Editorial

Störrische Klima-Mikroben

Sophie L. Winter


(21.03.2024) MARBURG: Mikroorganismen wandeln fast die Hälfte aller Treibhausgase um und fixieren mehr als ein Drittel des Kohlendioxids der Atmosphäre. Beim Thema Klimaschutz scheinen sie jedoch vergessen zu werden. Nicht aber von einer Marburger Forschungsgruppe: Mit ihrem THETA-Zyklus entwickelte sie einen synthetischen Kohlenstoffkreislauf, der nicht nur im Reagenzglas funktioniert, sondern aus E.-coli-Bakterien fleißige CO2-Fixierer macht.

„Warum hat die Natur das eine oder andere nicht erfunden? Ist sie nach drei Milliarden Jahren überhaupt noch fähig, komplett neue Sprünge zu machen?“ Mit diesen Fragen beschäftigt sich Tobias Erb, Direktor des Max-Plank-Instituts für terrestrische Mikrobiologie in Marburg. Gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe entwickelt er seit Jahren alternative Stoffwechselwege. Sein gegenwärtiges Ziel: Der Atmosphäre effektiv CO2 entziehen. Was im Reagenzglas mit der Konstruktion synthetischer Stoffwechselwege begann, hat sein Team nun auf die zelluläre Ebene erweitert (Nat Catal. doi.org/gtbscc).

Dafür programmierten die Marburger Mikrobiologen Escherichia-coli-Bakterien mit- hilfe einer gezielten Expression von Enzymen so um, dass die Einzeller CO2 über einen neuen Stoffwechselweg – zumindest teilweise – umwandeln. „Als Biologe will ich verstehen, wie Dinge funktionieren, und untersuchen, wie die Natur das macht. Und als Chemiker ist es mein Interesse, etwas Neues zu bauen; ich glaube, die beiden Herzen schlagen in meiner Brust“, erklärt Erb. Auch seine Postdoktorandin Shanshan Luo begeistert sich für das Potenzial, das hinter der Konstruktion von neuen Stoffwechselwegen steckt. Mit ihrer Erfahrung im Metabolic Engineering beflügelte sie Erbs Vision, einen künstlichen Stoffwechselweg zu entwickeln und dann in lebende Zellen einzupflanzen.

Reagenzgläser mit Bakterienkulturen, Foto: V. Geisel/MPI Marburg
Den THETA-Zyklus anhand gereinigter Enzyme in vitro aufzubauen, war nur der erste Schritt. Foto: V. Geisel/MPI Marburg

Zur Entwicklung ihres synthetischen Kohlenstoffkreislaufs schaute Luo zunächst, wie Kohlenstoffdioxid in der Natur fixiert wird, welche Enzyme dort am effizientesten arbeiten und welche Endprodukte erzeugt werden können. Als schnellste Enzyme identifizierte sie Phosphoenolpyruvat-Carboxylase (Ppc) und Crotonyl-CoA-Carboxylase/Reduktase (Ccr), die unter Sättigungsbedingungen mehr als 35 Mikromol Kohlendioxid pro Minute und Milligramm Protein umsetzen. Damit übertreffen sie das bei der oxygenen Photosynthese in Pflanzen und Bakterien für die CO2-Fixierung üblicherweise verantwortliche Enzym RuBisCO um ein Zehnfaches. Die Hauptenzyme des neuen Stoffwechselwegs waren also gefunden. Als Endprodukt wählte Erbs Arbeitsgruppe Acetyl-CoA aus, das zentrale Zwischenprodukt im Zellstoffwechsel von Kohlenhydraten, Lipiden und Aminosäuren.

Besser als die Natur

Doch damit ging die Denkarbeit, bei der Erbs Chemikerherz aufblühte, erst richtig los: Um atmosphärisches CO2 in komplexe Kohlenstoffverbindungen umzuwandeln, galt es, alle benötigten Reaktionsschritte mit entsprechenden Enzymen zu bewerkstelligen. Über Monate entwickelten die Mikrobiologen ihren ersten Stoffwechsel-Prototyp, den reductive Tricarboxylic acid branch/4-Hydroxybutyryl-CoA/Ethylmalonyl-CoA/Acetyl-CoA (THETA)-Zyklus, dessen drei Teilmodule 17 Enzyme aus neun unterschiedlichen Organismen enthalten und zwei Moleküle CO2 in ein Molekül Acetyl-CoA umwandeln: Im ersten Modul überträgt Ppc als Schlüsselenzym Kohlendioxid auf Pyruvat. Dabei entsteht Succinat, das von einer zweiten Enzymkaskade zu Crotonyl-CoA reduziert wird. Der Kreislauf schließt sich mit dem dritten Modul, bei dem Ccr ein weiteres Kohlendioxid-Molekül auf Crotonyl-CoA überträgt, woraus schlussendlich Acetyl-CoA entsteht und Pyruvat regeneriert wird.

Um zu überprüfen, ob ihr synthetischer Kohlenstoffkreislauf tatsächlich funktioniert, baute die Arbeitsgruppe ihn in vitro mit gereinigten Enzymen und Substraten nach. Dafür schauten sich die Marburger alle Reaktionen im Reagenzglas an und optimierten solange die Verhältnisse aller 34 Komponenten, bis der Zyklus effizient CO2 fixierte. Als besonders hilfreich für diese Optimierung erwies sich ein von Erbs Arbeitsgruppe 2022 veröffentlichter maschineller Lernalgorithmus: „Machine-learning guided Experimental Trials for Improvement of Systems“, kurz METIS (Nat Commun. doi.org/gqgms5). METIS ist ein sequenzieller Arbeitsablauf, der Reaktionsparameter iterativ auf Basis experimenteller Daten zu Enzymreaktionen optimiert. Das ermöglichte es den Marburgern, „viele verschiedene Varianten des Zyklus außerhalb der Zelle zu testen“, erläutert Erb, „und sehr schnell den Lösungsraum zu explorieren“. Mithilfe von METIS passten die Mikrobiologen alle Enzym-, Substrat- und Pufferkonzentrationen an und konnten die Ausbeute an Acetyl-CoA in nur wenigen Durchläufen um einen Faktor über 100 steigern.

Die drei Module des THETA-Zyklus, Illustr.: Abb. 1a in Nat Catal. doi.org/gtbscc
Die drei Module des THETA-Zyklus nutzen 17 Enzyme. Insgesamt verbrauchen sie 1 CO2 , 1 HCO3-, 4 ATP, 3 NADPH, 2 NADH und 1 CoA, um 1 Acetyl-CoA und 1 FADH2 aufzubauen. Die Gibbssche Energie der Gesamtreaktion schätzt Erbs Arbeitsgruppe auf -261 kJ/mol.
Vom Reagenzglas in die Zelle

Der aktuelle THETA-Zyklus 3.9.9 produziert 1,15 Millimol Acetyl-CoA aus 200 Mikromol Pyruvat. „Ich glaube, einen solchen Einsatz von Lernalgorithmen zur Unterstützung von Experimenten werden wir in Zukunft immer häufiger sehen“, sagt Erb, auch wenn künstliche Intelligenz logisches Denken und menschliches Design in seiner Forschung nicht ersetze. Vielmehr helfe sie, Fehler auszubessern und die Enzymkonzentrationen von Reaktionswegen zu optimieren.

Im Gegensatz zu früher designten Stoffwechselwegen entwarf Erbs Arbeitsgruppe den THETA-Zyklus aber nicht nur für einen In-vitro-Machbarkeitsnachweis, sondern mit dem Ziel, ihn in lebende Zellen einzubauen. Als Nächstes exprimierten die Mikrobiologen um Postdoktorandin Luo deshalb jedes der drei Stoffwechselmodule einzeln in speziellen E.-coli-Stämmen, deren Metabolismus auf die heterologe Enzymexpression angewiesen war.

Um zum Beispiel die Effizienz des ersten Teilmoduls zu überprüfen, das aus CO2 und Pyruvat Succinat synthetisiert, verwendeten sie einen Succinat-auxotrophen Stamm. Auf den ersten Blick klingt das nach Standardexperimenten aus der Grundlagenkiste eines Mikrobiologielabors. Doch das „ledigliche“ Exprimieren von Plasmiden in E. coli erwies sich als nicht so einfach. „Zellen sind manchmal störrisch“, kommentiert Erb die Bemühungen, E. coli zum CO2-Fixierer zu machen.

„Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, die Zellen auszutricksen: Wir mussten unsere E.-coli-Stämme dazu bringen, dass sie alle Module stabil laufen ließen und keine Umgehungslösungen fanden.“ Denn E.-coli-Bakterien sind zwar dankbare Experimentiertierchen, unterliegen aber dennoch einem natürlichen Selektionsdruck. Müssen sie zusätzliche Enzyme exprimieren, wachsen sie nicht nur langsamer, sondern weichen auch gern auf andere Stoffwechselwege aus. Also entwickelte das Team eine Vielfalt an Selektionsstämmen, testete Enzyme aus unterschiedlichen Mikroorganismen, entwarf und verwarf Expressionsplasmide, kontrollierte jeden Stoffwechselschritt und verifizierte immer wieder die tatsächliche Umsetzung von Substraten und die Fixierung von CO2.

Warum E. coli letztendlich alle Module erfolgreich umsetzte, ist Erbs Arbeitsgruppe bislang unklar. „In der biologischen Welt sind die Teile nur so perfekt, wie sie sein müssen“, zieht Erb Resümee. „Sie machen Fehler, um evolvieren zu können. Man kann kein perfektes lebendes System bauen, denn es muss Fehler machen, um zu lernen, und das ist ein wichtiges Konstruktionsprinzip“, erklärt er. Sich und sein Team sieht Erb als Zellingenieure, die zwar jedes Element so gut wie möglich konstruieren, ihren Zellen aber gleichzeitig auch den Raum geben, um zu evolvieren und sich damit an der Umsetzung neuer Kreislaufmodule indirekt zu beteiligen. Bisher hat das so gut geklappt, dass drei verschiedene E.-coli-Stämme jeweils ein Modul umsetzen. Jetzt müssen die Marburger Mikrobiologen „nur noch“ alle drei Module in einem einzigen Stamm vereinen. Erb ist sich sicher, dass das nur eine Frage der Zeit ist.

Tobias Erb und seine Postdoktorandin Shanshan Luo, Foto: V. Geisel/MPI Marburg
Neben dem THETA-Zyklus kooperieren Tobias Erb und seine Postdoktorandin Shanshan Luo auch in einem weiteren Projekt erfolgreich: In einer elektrobiochemischen Reaktionskammer erzeugen sie ATP mithilfe von Strom (Joule. doi.org/mj4t). Foto: V. Geisel/MPI Marburg

Doppelter Jackpot?

Was ist das Potenzial eines E.-coli-Stammes, der Kohlendioxid verstoffwechselt und in neue Bausteine umwandelt? „Zum einen wollen wir wissen, wie plastisch moderne Zellen sind, und ob sie eine komplett neue ‚metabolische Software‘ akzeptieren. Das ist eine ungeklärte Frage“, sagt Erb. Zum anderen will die Arbeitsgruppe neben dem für viele Stoffwechselwege zentralen Acetyl-CoA auch Moleküle wie etwa Malonyl-CoA produzieren, also den Ausgangsstoff für Polyketide, Fettsäuren und daraus gewonnene Brennstoffe. Denn natürlich spielt für Erb auch die industrielle Anwendbarkeit eine Rolle. Ein doppelter Jackpot wäre für ihn ein Stoffwechselweg, der atmosphärisches CO2 fixiert und gleichzeitig Ausgangsmoleküle etwa für Antibiotika produziert. Doch der Weg dorthin ist ungewiss.

Bisher ist es Erbs Team mit dem THETA-Zyklus zum ersten Mal gelungen, einen komplexen synthetischen CO2-fixierenden Stoffwechselweg in E. coli einzubringen. Offensichtlich können menschliche Zellingenieure von der Natur entwickelte Stoffwechselwege zur CO2-Fixierung also durchaus verbessern. „Wenn E. coli das lernen kann, können es komplexere Organismen eventuell auch“, ergänzt Erb. Schon jetzt arbeitet sein Team mit Cyanobakterien, die zwar weniger leicht als E. coli zu manipulieren sind, dafür aber von Natur aus schon Kohlendioxid umsetzen.

Mit seinen Bestrebungen, Mikroorganismen zum Klimaschutz einzusetzen, ist Erb unterdessen nicht allein. Im Rahmen der interdisziplinären Initiative „Microbes for Climate (M4C)“ des Marburger Exzellenzclusters beleuchtet ein großes Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Rolle von Mikroorganismen beim Klimawandel und erarbeitet eine mikrobenzentrierte Sichtweise auf die evolutionäre Vergangenheit, die Gegenwart und die mögliche Zukunft des Kohlenstoffkreislaufs. Erbs Arbeitsgruppe trägt mit ihren synthetischen Kreisläufen ihren Teil dazu bei. „Ich weiß nicht, ob unser THETA-Zyklus in E. coli die endgültige Lösung ist“, kommentiert er. „Es kann sein, dass das endgültige Design völlig anders aussieht. Aber ich glaube, wir lernen schrittweise.“