Syphilis wird Bejel heutzutage nicht über Geschlechtsverkehr übertragen, sondern durch Schmierinfektion bei direktem Hautkontakt. Da dem Bejel-Erreger bestimmte Pathogenitätsfaktoren fehlen, bleiben die für die Spätphase der klassischen Syphilis typischen neurologischen Symptome aus, während krankhafte Knochenveränderungen auftreten können. Interessant ist, dass infizierte und gesunde Personen in der brasilianischen Grabstätte gemeinsam beigesetzt worden waren. Erkrankte waren trotz der – zumindest heutzutage – stark entstellenden Hautkrankheit wohl nicht vom sozialen Leben ausgeschlossen, wie es etwa von Lepra-Patienten des Mittelalters bekannt ist.

Älter als gedacht

Die Analyse der rekonstruierten Genome zeigte, dass der Bejel-Erreger schon vor 2.000 Jahren die gleiche Ausstattung mit Virulenzgenen aufwies wie seine rezenten Nachfahren. Vermutlich löste er damals also eine ähnliche Krankheit aus wie heute. Weiterhin fanden die Paläogenetiker um Schünemann Hinweise auf einen horizontalen Genaustausch mit anderen T.-pallidum-Subspezies. Ursprünglich hatte man T. pallidum diese Fähigkeit abgesprochen, doch inzwischen ist sie bei modernen Stämmen nachgewiesen. „Wir haben dann mit den gleichen Werkzeugen auch bei unseren alten Genomen nachgeschaut und wurden tatsächlich fündig“, sagt Schünemann. „Das ist ein interessanter Aspekt, der in den klassischen Theorien zur Ausbreitung der Syphilis nicht vorkommt.“

Einen weiteren Nutzen haben die alten Genome, ergänzt die Forscherin: „Wir können sie als molekulare Fossilien verwenden, um gemeinsame Vorfahren zu datieren und die Divergenzzeit der T.-pallidum-Familie zu bestimmen, also wann sich die Subspezies trennten.“ Diesen Berechnungen zufolge könnte der letzte gemeinsame Vorfahre aller T.-pallidum-Unterarten vor 14.000 Jahren existiert haben – und damit lange vor allen neuzeitlichen Verbindungen zwischen Alter und Neuer Welt. Vielleicht kam die Bakterienfamilie ja bereits mit den ersten Ureinwohnern nach Amerika.

Geklärt ist die Herkunft der Treponematosen somit nicht, wie Schünemann zusammenfasst: „Wenn wir andere Studien hinzunehmen, war die Bakterienfamilie wahrscheinlich schon global verbreitet, als Kolumbus nach Amerika segelte. Noch ist es aber nicht ausgeschlossen, dass Treponematosen in Amerika durch Zoonosen entstanden und von dort nach Europa gelangten.“ Um zu klären, wo sich die Unterarten aufspalteten, sind noch ältere Proben von anderen Kontinenten nötig.

Darüber hinaus wirft Schünemanns Studie neue Fragen auf: „Wir wissen jetzt, dass Treponematosen präkolumbianisch in Amerika existierten. Für Europa steht dieser Beweis noch aus. Auch haben wir nicht den klassischen Syphilis-Erreger gefunden und müssen nun die anderen Subspezies in die gängigen Theorien einarbeiten.“

Um noch weiter in der Zeit zurückzublicken, arbeitet die Paläogenetikerin mit Museen weltweit zusammen. Doch wie viel von Jahrtausende alter DNA erhalten bleibt, hängt vor allem von den Umweltbedingungen am Fundort ab. Ausgeschlossen ist indes nichts: Die älteste erhaltene Pferde-DNA ist 700.000 Jahre alt. Da ist bei T. pallidum also noch ordentlich Luft nach oben.